Dieses ist die Endfassung meiner in "Pietismus und Neuzeit" Band 29 (S. 251-259) erschienenen Rezension; die vorangegangene Rezension der Blumardtschen Briefbände in PuN 1999 findet man hier und die davor aus PuN 1996 findet man hier.

 


Johann Christoph Blumhardt
, Briefe, Band 5: Bad Boller Briefe 1852-1880, Texte, hg. von Dieter Ising, Göttingen: Vandenhoeck 1999 (Gesammelte Werke III/5, hg. von Gerhard Schäfer), 727 Seiten [im Folgenden: III/5].


Johann Christoph Blumhardt
, Briefe, Band 6: Bad Boller Briefe 1852-1880, Anmerkungen, bearbeitet von Dieter Ising, Göttingen: Vandenhoeck 1999 (Gesammelte Werke III/6, hg. von Gerhard Schäfer ), 532 Seiten [im Folgenden III/6; dieser Anmerkungsband ist übrigens „Dr. D. Gerhard Schäfer gewidmet“, III/6, 5].


Johann Christoph Blumhardt
, Briefe, Verzeichnis und Register zu Band 1-6, herausgegeben von Dieter Ising, Göttingen: Vandenhoeck 2001 (Gesammelte Werke III/7, hg. von Gerhard Schäfer), 232 Seiten [im Folgenden III/7; entsprechend beziehen wir uns aus den Gesammelten Werken auf die Vorgängerbände III/1 bis III/4].
 

 

Die ersten beiden Doppelbände der von Dieter Ising bearbeiteten Edition der Briefe Johann Christoph Blumhardts waren in diesem Jahrbuch von uns schon sehr umfangreich besprochen und gewürdigt worden, vgl. die Besprechung zu III/1 und III/2 in: PuN 22 (1996), S.293-305; ferner die zu III/3 und III/4 in PuN 25 (1999), S.263-272. Hier ist für die abschließenden drei Bände der Blumhardt-Briefe an das in diesen Rezensionen breit Ausgeführte anzuknüpfen. Isings Bände III/5 und III/6 der Briefausgabe lassen uns Blumhardts Bad Boller Lebens- und Wirkungsphase in den Blick zu nehmen, die Zeit von 1852 bis zu seinem Tod 1880.

Dieter Ising selbst beschreibt rückblickend auf seine über zwei Jahrzehnte lange intensive Beschäftigung mit dem älteren Blumhardt und auf die Herausgabe von dessen Korrespondenz, dass seine „Arbeit an der Edition ... auf weite Strecken auch Entdeckerfreude war“ (III/5, 9). Wie sich diese Entdeckerfreude auf den Leser und dessen Lektürevergnügen übertrug, haben wir in den beiden genannten Rezensionen auszudrücken versucht.

Freilich bieten die hier zu besprechenden beiden Briefbände nicht ganz so viel Vergnügen bei der Lektüre, wie man es aus den bisherigen Bänden gewohnt war; viel von dem, was in diesen Briefen ab 1852 erörtert wird, ist nicht so spektakulär und spannungsreich wie der Inhalt von III/1 bis III/4. Doch das liegt mitnichten an der Arbeit des Herausgebers und Bearbeiters. Die ist auch hier sehr zu bewundern im Blick auf den aufgebrachten Fleiß, die überzeugende Darstellung und die Bewältigung der zu entziffernden, einzuordnenden und darzustellenden Textmengen.

