Rezension (erschienen in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte) von

Walter Stäbler: Pietistische Theologie im Verhör. Das System Philipp Matthäus Hahns und seine Beanstandung durch das württembergische Konsistorium (= Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 11),  Stuttgart  1992, 330 Seiten

 

Daß rebellische Theologen, die von der amtskirchlichen Obrigkeit für ihre Lehre ins Verhör genommen werden (vgl. heute im katholischen Bereich z.B. Hans Küng, Leonardo Boff, Eugen Drewermann), in der Öffentlichkeit große Sympathien genießen und ihre Theologie besonders gut verkaufen können, ist typisch für die Gegenwart. Dabei pflegen solche Theologen gerade durch die Beanstandung 'von oben' Aufwertung zu erfahren und - zum Opfer geworden - die von ihnen ausgehende Faszinationskraft noch zu steigern. Einen ähnlichen eigentümlichen Popularitätsbonus. nämlich als besonders 'relevant' und zukunftsweisend zu gelten, hingegen amtskirchlich als Schwärmer an den Rand gestellt und beanstandet worden zu sein, besaßen seit jeher (und besitzen weithin bis heute) mehrere Gestalten aus dem Bereich des württembergischen Pietismus von Oetinger bis hin zu Blumhardt Vater und Sohn. Auch und gerade der hier von Stäbler dargestellte theosophische Pietist Philipp Matthäus Hahn (1739-1790), der geniale Mechaniker und Erfinder von astronomischen Uhren u.ä., gehört in diese Reihe.
Insofern ist der gewählte Titel des Buches sehr treffend und werbewirksam: "Pietistische Theologie im Verhör“. Und die Perspektive, aus der heraus Stäbler seinen beanstandeten Haupthelden in den Blick nimmt, ist zugegebenermaßen reizvoll. denn das Gesamt der Theologie Hahns wird auf dem Hintergrund des Lehrbeanstandungsverfahrens gegen Hahn um 1781 dargestellt: "Auf der gleichsam negativen Folie der Kritik leuchten die Besonderheiten von Hahns Theologie im Kontrast mit den Bekenntnisschriften hell auf“ (11), wobei über weite Strecken der Darstellung gerade die Distanz zu dieser Tradition für Stäbler das hell Leuchtende bei Hahn zu sein scheint.
Das Buch ist das Ergebnis einer langen Vorarbeit. Seit Mitte der 70er Jahre (vgl. 1) beschäftigt sich der Autor dieser 1991 erschienenen Münsteraner - vom Hahn-Kenner und Tagebuch-Herausgeber Martin Brecht betreuten - Dissertation intensiv mit Philipp Matthäus Hahn. "Hahns Denken für heute fruchtbar zu machen" (11), ist Stäblers erklärte Absicht. Er wünscht, seine historische Arbeit möchte "eine Hilfe dazu sein, daß ... Menschen an dem Reichtum von Hahns theologischen Gedanken partizipieren und dadurch angeregt werden, theologische Versuche auch heute neu zu wagen" (2), wobei besonders, "das Ganzheitsdenken Hahns ... wieder Modellcharakter" (11) zu bekommen verdiente und Hahns "christlich-spinozistischer Ansatz - die Welt in Gott ... - den Weg andeuten" möchte, "auf dem es zu einem neuen Natur- und Weltverständnis kommen könnte" (11f.).
Nach einem einleitenden Teil (bei Stäbler §§ 1-6, 3-43), in dem der Gang der Untersuchung begründet und auch die Vorgeschichte des Lehrzuchtverfahrens gegen Hahn skizziert wird, bietet Stäbler (§§ 7 und 8, 44-115) die Textedition der bisher unveröffentlichten Zensurakten gegen Philipp Matthäus Hahn dar. Es handelt sich um 19 Aktenstücke aus den Jahren 1774 und 1781 bis 1784 aus dem Bestand des Landeskirchlichen Archivs in Stuttgart. Der Großteil dieser Dokumente sind Exzerpte aus Hahns Schriften und theologische Stellungnahmen, welche die mit der Untersuchung gegen Hahn befaßten Konsistorialräte Johann Chistoph Schmidlin, Johann Friedrich Le Bret und Johann Friedrich Schmidlin angefertigt hatten; dazu kommen Sitzungsprotokolle und andere amtliche Schreiben zum Verfahren.
