Aus: Pietismus und Neuzeit (PuN) 30 (2004), S.256 bis 261

Dieter Ising
: Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 – 423 S; III.

Diesem schönen und wichtigen Buch Dieter Isings über Leben und Werk des württembergischen Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805 - 1880), das nun ja schon viele Monate auf dem Markt ist, darf man gerade auch dann im großen Blumhardt-Jubiläumsjahr 2005, in dem an mehreren Orten in besonderer Weise an Blumhardt erinnert wird, weite Verbreitung wünschen. Den, der es schrieb, kann man ohne Übertreibung den besten Kenner des älteren Blumhardts in der Gegenwart nennen. Dieter Ising legt diese Biographie vor als Frucht seiner weit über 20jährigen Beschäftigung mit dem Thema Johann Christoph Blumhardt. Insbesondere stellt das Buch auch eine Zusammenfassung dar der kürzlich ebenfalls im Vandenhoeck-Verlag erschienenen umfangreichen Briefausgabe (Johann Christoph Blumhardt: Gesammelte Werke, Hg. v. Gerhard Schäfer. Reihe III: Briefe. Hg. u. mit Anmerkungen versehen v. Dieter Ising 1-7. Göttingen 1993 - 2001; im folgenden GW).
Schon in den Anmerkungsbändchen der Briefausgabe (GW III 2, 4 u. 6) hatte Ising die einzelnen biographischen Abschnitte im Leben und Wirken des älteren Blumhardt in mehreren Großabschnitten in eigener Schilderung auf überzeugende Weise zusammengefasst. Inhaltiich und von der Form her ähnlich geht er hier in der Biographie bei seiner Darstellung von Blumhardts Leben vor, die genannten Abschnitte aus der Briefausgabe aufgreifend und erweiternd.
Wie bei der von Ising besorgten Edition der genannten Briefbände zu Johann Christoph Blumhardt merkt man auch dieser Lebensbeschreibung an, dass das Buch „mit Herzblut“ geschrieben ist: mit viel Engagement und dem Bemühen, mit Blumhardt ins Gespräch zu kommen, seine Glaubenserfahrungen für heutigen Glauben ins Gespräch zu bringen und als Anstoß verständlich zu machen und auch von Blumhardt zu lernen. Ising selbst schreibt treffend, dass man sein Buch „am Schreibtisch wie auf dem Sofa lesen kann“ (13), was einschließt, dass wissenschaftlich Interessierte, die sich über eine Gestalt der Kirchen- und Theologiegeschichte gründlich informieren wollen, bei der Lektüre ebenso zu ihrem Recht kommen, wie theologisch nicht so ambitionierte Leserinnen und Leser.
Freilich ist das Buch für „einfache Gemeindeglieder“, die gern übliche geistliche Lebensbilder lesen und Isings Blumhardt-Darstellung als eine Art Erbauungsbuch in sich aufnehmen möchten, streckenweise sicherlich nicht ganz leichte Kost. Wer zum Beispiel in Württemberg oder darüber hinaus „den Zündel“ noch kennt und gelesen hat (Friedrich Zündel: Pfarrer Johann Christoph Blumhardt. Ein Lebensbild. Zürich 1880; viele Auflagen auch noch im 20. Jhd. in der gekürzten „Volksausgabe“), diese ebenso populäre wie eingängige Blumhardt-Darstellung, die ein Bestseller wurde, wird große Unterschiede feststellen, die auch ein bezeichnendes Licht auf Isings Buch werfen. Friedrich Zündel (1827 - 1891) hatte damals seine Lebensbeschreibung als Blumhardt-Schüler und Augenzeuge geschrieben, als einer, der selbst ein Teil der Bewegung war und der im Sinne Blumhardts charismatisch und parteilich begeistern wollte für das Blumhardtsche Anliegen. Als wichtiger Teil der Blumhardt-Bewegung hat dieses Zündelsche Lebensbild für Generationen etwas vom Blumhardtschen Geist wach gehalten.
So wie man in Württemberg und drüber hinaus „den Zündel“ las, wird das bei Isings Buch nicht ohne weiteres möglich sein. Dessen Bllumhardt-Biographie ist im Vergleich zum „Zündel“ in der Darstellungsweise notwendigerweise doch deutlich distanzierter. Isings Darstellung, die den Lesern auch eine Reihe von Problematisierungen nicht vorenthält, bietet sich spröder und nüchterner dar und ist dementsprechend auch schwieriger zu lesen.