Dass sich das Ganze in III/5 und III/6 dann streckenweise doch etwas ermüdender liest als in den Vorgängerbänden, ist nicht Ising anzulasten; es liegt im Wirken Johann Christoph Blumhardts begründet, der in seiner ‚reifen’ Spätzeit als Hausvater von Bad Boll im Vergleich zu den Phasen davor in seinem Wirken sich sichtlich etablierter und gesetzter geben konnte und auch durch Herausforderungen von Gegnern und durch kritische Anfragen von Gegnern (und auch von theologischen Freunden) insgesamt doch nicht mehr so stark angefochten war. Dazu gehört, dass die weitaus meisten Briefe, die in III/5 dargeboten werden, seelsorgerliche Briefe privateren Inhalts sind, gerichtet zumeist an Menschen, die nicht so bekannt sind. Diese privaten Seelsorgebriefe bilden zwar viel davon ab, wie der Vater Blumhardt von seinem Frömmigkeitstyp her andere prägte, was er tat und wollte, aber sie werfen auf ihn nicht so ein persönlich und theologisch bezeichnendes Licht wie die ziemlich intimen frühen Briefe und Texte (in III/1), die ihn in seiner ersten Entwicklung zeigten und dann die sehr ausdruckstarken Briefe und Texte aus der Zeit in der Gemeinde Möttlingen (in III/3) im Umfeld seiner sich herausbildenden Reich-Gottes-Hoffnung, die durch die Möttlinger Ereignisse ihr eigenständiges Profil gewann und von Blumhardt in vieler Hinsicht zu behaupten und zu verteidigen gewesen war.

Die Gesamtzahl der Briefe und Texte, die Ising für die Briefausgabe der Werke Blumhardts zur Verfügung standen und von denen die weitaus meisten von Ising auch wörtlich ediert wurden, beläuft sich auf 3895 (statt wie ursprünglich vorgesehen 2800; vgl. dazu auch III/5, 8), davon werden im hier vorzustellenden umfangreichsten Doppelband von Isings Werk, in  III/5 und III/6, auf über 1200 Druckseiten insgesamt die Briefe bzw. Texte Nr. 2146 bis Nr.3895 dargeboten.

An vielen Stellen seiner Bad Boller Briefe kommt Blumhardt auf die ungeheure Last der ihm aufgebürdeten Briefseelsorge zu sprechen.  Am 11.12.1857 z.B. schreibt er an den Freund Christian Gottlob Barth in Calw: „Jezt geht die Briefnoth an. Ein großer Schreibtisch und noch ein anderer liegen voller unbeantworteter Briefe. Täglich kommen 6-12 Briefe (unter 6 niemals), und da sitz' ich, mir selbst ein Wunder, dass ich's nur aushalte im Gemüth, so vielen und so vielerlei Ansprüchen, oft von höchsten Personen, nicht entsprechen zu können, und stets ungeheuren Rest zu machen. Ich schreibe fort bis 11½ Uhr Nachts und habe nie Schlaf, weil ich immer aufgeregt bin von so seltsamen, auch tief erschütternden Dingen, deren ich dutzendweise in einem Abend berücksichtigen muß. Was nun anfangen, wenn ich nicht mindestens mit den Briefen nur halbwegs aufs Reine komme?“ (III/5, 146). Allein vom 1. bis 24.11.1858 hatte Blumhardt nach seiner Angabe „schon über 150 Briefe“ (III/5, 184) zu schreiben.

Wie heiß in Bad Boll darüber hinaus die Drähte der Kommunikation liefen im Blick auf die Nutzung der damaligen ‚Neuen Medien’, zeigt Isings beiläufige Bemerkung, dass nachdem Bad Boll Telegrafenstation wurde, von dort aus jährlich allein etwa 1500 Telegramme aus- und eingingen (III/6, 25).

Seit eineinhalb Jahrhunderten ist es so, dass wer an Bad Boll denkt, sehr oft Johann Christoph Blumhardt und sein Werk denkt und umgekehrt. Dass in der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 30. Mai bis 2. Juni 2002 als ‚Jubiläumsveranstaltung’ aus Anlass von Blumhardts Umsiedeln nach Bad Boll vor genau 150 Jahren ein Symposium unter dem Thema ‚Blumhardt in Bad Boll’ stattfand, zeigt auch, wie untrennbar Bad Boll und Blumhardt zusammengehörten und -gehören. Der hier vorzustellende Doppelband der Bad Boller Briefe Blumhardts dokumentiert diese enge Verknüpfung von Person und Ort wie keine andere Publikation zuvor. Das Kurhaus Bad Boll tritt da in den Blick als Stätte des Wirkens, des Segens und des Zweifelns für diesen Johann Christoph Blumhardt, der in Bad Boll alles in einem fand: Refugium, Ruheort, Ort der Sammlung, der Hoffnung und der Heilung und darüber hinaus Mittelpunkt für ganz viele Kreise, die von diesem Ort aus geschlagen werden konnten.

