Rede am Mahnmal in Deilinghofen (11.15  Uhr) und am Mahnmal in Brockhausen (14.00 Uhr)
am Volkstrauertag, 14. November 1999


Liebe Bürgerinnen und Bürger dieses Ortes! Das zuende gehende Kalenderjahr bringt nun sehr viele nachdenkliche Jahresrückblicke hervor, die in diesem Falle oftmals Rückblicke auf das Jahrzehnt der 90er Jahre sind und noch öfter Rückblicke auf ein ganzes Jahrhundert. Wie sollte es hier am Mahnmal von Deilinghofen (Brockhausen) beim letzten Volkstrauertag vor dem Jahr 2000 anders sein?  


Rückblick – erstens – auf das Jahr 1999. Wem sitzt es da nicht das mit dem Nato-Krieg noch in den Knochen, wo es uns zerriss, und wo manch ein Nachdenklicher, der sonst Krieg und Bomben total verabscheut (mir ging es jedenfalls so), es umgekehrt auch nicht hätte mitansehen können, dass vielleicht noch größere Schuld, noch schlimmere Diktatur und größeres Unrecht geschehen wäre, wenn die Nato (und erstmals auch Deutsche in dieser Verantwortung) nicht eingegriffen hätten.  


Rückblick – zweitens – auf das Jahrzehnt der 90er Jahre, die so euphorisch begannen mit dem Mauerfall vor genau 10 Jahren und der Wiedervereinigung, wo man dachte die Folgen des zweiten Weltkriegs wären vorbei und dachte, mehr Friede käme nach dem Kalten Krieg. Doch weit gefehlt: so viel ganz heißer Krieg, angefangen 1991 mit dem Golfkrieg, wo wir bangten und beteten, dass bloß kein Dritter Weltkrieg ausbräche – bis hin zu all den Bürgerkriegen und da besonders den Kriegen in Ex-Jugoslawien, die diese große Furcht in uns bis anno 99 hochkochen ließen und die so unvorstellbar Fürchterliches da anrichteten, ganz dicht vor unsrer Haustür -  und die Menschen ins Elend stürzten, an dem sie trugen und tragen, was ausschnittweise auch im Deilinghofer Camp hier dicht bei uns erfahrbar ist.


Und von daher – drittens – Rückblick auf ein Jahrhundert, das 20., dem nichts so sehr den Stempel aufdrückte wie diese beiden mörderischen Kriege, in denen mit vorher unvorstellbarer Gewalt und Grausamkeit massenhaft getötet, gebombt, verschleppt und gefangengenommen, vertrieben und ausgerottet wurde, ein Abgrund von Schuld, von dem niemand, der nachdenklich ist und sich ein Gewissen bewahrt hat, sagen kann, das hätte nichts mehr mit heute zu tun.

Rückblick auf ein Jahrhundert: Dabei denke ich an den eindrucksvollen und zugleich erschütternden IKZ-Artikel von gestern mit dem langen Zitat aus der Volkstrauertagsrede in Hemer damals in der Zeit der Weimarer Republik, noch vor der Zeit des braunen Terrors. Ich darf hier einige Sätze zitieren, die vor 75 Jahren in jener Hemeraner Volkstrauertagsrede vom November 1924 aus geistlichen Munde gesagt wurden als Rückblick auf die damalige Kriegs- und Nachkriegszeit im damaligen Jahrzehnt :

„Zehn Jahre und mehr sind es her. Wer kann die herrliche Zeit von damals je vergessen? Größer, stolzer, herrlicher, frommer ist das deutsche Volk nie gewesen. Es wuchs über die weitesten Maße seiner glorreichen Geschichte voll Kampf und Sieg riesenhaft hinaus. Ein Land und ein Volk, ein Glaube, ein Gott, ein betendes, opferndes, kämpfendes, ringendes, siegendes, ja siegendes Volk. Unsere Feldgrauen waren Helden, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Und heute? Unser riesengroßes Volk ist zwergenhaft klein geworden.“ [Zitat Ende]


Doch dieses Pathos von Sieg und Größe, verziert und wie veredelt durch den Missbrauch des Wortes Gottes und pseudoreligöser Weihen, genau das feierte dann in fürchterlicher Weise Wiederauferstehung und wurde dann zum Krebsschaden des Ganzen in der Zeit der braunen Diktatur: gerade aus dem für riesengroß und heilig Erachteten erwuchs all das Teuflische und Abgründige, und ganz viel von dem entlud sich in den unvorstellbaren Grauen des Zweiten Weltkriegs, von dessen Folgen niemand, der sich ein Gewissen bewahrt hat, sagen kann, das sei jetzt abgehakt und erledigt.