In der Tat ermöglichen diese wichtigen Texte einen aufschlußreichen Blick in Hahns theologisches Wirken. Namentlich die sorgsamen Exzerpte Le Brets aus Hahns Schriften (vgl. 46-51. 52-66, 67-71) sowie dessen Stellungnahme zu Hahns Theologie (71-74) zeigen, daß es sich in diesem Verfahren bei Hahns Gegnern in der Kirchenleitung nicht um oberflächliche 'Ketzerjäger ' handelte. die ihn leichtfertig 'dem Abschuß freigaben'. Vielmehr ist aus diesen Akten zu ersehen, daß dort nach bestem Wissen und Gewissen das theologische Wächteramt wahrgenommen werden sollte - unter der offensichtlichen Bemühung, in fairer Weise auf die von Hahn gebotenen theologischen Herausforderungen zu reagieren .
Der 200 Druckseiten umfassende zweite Teil von Stäblers Arbeit (§§ 9-22, 115-315) ist dann eine umfangreiche Interpretation der genannten Akten mit der Abzielung, auf der Basis dieser Verfahrensakten die Eigenart von dessen Denken darzustellen und für die Gegenwart noch einmal zu beurteilen, wie man Hahn zu sehen habe. Gleichsam wird das Verfahren ein zweites Mal aufgerollt und Stäbler lotet - übrigens als durchaus milde gesinnter Richter - aus, wie man diesen Philipp Matthäus Hahn heute zu sehen habe.
Alle wesentlichen Aspekte des Hahnschen theosophischen Systems kommen bei dieser Interpretation angemessen zur Sprache. Stäbler zeigt, daß die bei Hahn beanstandeten Punkte auch die zwiespältigsten und brisantesten sind. Da ist der § 10 (117-133) der Grundfrage gewidmet was es mit "Hahns Lehre vom himmlischen Fleisch" auf sich hat, d.h. mit der von ihm angenommenen Leiblichkeit der androgynen 'Urmenschen' vor Grundlegung der Welt (Ur-Adam als präexistenter Christus). Diese präexistenz-christologische Lehrmeinung, die im Verfahren beanstandet wurde, daß nämlich "Christus schon vor seiner Menschwerdung ein himmlisches Fleisch gehabt habe" (117), macht Stäbler zum Ausgangspunkt die Art des in Oetingerschen Bahnen sich bewegenden theosophischen Gottesverständnisses von Hahn zu charakterisieren. "Gottes ewiger Liebesvorsatz: vor Grundlegung der Welt (vgl. § l0b. 120-123) wird für Hahn (auch hier wieder Oetinger völlig konform) zum zentralen systematischen Dreh- und Angelpunkt, zum theosophischen Leitbegriff, denn nachzuzeichnen, wie dieser vor Grundlegung der Welt gefaßte Liebesvorsatz zum Zug und schließlich für alle Menschen und die ganze Welt zum Ziel kommt, umfaßt alle Artikel der Hahnsehen 'Dogmatik', von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie.
Stäbler geht dann, jeweils basierend auf den Untersuchungsakten unter Hinzuziehung von Schriften Philipp Matthäus Hahns, daran, zu klären, welche Fassung Hahn, von seinen Voraussetzung her, den verschiedenen theologischen Loci in seinem System gibt. So behandelt Stäbler in § 11 Hahns Schöpfungslehre (134-140), in § 12 die Trinitätslehre bzw. die Pneumatologie (141-155), sodann (in den §§ 13 und 14) Fragen der Christologie (zur "Jesuslogie" bei Hahn: 156-173, zum „Mittleramt Christi" : 174-193), woraufhin ein größerer Abschnitt über "Anthropologie und Psychologie bei Philipp Matthaus Hahn" (§ 15, 194-209) und ein Abschnitt über "Hahns Lehre von der Wiedergeburt" (§ 16. 210-228; dabei gehört der Abschnitt über die Entwicklungen der Gestorbenen im 'Zwischcnzustand' zwischen Sterben und Jüngstem Gericht im weiteren Sinn zur Wiedergeburtslehre hinzu, vgl. 218-228) die Grundlagen der Hahnsehen Lehre vom Menschen darstellt, die dann durch den Abschnitt über "Hahns Lehre von den Heiligen" (§ 17, 229-243) abgerundet wird.
Besondere Hervorhebung verdient das wichtige Kapitel über die Eschatologie Philipp Matthäus Hahns, das Stäbler unter der Überschrift "Die Kontroverse um die letzten Dinge" (§ 18, 244-277) bietet. In der Untersuchung hatten Hahns kirchenamtliche Beurteiler seinen Chiliasmus mitsamt seiner Lehre von der Wiederbringung aller Dinge als problematisch beanstandet. Stäbler arbeitet in seinem Abschnitt über die Hahnsche Eschatologie heraus, inwiefern gerade der Chiliasmus und die Orientierung an der schließlichen Apokatastasis Hahns "Lehre vom Königreich Gottes und Christi“ ihr Gepräge verleiht.
