Gottesdienst in der Stephanuskirche Deilinghofen
am Buß- und Bettag, 19.11.1997 – Lukas 13, 1-9Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, wir hören auf den vorgeschriebenen Predigttext des heutigen Buß- und Bettages,
Lukas 13, 1-9:
1 Zu dieser Zeit waren aber einige zugegen, die ihm von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Schlachtopfern vermischt hatte. 2 Und er antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer vor allen Galiläern Sünder waren, weil sie dies erlitten haben? 3 Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen. 4 Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete: meint ihr, daß sie vor allen Menschen, die in Jerusalem wohnen, Schuldner waren? 5 Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen. 6 Er sagte aber dieses Gleichnis: Es hatte jemand einen Feigenbaum, der in seinem Weinberg gepflanzt war; und er kam und suchte Frucht an ihm und fand keine. 7 Er sprach aber zu dem Weingärtner: Siehe, drei Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum und finde keine. Hau ihn ab! Wozu macht er auch das Land unbrauchbar? 8 Er aber antwortet und sagt zu ihm: Herr, laß ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn graben und Dünger legen werde! 9 Und wenn er künftig Frucht bringen wird, gut, wenn aber nicht, so magst du ihn abhauen.
Liebe Gemeinde, daß das eine interessante und geradezu aufregende Jesus-Geschichte ist, die Lukas im 13. Kapitel überliefert, das hört man wohl erst beim zweiten Hinhören oder Lesen. Mir jedenfalls ging das so: Ich las mir den Text durch, er blieb mir eher fremd. Und ich dachte mir: nimmste besser n’andern: denn, was mich nicht vom Hocker reißt, wie soll das andern etwas sagen am Abend des Buß- und Bettages hier in der Kirche? Bis ich ihn dann ein zweites und drittes Mal las, in einigen Kommentaren blätterte und drüber nachdachte. Und dann hat dieser Text mich fasziniert und gepackt und nicht mehr losgelassen.
Worum geht’s da eigentlich? Kurz gesagt: um eine Frage, die viele Christen und noch mehr Nichtchristen überaus häufig stellen. Und das ist die Frage: Wie passen eigentlich Jesus und die Nachrichten zusammen? Wie können Menschen, die abends die Tagesschau sehen, noch an Jesus glauben? Wie können Leute, die die erste Seite des IKZ oder der Rundschau lesen (aber auch die zweite, dritte oder vierte Seite...), wie können solche Leute, wie können wir da noch sagen: Wir glauben an Jesus Christus? Ja, wie kann das Evangelium von Jesus Christus, also die gute Nachricht vom Reich Gottes, das in Jesus beginnt, konkurrieren mit all den schlechten Nachrichten aus der Welt der Politik auf S. 1 von IKZ und WR und all den schlechten Nachrichten auf S. 2-4, von Mord und Totschlag, vom Massaker von Luxor, von Unglücksfällen und persönlichen Katastrophen!? Und das müssen ja nicht schlechte Nachrichten von weit weg sein, z.B. aus Rußland, wo wir etwas von dem Grauen der Mißwirtschaft, der Korruption und der sozialen Ungerechtigkeit auf unserer Reise mit dem Agape-Chor auf eigene Weise zu Gesicht kriegten, schlechte Nachrichten gibt es ja in Hülle und Fülle auch aus Deilinghofen hier dicht bei; schlechte Nachrichten, die es geradezu für unglaublich erklären, daß das Evangelium vom Reich Gottes in Jesus eine "Gute Nachricht" ist.
Liebe Gemeinde, genau von solch einer schlechten Nachricht aus dem Tagesgeschehen handelt unser heutiger Predigttext: Es geht da buchstäblich um Jesus und die Nachrichten.
Was war passiert? Wir lesen da, daß Menschen zu Jesus kommen und ihm erzählen von Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Dazu muß man wissen, daß Galiläa nicht nur die Heimatprovinz Jesu war, sondern damals auch das Zentrum von jüdischen Aufständischen, die gegen die römische Besatzungsmacht kämpften. Zeloten nannte man diese Revoluzzer, d.h. Eiferer. Also eine Art jüdischer Befreiungsbewegung, die – auch mit Waffengewalt – gegen Rom, gegen den Statthalter Pilatus vorging, also den Pilatus, der neben Maria als einziger Personenname in unserm Glaubensbekenntnis Sonntag für Sonntag vorkommt.