Ising selbst führt als Unterschied seiner Arbeit zu Zündel an, dass dieser „mangels Material (...) die Möttlinger Vorgeschichte nur unzureichend würdigen“ (11) konnte, was einschließt, dass Blumhardts Frühzeit, sein gesamter Entwicklungsgang von der Kindheit an bis zur ab 1842 erfolgten Heilung der Gottliebin Dittus und der sich daran anschließenden Möttlinger Erweckung, eben erst in Isings Darstellung voll zur Darstellung kommt - mit vielen Beispielen von Erlebnissen und Erfahrungen in der Frühzeit, die das für Blumhardts Hoffnungsgedanken seit Möttlingen Charakteristische vorbereiten und besser verstehbar machen.
Auch ein zweiter Unterschied zu Zündel wird von Ising angedeutet. In Zündels lebendiger und eindrucksvoller Lebensbeschreibung würden - so schreibt Ising zu Recht – „kritische Anfragen meist nur als Negativfolie zur strahlenden Gestalt Blumhardts“ dargestellt (12) - eine Tendenz, der in Isings Buch von Anfang bis Ende entgegengewirkt wird. Auch von da her stellt sich bei Isings lektüremäßig dann Einiges sehr viel spröder dar als bei Zündel mit seiner glühenden Blumhardt-Verehrung.
Man hat bei der Lektüre durchweg den Eindruck, dass Ising bei seiner Darstellung jeglicher puklikumswirksamen Effekthascherei entsagen will. Sehr stark bemüht er sich um historische und theologische Redlichkeit, nimmt andererseits aber auch seinen „Haupthelden“, dem er sichtlich wohl gewogen ist, an mehreren Stellen bei allzu spitzen kritischen theologischen und anderen Anfragen als Apologet parteilich in Schutz. Als Chronist bietet Ising eine fundierte und theologisch verantwortete Dokumentation des Lebens und Wirkens von Johann Christoph Blumhardt auf der Basis seiner immensen Quellenkenntnis. Das, was Blumhardt geschrieben hat und sonst über ihn in den „Quellen“ steht ist hier ganz und gar die Quelle und Richtschnur der Biographie. Und dabei handelt es sich ja nicht nur um Briefe aus Blumhardts Feder, sondern um das gesamte heute bekannte Quellenmaterial: Druckwerke, Korrespondenz, Tagebucheinträge, Berichte von Gästen und viele andere Dokumente. Das aus den Quellentexten Belegbare, so Ising z. B. einmal an einer Stelle (78), „zeichnet ein differenzierteres Bild (...), das sich gegen Legendenbildung sperrt“.
Genau in diesem Zusammenhang bleibt Isings Darstellung durchweg sehr eng immer am „O-Ton Blumhardt“ orientiert. Es wird in wörtlichen Zitaten sehr viel aus den Briefen und anderen Originaltexten wiedergegeben (zur Begründung vgl. 12: in der Darstellung bedeute das häufige Zitieren „für Autor und Leser (...), sich ihrer Bodenhaftung zu versichern“), ja, man kann die ganze Biographie Isings als ein „Florilegium“ aus den eindrücklichsten, schönsten und charakteristischsten Stellen aus den Blumhardt-Briefen bezeichnen. Die vorher genannte Beschränkung, die sich der Autor in der Darstellung auferlegt hat, und die damit verbundene Sprödigkeit des Stoffs kompensiert Ising sozusagen, indem er da, wo es irgend belegbar und möglich ist, geradezu mit Vergnügen darin schwelgt, Blumhardt aus den Briefen und anderen Texten (auch in dort erzählten netten Anekdoten) so lebendig und anschaulich wie möglich zu Wort kommen zu lassen.