Daß im bald zu erwartenden Millennium 'Gottes Königreich' glanzvoll zum Zuge kommt und schließlich am Ende in der Wiederbringurig aller Dinge vollends - triumphal und alles umgreifend - zum herrlichen Ziel, das gehört in diesem eschatologisch ausgerichteten Denken - nicht anders als bei Oetinger - zur entscheidenden Richtung, in der - durch Stufen und Entwicklungen hindurch nach biblisch-heilsgeschichtlichem Plan - die Geschichte etappenweise verläuft. Stäbler führt entsprechend zu eschatologischen Orientierung bei Philipp Matthaus Hahn aus: "Hahns Lehre vom Königreich Gottes nimmt ohne Zweifel eine zentrale Stellung in seiner Theologie ein, Hahn kann die gute Botschaft vom ewigen Liebesvorsatz Gottes in Jesus Christus definieren als gute Botschaft vom Königreich Gottes und Christi… Ist aber für Hahn der Endzweck des Vorsatzes die 'Hauptsache der Schrift'. so wird von daher deutlich. wie die Lehre vom Vorsatz Gottes und die inhaltliche Bestimmung des Königreichs-Begriffes dasselbe meinen.  Bei Hahns Königreichslehre fallt ferner ins Auge, daß er dieses Hauptstück der Eschatologie nur im Zusammenhang mit der 'Verherrlichung aller Dinge'…, also der Apokatastasis panton, sehen kann" (245).
Was den Chiliasmus bei Hahn anbelangt so wird dessen Orientierung an Johann Albrecht Bengels apokalyptischen Berechnungen und auch die Lösung von diesen Zeitenbestimmungen dargestellt (246-255), wobei deutlich wird, daß trotz dieser Aufweichung und Relativierung Bengelseher Voraussetzungen Hahn in der Lehre von den letzten Dingen immer noch Bengel verpflichtet bleibt und daß Hahn auch für die eschatologischen Etappen nach den von Bengel erwarteten beiden Tausendjährigen Reichen (Dis-Chiliasmus) den Verlauf des biblisch-apokalyptischen 'Fahrplanes' im Grundzug sehr ähnlich sieht wie dieser und nach ihm auch Oetinger, wobei die Gemeinsamkeiten mit Bengel und Oetinger von Stäbler so zusammengefaßt werden:
"Hahn teilt mit seinen Lehrern den (Dis)Chiliasmus… Allerdings hebt Hahn die statische Trennung der beiden chiliastischen Reiche auf zugunsten eines fließenden Übergangs, Alle drei Theologen sehen eine in sich stringente Verbindung des/der Königreichs/reiche mit der Apokatastasis panton. Sie teilen auch die Etappenlehre, wonach die chiliastischen Reiche nur die Vorstufe bilden. auf die die Endstufe oder besser, die Vollendung folgt, in der es zur Allversöhnung kommt. Entsprechend stimmen sie auch in ihrem Ewigkeilsbegriff überein“ (259).
Im sich anschließenden Abschnitt über "Hahns Lehre von der Wiederbringung aller Dinge" (§ 18b, 260-264) wird die bisher schon angedeutete zentrale Stellung dieser eschatologischen Lehre weiter herausgearbeitet, wobei Stäbler konstatiert. "daß sich Hahn mit der von ihm vertretenen Wiederbringungslehre einreiht in eine Bewegung, die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts durch das Ehepaar Petersen im Pietismus und Separatismus an Boden gewinnt. die durch Bengel "" Oetinger, Lavater und Michael Hahn bedeutende Anhänger findet" (263).
An einigen Stellen richtet Stäbler. der Ja im Ganzen viel Sympathie für Hahn zeigt kritische Anfragen an diesen und meldet Vorbehalte an, besonders wo es um Hahns triumphalistisches Verständnis des Menschen geht, der nach diesem Konzept im eschatologischen Prozeß in letzter Konsequenz gleichsam stufenweise vergottet wird (vgl. dazu den Abschnitt über die "eschatologische Hoheit des Menschen", 264-266, aber die zuvor angegebenen Abschnitte zu Hahns Anthropologie). Was Hahns damalige Kritiker Le Brett und beide Schmidlins schlicht und einfach als "Schwärmerei" bezeichneten, wird von seinem Beurteiler Stäbler in die folgenden sehr bemerkenswerten Worte gefaßt:
"Glaube ist für Hahn nicht in erster Linie Bejahung der gratis angebotenen Gerechtigkeit Christi, sondern Einsicht in die Heilsökonomie, die zur Erkenntnis, Gnosis, führt, aus der die innere gute Anlage des Menschen entwickelt werden und zur höchsten Gottesnatur aufwachsen kann. So hängt Hahns Entwicklungsdenken und seine Betonung der justitia inhaesiva aufs engste zusammen, Hahns Lehre von den Erstlingen und ihrer eschtatologisch-richterlichen Hoheit muß sich die Frage gefallen lassen, ob sein Blick nicht zu sehr auf das geht,  was der Mensch hervorgebracht, an 'guten Werken' ... geleistet und getan hat. ob er sich nicht zu sehr konzentriert auf die Vervollkommnung des inneren Geistesmenschen. In diesem Zusammenhang sei die Frage erlaubt, ob Hahn letztlich nicht Gefahr läuft, das eschatologische Geheimnis Gottes und sein Wesen als des ganz Anderen lüften zu wollen“ (269).