Und das, was Lukas da kurz und knapp mit einem Satz erwähnt vom Blut der Galiläer mit einem Satz erwähnt vom Blut der Galiläer, das Pilatus im Tempel mit ihrem Opfer vermischt hatte, das haben wir uns wohl so vorzustellen, daß die Polizei des Pilatus ausgerechnet beim Opfern im Tempel zugeschlagen hatte – gegen die Zeloten aus Galiläa, also daß da Aufständische getötet wurden im Tempelbezirk und daß damit – natürlich – nach jüdischen Vorstellungen das Heiligtum entweiht war durch diese Polizeiaktion. Frage an Jesus: Wie kann Gott das zulassen? Ist das gar Strafe für menschliche Sünde?! Die meisten von Ihnen wissen ja wohl, daß unter jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäern zu Jesus Zeiten die Meinung weitverbreitet war, daß jedes Unglück, jede Krankheit, jede Katastrophe angesehen wurde als eine direkte Folge von menschlicher Sünde und daß sie dann so richtig nachrechneten: der und der ist blind, was muß der Schlimmes getan haben? So auch hier – bei den schlechten Nachrichten vom entweihten Tempel und der Polizeiaktion gegen die Zeloten: Wie kann Gott das zulassen? Oder: "Wo liegt da die menschliche Schuld, Jesus: Gib Antwort, sag was zu den Nachrichten; erklär uns das, wie deine angeblich gute Nachricht bestehen kann bei den schlechten Nachrichten, die uns betroffen machen; sag uns was Schlaues dazu!"
Und Jesus gibt eine recht seltsame Antwort aus der Welt der Nachrichten: er erzählt einfach eine zweite Geschichte, die nicht weniger betroffen macht. Beim Turm von Siloah muß die Statik nicht gestimmt haben. Er ist eingestürzt und hat 18 Leute unter sich begraben. Jesus fragt: "Wer ist da schuld!? Glaubt ihr etwa, diese 18, die da zu Tode kamen, sind schuldiger als alle andern in Jerusalem??!"
Also einfach nur ne Gegenfrage – auf die bohrende Frage nach den Katastrophen in der weiten Welt und in der eigenen Umgebung, auf die bohrende Frage: "Wie kann Gott das zulassen?" Und ganz unmerklich dreht sich das Ganze: Jesus spricht gar nicht mehr über "die andern", über irgendwelche Opfer von Katastrophen, er macht da keine intellektuellen Klimmzüge, wie man so als außenstehender Betrachter Gott und das Böse im Unheilzusammenhang der Welt zusammenreimen könnte - nichts von alledem! Das Böse wird nicht erklärt, die Frage nach dem Warum bleibt völlig offen. Und trotzdem hat sich etwas verändert: nämlich die, die vorher schlaue Dinge hören wollten über Gott und das Böse, und wie Gott das zulassen kann, die bleiben auf einmal nicht mehr bloß die theologisch interessierten Zuschauer, so wie sie gekommen waren, nein die sind plötzlich selber die Angesprochenen: Leute, denkt nicht nach über Schicksal, Schuld und Sühne bei anderen! Laßt eure hochtrabenden Theorien, wie Gott das zulassen kann! Laßt eure Schlaumeierhaltung, wie ihr mit betroffen gekräuselter Stirn entweder Gott was vorwerfen wollt oder den Katastrophenopfern! So werdet ihr nicht mit den Nachrichten fertig; weder mit den Nachrichten vom Siloahturm noch mit den Nachrichten vom Blut im Tempel. Und wohl auch nicht mit den Nachrichten der Tagesschau. Da bleibt ihr nämlich Zuschauer, auch wenn ihr das Grauen und die Betroffenheit eurer sorgenvoll gekräuselten Stirn schon für ein gutes Werk haltet.
Nein, es geht um was anderes, sagt Jesus: um euch selbst geht’s und um eure Buße; um eure eigene Umkehr. Es geht nämlich um euch, die ihr genau wie alle andern tief im Unheilzusammenhang dieser Welt tief drinsteckt: Wer von euch nicht umkehrt, ist verloren – bei all seinen Schlaumeierfragen um Gott und die Welt.
Liebe Gemeinde, ist das nun wirklich eine Antwort, die den Nachrichten standhält, fragen wir. Und so müssen auch Jesu Gesprächspartner damals gefragt haben, und deshalb klärt Jesus das, was er meint, indem er von jenem Feigenbaum erzählt, der vom Weinbergbesitzer in seinen Weinberg gepflanzt wurde, und der nichts brachte. Keine Frucht! Also umhauen, klar! Der Besitzer beklagt sich beim Weingärtner, aber der Weingärtner sagt: "Baum ab, nein danke! Dies eine Jahr soll er noch gedüngt und bewässert werden, daß er Früchte bringen kann, und wenn er diese letzte Gnadenfrist verpaßt, ja, dann gehört er abgehackt!"