In seiner Blumhardt-Biographie zeichnet Ising in acht Kapiteln die Stationen von Blumhardts Leben nach. Die Kindheit und das Heranwachsen in Stuttgart bis zur Konfirmation und zum Landexamen kommt im ersten Kapitel zur Sprache (15 - 25) - mit der besonderen Betonung dessen, was im Blick auf Pietismus und Erweckung er dort von Hause aus schon mitbekommen hat. Im zweiten Kapitel wird dann das Leben des jugendlichen Johann Christoph Blumhardt in den Jahren 1820 bis 1824 im Seminar Schöntal beschrieben, seine dort beginnende Freundschaft mit Wilhelm Hoffmann und seine enge Beziehung zu dessen Vater Gottlieb Wilhelm Hoffmann, dem Gründer der Gemeinde Korntal (26 - 39). Die besonders interessante Darstellung der Tübinger Studentenzeit von 1824 bis 1828 mit Blumhardts sehr enger Freundschaft mit Eduard Mörike und seiner Bekanntschaft mit dem Kommilitonen David Friedrich Strauß und anderen schließt sich an (40 - 63). Das in diesem Kapitel Beschriebene ist aufschlussreich auch für das Verständnis des Dichters Eduard Mörike (zur Freundschaft Blumhardt - Mörike besonders der Abschnitt 55 - 63); in der bisherigen Literatur über Mörikes Leben weiß man meist nicht viel von Blumhardt. Blumhardts Anfänge im Pfarramt in der Dürrmenzer Vikariatszeit 1824/25 werden beschrieben in einem weiteren kleinen Kapitel (64 - 73). Das wichtige Kapitel über die Zeit als Missionslehrer im Baseler Missionshaus (74 - 81) zeichnet nach, wie sich Blumhardts Vorstellungen über die Wichtigkeit der Mission herausbildeten und wie stark Blumhardt frömmigkeitsmäßig verwurzelt und eingebunden war in Vorstellungen und Zielen damaliger Christen im Umkreis der Deutschen Christentumsgesellschaft, aber auch, wie intensiv er mit bedeutenden Personen aus diesen Kreisen in Kontakt gekommen ist und z.T. lebenslang verbunden blieb. Im anschließenden Kapitel über die Zeit von 1837 bis 1838 als Vikar in Iptingen tritt Blumhardt (111 - 130) in seiner Verkündigung und Seelsorge schon deutlicher mit einem eigenen Profil hervor, was aus dieser Zeit Ising am Beispiel seines Eingehens auf die Iptinger Separatisten aufweist und in der Schilderung über die kleine Erweckung, die es durch Blumhardt schon in Iptingen gegeben hat.
Das umfangreiche siebte Kapitel (131 - 250) stellt dann als einen (ersten) entscheidenden Höhepunkt von Blumhardts Leben und Wirkens seine Möttlinger Zeit von 1838 bis 1852 dar mit den dramatischen und Aufsehen erregenden Ereignissen des „Möttlinger Kampfes“ und der Heilung der Gottliebin Dittus samt der Schilderung der sich daran anschließenden Möttlinger Erweckung, die auch auf Orte in der Nachbarschaft übergriff. Auf acht Seiten stellt Ising in diesem Kapitel unter der Überschrift „Der Theologe der Hoffnung“ ein erstes kleines theologisches Resümee dar (200 - 208), wobei die für Blumhardt typischen eschatologischen Hoffnungen, wie sie sich bis zu dieser Möttlinger Zeit bei ihm ausgebildet haben (Erwartung einer Gnadenzeit bis zur Neuausgießung des Pfingstgeistes, aber auch Abgrenzung zur Eschatologie der Reformatoren, Modifikation der altenwürttembergisch-pietistischen Eschatologien, was die Millenniumserwartung und die Wiederbringungs-Hoffnung angeht) besonders in den Vordergrund gerückt werden.
Aber auch dem starken „Gegenwind“, den Blumhardt in der Möttlinger Zeit erfuhr – von seiten der Presse, der Kirchenleitung und von Kollegen, auch solchen erwecklich-pietistischer Herkunft, wird in Isings Darstellung breiter Raum zugebilligt – etwa in dem Abschnitt „Reaktionen auf die Möttlinger Ereignisse“ (228 - 242).
Die letzten drei Jahrzehnte von Blumhardts Leben werden dann im ebenfalls umfangreichen vorletzten Kapitel von Blumhardts Buch (251 - 339) dokumentiert: Blumhardts Zeit als Hausvater und Seelsorger im Kurhaus Bad Boll (1852 - 1880), ein Kapitel, in dem in vielfältiger Weise auch die Verbindungen geschildert werden, die er in die Weite unterhielt. Hier werden besonders viele Reisen, die er unternahm, und Dienste, die er auswärte tat, dokumentiert. Zahlreiche Kontakte zu einflussreichen Christen und Theologen jener Zeit werden beschrieben, und man erfährt, wie Blumhardts Reich-Gottes-Hoffnungen auch über Württemberg hinaus unter die Leute kamen: Es waren Verbindungen nicht nur nach Basel und in die Schweiz, sondern auch bis ins Elsass, nach Schlesien und Berlin, nach Westfalen und ins Rheinland, oder zu einem Tillmann Siebel in Freudenberg im Siegerland (der dort aufgrund von Blumhardts Gebeten „Fernheilungen“ als göttliche Erhörungen melden konnte) – um nur einige Regionen zu nennen.