Man kann u.E. genau in dieser Linie fragen. ob die triumphalistische Wiederbringungs-Gnosis, die Philipp Matthäus Hahn beherrscht. so ungeheuer fazinierend sie sich auch darbietet, die Eschatologie letztlich nicht entleert und das eschatologische Geheimnis auflöst Und man möchte unterstellen, daß damalige theologische Kritiker, die z.B. orientiert am Artikel XVII der Confessio Augustana der Ausbreitung des 'Petersenianismus' in der württembergischen Kirche des 11). Jahrhunderts Einhalt gebieten wollten, genau an einer sehr entscheidenden Stelle theologisch viel sensiblere und weisere Wächter der rechten Lehre von der christlichen Hoffnung waren, als es aus heutiger Optik für viele den Anschein hat (vgl. zur Kritik der württembergisch-pietistischen Wiederbringungs-Gnosis F. Groth, Die ‚Wiederbringung aller Dinge‘ im württembergischen Pietismus, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Bd. 21, Göttingen 1984). Die amtskirchlichen Kritiker, die Hahn bremsten und die 'wunden Punkte' bei ihm offenbar klarsichtig erkannt hatten, müssen jedenfalls - auch in ihrer Orientierung an den lutherischen Bekenntnisschriften - durchaus nicht als Vertreter einer erstarrten dogmatischen Haltung und als zu belächelnde orthodoxe ‚ Knechte des Buchstabens' gesehen werden.
Nach zwei weiteren Abschnitten über die kirchenobrigkeitliche Kritik an Hahns Übersetzung des Neuen Testaments (§ 19, 271-284) und "Hahns Verstoß gegen die Zensurgesetze" (§ 20, 285-289) kommt Stäbler im vorletzten Kapitel zur "Historisch-theologische[n] Würdigung von Hahns System" (§ 21, 290-299) und schließlich zu Ausführungen über "Konsequenzen aus dem Zensurverfahren für Hahns weiteres Wirken" (§ 21, 300- 315).
Nach Stäblers zutreffender Beurteilung muß man das theosophische Bemühen Philipp Matthäus Hahns in einer doppelten Frontstellung seiner Zeit begreifen und würdigen: "Ziel ... war es. in der Linie Oetingers gegen die Aufweichungstendenzen des Wolffianismus, der Neologie und schließlich des Naturalismus anzugehen" (293), wobei an der anderen Front Hahns „Kritik ... der erstarrten Orthodoxie und ... dem lauen Christentum seiner Zeit" (295) galt. Zwischen beiden Fronten sieht Hahn seine Aufgabe wahrer Aufklärung als an der Bibel orientierter christlicher Gnostiker, von dem Stäbler zusammenfassend ausführt: "Hahn als theologischer Gnostiker erkennt im Glauben den Verstand. der in theosophischer Zielrichtung nach 1 Korinther 2, 10 die Tiefen der Gottheit erforschen will, der in den Liebesvorsatz Gottes Einblick hat und seine Heilsökonomie kennt. der in retro-  und prospektiver Weise teilhat an der gewaltigen Entwicklung und Konzeption des Königreiches Gottes, der in das Geheimnis der Allversöhnung eingeweiht ist und der in der Protologie die Entfaltung der eschatologischen Stufen des Menschen, aber auch des ganzen Kosmos abgebildet sieht" (294).
Ohne Zweifel leben wir in einer gnosis-süchtigen Zeit. Daß derartige Gnosis, wie sie Philipp Matthäus Hahn darbietet, und die ihn konsequent zu einer - von Stäbler als positiv gewerteten - christlichen Version des Spinozismus führte (vgl. 296 und - s.o. - 11 f.), dem Zeitgeist gemäß als aktuell erachtet wird, verwundert bei allen New-Age-Tendenzen der Gegenwart mitnichten. Aber ob diese Richtung Medizin oder eher Gift ist für heutigen Glauben, der den Gekreuzigten im Zentrum hat, bleibt gerade nach der Lektüre dieses sehr lesenswerten  Buches zu fragen.

 

Friedhelm Groth, Deilinghofen