Liebe Gemeinde, wir alle wissen da, worum’s geht. Bei uns will der Weingärtner Früchte sehen. Es geht um dich und um mich. Was machen wir im Unheilszusammenhang dieser Welt bei all den schlechten Nachrichten? Vor drei Tagen z.B. am Volkstrauertag – genau als hier die Mahnmals-Rede begann, saßen unsere 19 Reiseteilnehmer mit unseren Russen zusammen in Schelkowo beim Mittagessen – ich saß zwischen Pater Alexander und Stoljarew, einem der ranghöchsten Außenpolitiker Rußlands, und wir wünschten uns an im Rückblick auf die von Deutschen und Russen angerichteten Blutbäder des zweiten Weltkriegs Zeichen der Versöhnung und des Freidenstiftens. Und wir wußten schon, daß man sich die bösen Nachrichten nicht schönreden kann, daß da auch ganz viel Schuld und Korruption auch bei unseren Freunden in Schelkowo wie ein Riesenhaufen von Siff und Schutt immer noch liegt, mitten um die Kirche, im Bilde gesprochen. Und da mittendrin das: daß man sich begegnet, aß da gesungen wird, daß da gebetet wird. Und auch als Symbol: daß da in einer Riesenanstrengung unter widrigen Verhältnissen eine Kirche aus einer Ruine wieder entsteht, ein Ort einer Hoffnung. Nicht daß ich da was verklären will, aber Schelkowo, auch das ist eben des Nachdenkens wert am Buß- und Bettag: eine uns vor die Füße gelegte Aufgabe, wo der Weinberggärtner uns sagt: da ist noch eine Gnadenzeit, wo noch Frucht wachsen kann im Sinn von Jesu versöhnender guter Nachricht – allen schlechten Nachrichten zum Trotz. Auch hier in Deilinghofen ist noch die Gnadenzeit, daß hier Schwarze aus dem Camp in diese Kirche kommen mit der Bibel in der Hand und wir nicht ins gleiche Horn tuten dürfen wie viele in Deilinghofen – bei der Massenschlägerei zwischen Irakern und Iranern drüben im Camp, wo an den Stammtischen gesagt wurde, die hätten gar keinen Polizeischutz da drinnen verdient, die hätten sich alle abmurksen sollen, dann hätten wir Ruhe. Nein, der Herr, der den Feigenbaum nicht abhauen ließ, läßt uns da anders reden und handeln – nach seinem Maßstab – gegen den Strich! Gnadenzeit ist sogar in einer innerlich verelendeten Kirche bis heute noch in Jesu Gemeinde! Da wird in vielen kirchlichen Erklärungen und Presseveröffentlichungen seit zwei Jahren allenthalben bejammert, daß der Buß- und Bettag dem Rotstift zum Opfer fiel, und jeder tut so, als hätte er viel mit Buß- und Bettag zu tun. Dabei ist – aufs Ganze gesehen – Buße tun und Beten wohl das Unpopulärste in der Volkskirche überhaupt, und von allen Seiten werden da Fromme belächelt und mitleidig runtergeputzt, die da eine Aufgabe drin sehen und die z.B. zum Bußetun und zum Beten einladen, auf Evangelisationsveranstaltungen wie vor kurzem bei Prochrist und unserer Evangelisation hier. Aber Jesus, der lädt bis heute dazu ein, Gott sei Dank: daß wir umkehren dürfen und unsere Schuld bei ihm abladen können, daß wir ihn betend suchen und finden können, daß wir als seine Leute gegen den Strich Frucht bringen dürfen, die nach draußen wirkt und Frieden schafft.
Und bei aller Schuld, die auf uns als Kirche und bei uns als Christen liegt, gilt: Er hat uns noch nicht umgehauen! Er hat unsere Lauheit und Trägheit noch nicht mit seinem gerechten Gericht vergolten, wie wir es verdient hätten. Er gibt uns noch eine Chance, so wie der Herzinfarktpatient auf der Intensivstation noch einmal neu anfangen kann und eine Zeit geschenkt bekommt, die er in einem andern Stil nutzen kann.
Das ist die gute Nachricht heute abend: Wer hier zum Abendmahl kommt, der soll in der Bereitschaft kommen, seine Zeit aus Gottes Hand zu nehmen – mit allen Aufgaben. Auch als schlechter Baum darf ich dahinkommen, in der Bereitschaft zur Umkehr, daß er mich begießen und düngen kann, so daß ringsum Frucht entsteht – für diese Zeit und für alle Ewigkeit. Amen.