Über Bad Boll und sein Wirken dort konnte Blumhardt einmal in dieser Richtung schreiben: „Ich hatte fast immer über 100 Gäste aus allen Gegenden. So bin ich Reiseprediger, ohne vom Fleck zu kommen“ (III/5, 47), und in ähnlicher Richtung: „Hier treibe ich eine Weltmission, denn von überall her kommen die Leute. Da darf ich nicht so leicht vom Platz“ (III/5, 96). Ganz viel vom Bad Boller Lokalkolorit und von dem, was für Blumhardts Wirken in Bad Boll charakteristisch war für Blumhardts prägenden Stil dort und für die Art des Zusammenlebens der vielen Gäste unterschiedlicher Herkunft, kommt in den Texten des Bandes III/5 (zusammen mit den Erläuterungen in III/6) schön zum Ausdruck; das Wichtigste vom Leben im Kurhaus Bad Boll hat Dieter Ising in seiner Einleitung des Bandes III/6 zusammengefasst (besonders III/6, 13-25). Sehr interessant und aufschlussreich sind diesbezüglich auch die in den Kommentarband mitaufgenommenen Fremdberichte, in denen sich Gäste über ihre Erfahrungen im Kurhaus Bad Boll auslassen. Aber auch die Art und Weise, wie Blumhardtsches Gedankengut von Bad Boll aus in die Welt kam durch Reisen, die Blumhardt unternahm zu Kirchentagen, Missionsfesten und ähnlichen Ereignissen, besonders in Zentren der Erweckungsbewegung, wird aus den Briefen der Bände III/5 und III/6 in großer Ausgiebigkeit erkennbar.

Angesichts der Fülle der Textmengen kann in dieser Besprechung nur einiges Wenige aus den Bad Boller Briefen exemplarisch dargestellt werden. Wir beschränken uns in dieser Auswahl auf einige Aspekte, die auf Blumhardt in seiner Zeit und auf die Erweckungsbewegung seines Jahrhunderts ein besonders bezeichnendes Licht werfen und wählen da zunächst drei Nicht-Württemberger aus, die in den Bad Boller Briefen des öfteren genannt werden und seine Korrespondenzpartner waren.

Wir wählen (a) den besonders interessanten Briefwechsel Blumhardts aus dem Band III/5 mit dem Siegerländer Laien und Führer der Freudenberger Erweckungsbewegung Tillmann Siebel, dann (b) seine Briefe an Friedrich von Bodelschwingh und (c) Blumhardts Brief-Äußerungen zu Johann Hinrich Wichern, dem Gründer des ‚Rauhen Hauses’ in Hamburg und späteren Präsidenten des Zentralausschusses für Innere Mission. In einem weiteren Abschnitt (d) kommen wir dann auf einige bekanntere Zeitgenossen aus der Blumhardt-Zeit von auch pietistisch-erwecklicher Couleur zu sprechen, denen, wie Briefäußerungen aus den Bad Boller Briefen zeigen, Blumhardt mit einiger Skepsis entgegensteht, wobei dann auch die Art des Äußerns dieser Kritik und Skepsis genau die Art von Johann Christoph Blumhardt in Bad Boll widerspiegelt.