Doch wenn wir hier in Respekt der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedenken und auch auf den ersten zurückblicken, auf das gesamte Jahrhundert, dann sind am Ende die wahren „Zeugen des Jahrhunderts“ Menschen, die aus dem Verlauf der deutschen Geschichte heraus uns zu Wachsamkeit und Buße immer wieder aufgefordert haben und immer wieder – auch aus eigener Erfahrung heraus – dem Vergessen und falschen Verdrängen entgegengewirkt haben und da oft wie ein Stachel in der Wunde waren. Ich denke z.B am so Menschen wie Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Heinrich Böll, Gustav Heinemann, Heinrich Albertz, Richard von Weizsäcker und Günter Grass, die, jeder auf seine Weise uns als Resultat dieses Jahrhunderts  die Lehre gezogen haben, dass man alles Menschenmögliche mobilisieren muss im Dienste des Frieden, um nicht noch einmal verführt zu werden. --- Doch nicht nur diese Großen sind „Zeugen des Jahrhunderts“, die uns durch ihre Erfahrungen zur Wachsamkeit und zum nachdenklichen Nichtverdrängen auffordern.

Andere „Zeugen des Jahrhunderts“ leben mitten unter uns – bis heute! Ich denke an die über 85jährige Brockhauserin, die wir letzte Woche besuchten, wo da die Rede davon war, das diese Frau erst heute manchmal ansatzweise davon reden kann, was sie an unendlichem Grauen in russischer Gefangenschaft und da im Lazarett zu erfahren hatte, völlig traumatisierende Erlebnisse, die sie noch bis heute in die Träume verfolgen. Oder an die Deilinghoferin, die vor über 50 Jahren ein grauenvolles Massaker der Serben erlebte, die dann Flüchtling wurde und hier zu uns kam und die mir sagte: „Ich kann hier nicht anders als Flüchtlingen und anderen helfen, auch denen im Camp und Russlanddeutschen und Russen, die bedürftig sind, ich kenne das Elend ja selber.“ Und ich denke an Jugendliche, die das, was  beide Kriege mit sich brachten, bis heute nicht kalt lässt. Da kam vorige Woche der junge Mann zu mir, den ich konfirmiert hatte, und dem man anmerkte, dass für ihn das Nachdenken über die Vergangenheit und die deutsche Geschichte ein Herzensanliegen war, das in seiner Entwicklung auch ganz viel mit seinem Glauben zu tun hatte. Für ihn persönlich hatte sich daraus in seinem Gewissen eine konsequente Schlussfolgerung ergeben: „Ich fasse keine Waffe an, und verweigere, ich kann nicht anders als Friedensdienst ohne Waffen zu tun.“ Alles andere für mich als ein Drückeberger, als ein Schlappi, einer, der sich einen Kopf macht, der für sich meint, aus der Geschichte lernen zu können. Und Gott sei Dank ist solche Nachdenklichkeit und Wachsamkeit auch bei andern heutigen Jugendlichen vorhanden, wo viele da anders sind als ihr Ruf. Wenn wie etwa in den letzten beiden Brandenburgfreizeiten Filme zeigten und diskutierten wie „Schindlers Liste“ und „Der Soldat James Ryan“, dann merkte es in diesen Diskussionen auch der letzte, dass man nie wieder Krieg und Diktatur verherrlichen darf und in der Gegenwart wachsam zu sein hat als Friedenstifter. Ja, gedenken und dann draus Lehren ziehen – genau darum geht es hier!      


So gedenken wir auf diesem Hintergrund hier an diesem Mahnmal der Opfer in diesem Jahrhundert in zwei höllischen Kriegen, der gefallenen Soldaten, der Vertriebenen und Verschleppten, der Vergewaltigten und Gefolterten, der Menschen, die in Lagern umkamen und die im Teufelssystem von braunen und roten Terrorregimes falschem Gehorsam unterworfen wurden und besonders derer, die deren Opfer wurden. Wir gedenken der Opfer, besonders der massenweise vergewaltigten Frauen und der zusammengeschossenen Kinder, die jüngst in den Kriegsgebieten unserer Tage aufs bitterste zu erfahren hatten und haben, was Krieg mit sich bringt. Wir denken an uns selbst, an unsere Friedlosigkeit, wir denken in unserm Verantwortungsbereich an unsere gefährdeten Jugendlichen, die neu mit Teufeleien zu flirten können meinen. Und wir beten, dass Menschen mit Zivilcourage und Selbstkritik weiter für ein Leben kämpfen, das dem Frieden dient.  Der wirkliche Friede freilich kommt nicht aus uns selbst: dass wir in Ordnung kommen mit uns selbst, mit Gott und unserer Umwelt, das kommt von woanders her. Und in dem Sinn darf ich schließen mit der Tageslosung des heutigen Sonntags aus Eph. 2: Jesus Christus ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren. In seinem Geist werde hier Friede gelebt, mutig und (wenn’s sein muss) wachsam gegen den Strom. Ich danke ihnen.