Das Schlusskapitel „Zusammenfassung und Ausblick“ (340 - 363) dient dann wieder dem theologischen Resümee. Unter den Überschriften „Tradition und Neuaufbruch. Blumhardts Verhältnis zum Pietismus“ (340), „Theologie der Erwartung des Reiches Gottes“ (347), „Verkündigung in der Erwartung des Reiches Gottes“ (356) geht es Ising in diesem Kapitel – abschließend und die Darstellung abrundend – darum, zu zeigen, in welcher Weise Blumhardt ein aus dem Pietismus gekommener, aber auch über den alten Pietismus hinausgehender „Theologe der Hoffnung“ und ein Reich-Gottes-Zeuge sui generis gewesen ist und wie diese Hoffnung ausgestrahlt hat auf die Verkündigund, auf die Seelsorge – auch über seinen engeren Umkreis hinaus.
Èinige Namen von Theologen, die Blumhardt für die eigene Theologie viel verdanken, kommen in diesem Kapitel – allerdings eher am Rande – vor (Karl Barth und Eduard Thurneysen, 350 u. 357, Leonhard Ragaz, 347), ebenso Theologen, die sich besonders intensiv mit Blumhardt beschäftigt und sich zu ihm geäußert haben (etwa Gerhard Sauter 341, Rudolf Bohren 350, Jürgen Moltmann 352 f., Joachim Scharfenberg, allerdings von Ising kritisiert, 358, Christian Möller 358 und 360 f.). Der Anhang auf den letzten 60 Seiten des Isingschen Buches dient dem Zweck, denen die das Buch eher „am Schreibtisch (…) lesen“ (siehe oben) und damit arbeiten, etwas Hilfreiches an die Hand zu geben. Das Quellen- und Literaturverzeichnis nimmt einen großen Raum ein (362 - 382), und es ist so aufgebaut, dass zu jedem der vorher genannten großen Kapitel die dabei jeweils von Ising verwendete bzw. zitierte Primär- und Sekundärliteratur extra genannt wird. Das ermöglicht dem, der mit dem Buch arbeitet, eine bessere Orientierung, in welchem Bereich man das vorher im laufenden Text Genannte finden kann. Auf eine exakte Angabe der Zitate mit Anmerkungsziffern und entsprechender Seitenzahl hat Ising verzichtet. Auffällig ist, dass hier zwar im Wesentlichen die relevante (und von Ising benutzte) Primär- und Sekundärliteratur zum Thema Blumhardt in diesem Literaturverzeichnis schön zusammengestellt und aufgelistet ist, dass aber durchaus wirkungskräftige populäre und originelle Schriften, die zu Blumhardt im 20. Jahrhundert verfasst wurden, nach dieser Konzeption für den Leser außen vor bleiben: Während der genannte Zündel sehr oft Erwähnung findet und das Ragaz-Buch zum Leben des älteren und jüngeren Blumhardt an der genannten Stelle nur einmal en passant genannt wird, bleiben andere, die nach Zündel und vor Ising ebenfalls über Blumhardts Leben geschrieben haben, völlig unerwähnt (Eugen Jäckh, Werner Jäckh, Walter Nigg und andere). Auch dass es z.B. einen Neudruck von 1991 gibt von Johann Christoph Blumhardts Ausgewählten Schriften in drei Bänden (Ausgabe O. Bruder, Erstausgabe Zürich 1947 – 1949), bleibt den Leser verborgen.
Weiter wird in diesem Anhangsteil – als große Fundgrube für viele Endeckungen! – ein äußerst hilfreiches Register mit vielen Kurzbiographien der im Text vorkommenden Personen beigegeben (387 – 414; mit jeweiliger Erwähnung der Seitenzahlen, auf denen ihr Name im Text zu finden ist) und dann auch ein Register der geographischen Begriffe (415 - 419) und schließlich ein Sachregister (420 - 423).
Allein die Fülle der Namen in den Registern weist darauf hin, dass dieses Buch auch zu vielen anderen Gestalten der Reich-Gottes-Geschichte und der Geistesgeschichte eine Menge finden lässt, mit denen  Vater Blumhardt in persönlichem Kontakt stand. Auch darüber informiert diese inhaltsreiche und profunde Lebensbeschreibung aufs beste. Man sollte sich wünschen, dass diese Darstellung, die die maßgebliche Blumhardt-Biographie bleiben wird, von vielen Menschen intensiv gelesen wird – am Schreibtisch oder auf dem Sofa. Eine Menge von dem, was da ein vor fast 125 Jahren Verstorbener an Glaubensaufbruch und Gemeindeerneuerung sich erhofft und realisiert gesehen hat, ist bis heute brennend aktuell geblieben, und sei es, dass man der heutigen Kirche in ihrem Elend und ihrer Lauheit glaubensstarke Originale wünscht, die bekennen und prägen und – am Reich Gottes orientiert – sich an der Kirche reiben wie ein Vater Blumhardt es tat.

Friedhelm Groth                                                                                                                Hemer-Heppingserbach