(a) Tillmann Siebel

Die hier veröffentlichten recht aufschlussreichen und aussagekräftigen weiteren Briefe an Tillmann Siebel (18041875; sämtliche Briefe sind zusammengestellt in III/7, 179) wird man - wie sich das schon zum Band III/3 auch zeigte, PuN 25 (1999), S.271f. - bei der Erforschung der Siegerländer Erweckungsbewegung fortan im Blick haben müssen. Blumhardt fand aufgrund seiner durch Fürbitte bewirkten angeblichen ‚Fernheilungen’ in Freudenberg viel Zuspruch, und der, der immer wieder brieflich um diese Gnadenzeichen gebeten hatte, war Tillmann Siebel. Dabei bemerkenswert ist, dass auch durch zeitweilige theologische Spannungen und persönliche Meinungsverschiedenheiten hindurch (vgl. dazu III/5, 23f. und 28f.) Johann Christoph Blumhardt einer der wesentlichen geistlichen Mentoren Siebels blieb. Auch im Blick auf die Spaltungen in Freudenberg (vgl. III/5, 72 u.ö.), bei denen die von Blumhardt sog. „Secte der Baptisten“ (III/5, 58; etwas milder zu den Baptisten III/5, 111; zu Blumhardts Stellung zu den Baptisten und den „Sekten“ auch Isings Kommentierung in III/6, 89f., zur Herausforderung durch „Anabaptisten und Independentisten“ in Blumhardts Umfeld auch Ising in: III/6, 134)  eine Rolle spielte, war Blumhardt für Siebel und den im Siegerland zu steuernden Kurs theologischer und seelsorgerlicher Berater.

(b) Friedrich von Bodelschwingh

Eine andere ungleich wichtigere   Gestalt der westfälischen Kirchengeschichte ist hier zu nennen, ein Mann, der nicht anders als Siebel zu Vater Blumhardt hoch sah. Aus den Briefbänden III/5 und III/6 erfährt man über Friedrich von Bodelschwingh (18311910), dass der spätere ‚Vater Bodelschwingh’ Blumhardt zum ersten Mal 1856 oder 1857 in Bad Boll aufgesucht hatte, und dass der spätere Betheler Anstaltsleiter seinerseits in Blumhardt (aber auch in Wilhelm Löhe, zu ihm s.u.) seinen eigenen geistlichen Lehrer gesehen habe (vgl. Isings schönen Überblick über das Verhältnis Vater Blumhardt zu Vater Bodelschwingh in: III/6, 227-229). Zwar kommt von Bodelschwingh in den Bad Boller Briefen nur zweimal vor in Briefen, die Blumhardt 1862 und 1868 schrieb (III/5, 267 und III/5, 489f.), doch zeigen beide Briefe, dass zwischen Bodelschwingh und Blumhardt intensiv diakonisch zusammengearbeitet wurde. Dass es übrigens später zeitweise zwischen Bethel und Bad Boll große Dissonanzen gab, als der gleiche Vater Bodelschwingh Christoph Blumhardt den Jüngeren als Irrlehrer bezeichnet hatte wegen seiner angeblich überirdischen Eingebungen und ihn brieflich als seelisch krank hingestellt hatte, fügen wir ergänzend an dieser Stelle an (vgl. dazu unsere Arbeit: ‚...bebel- und auch bibelfest’, Eschatologischer  Universalismus und Engagement für den Sozialismus in der Reich-Gottes-Verkündigung des jüngeren Blumhardt, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart 1999, 13).    

(c) Johann Hinrich Wichern

Von Vater Bodelschwingh ist es nicht weit zu Johann Hinrich Wichern (18081881). Bei der Lektüre des Briefwechsels zwischen Blumhardts und Wichern (vgl. die in III/7, 198 aufgelistete Korrespondenz zwischen beiden; schon in III/3 war der Briefwechsel zwischen beiden begonnen worden) fällt das Gemeinsame zwischen beiden ins Auge: dass beide ja als große Gottesmänner des 19. Jahrhunderts gelten, die je auf ihre Weise den Horizont ihres Jahrhunderts transzendiert haben und dass beide seelsorgerlich-karitativ gewirkt und große Werke der rettenden Liebe gegründet haben. Für viele heutige Leser mag es da bei der Lektüre von Blumhardts Briefen an Wichern in III/5 befremden, wie hart und rückständig klingend die beiden in ethischen Fragen hier geurteilt haben über die sexuelle Abweichung der Homosexualität. Denn genau darüber kommen die beiden 1853 wieder in brieflichen Kontakt, dass ein homosexueller Christ vom ‚Rauhen Haus’, in Hamburg, wohl ein Diakon, wie Ising meint (III/5, 98) nach Bad Boll kommt und beide durch diesen Besuch ‚Nestbeschmutzung’ ihres Werkes in der Öffentlichkeit befürchten, wobei (wie aus Blumhardts Briefen an Wichern hervorgeht) es beiden gleich klar zu sein scheint, dass es sich bei dieser sexuellen Ausrichtung um nichts anderes als eine „satanische Gebundenheit“ (III/5, 65) und schwere Sünde handelt (vgl. III/5, 52-55, bes. 53: „schwere Fessel dieser Sünde“).

Immerhin konnte dann Blumhardt Anfang 1854 dem prominenten Hamburger Gottesmann mitteilen, dass er den armen Sünder zumindest teilweise gebessert habe und ihm die Möglichkeit geboten habe, nach Einsicht seiner Verfehlung auszuwandern nach Amerika und dort eine Ausbildung bzw. Anstellung als Geistlicher anzustreben (III/5, 66). Später hat Wichern Blumhardt auch für diese Ausreise erforderliches Geld von Hamburg aus nach Bad Boll geschickt (III/5, 68f.).

In III/5 und III/6 kommt noch an zwei Stellen die Rede auf Kontakte zwischen Blumhardt und Wichern: Zum einen waren beide - wie Ising in seinem Kommentarband in III/6, 135f., etwas ausführlicher darlegt - Redner in Berlin auf dem Stuttgarter Kirchentag, und zwar am 24. September 1857 beim Kongress für Innere Mission, zum anderen trafen beide dann im Umfeld des Kirchentages von Altenberg im September 1864. Seiner Frau Doris schreibt Blumhardt von diesem Treffen: „Wichern hat mich auch schon in der Stadt gesehen und frisch geküßt“ (III/5, 388).

(d) Kritisch beurteilte Zeitgenossen Blumhardts

Gewiss nicht alle der als wichtig geltenden Theologen im Umkreis der Erweckungsbewegung sowie der Inneren und Äußeren Mission hat Blumhardt „frisch geküßt“ wie bei Wichern! Besonders aussagekräftig sind diesbezüglich (wie in den Vorgängerbänden) im vorliegenden Doppelband immer diejenigen Stellen, an denen Blumhardt Vorbehalte vorbringt gegenüber einem der Bekannten im Reich Gottes. Jedes Mal geht in seinem Kommentarband Ising auf findige Weise und recht ausführlich der Fragestellung auf den Grund, z.B. im Blick auf Blumhardts Reserviertheit gegenüber den bedeutenden Männern der Erweckungsbewegung Ludwig Harms, Wilhelm Löhe, gegenüber Johann Tobias Beck und den ‚Beckianern’ sowie gegenüber Samuel Hebich und den ‚Hebichianern’.

Den Gründer der Hermannsburger Mission Ludwig Harms (1808-1865; vgl. die in III/7, 113 genannten Stellen), findet Blumhardt, als er ihn in Hamburg kennen lernt, „zu plump und selbstisch, zu sehr auf Aeußerliches“ ausgerichtet (III/5, 49), und er beklagt auch, dass ihm Predigten von Harms trotz dessen „Beredtsamkeit“ nicht gefallen haben (III/5, 49f.).

Häufiger kommt Blumhardt auf Wilhelm Löhe (18081872), den führenden Mann der lutherischen Erweckungsbewegung in Bayern, zu sprechen (vgl. die in III/7, 143 zusammengefassten Stellen), wobei Löhes Verdienste zwar sehr anerkannt und gewürdigt werden, aber sein Hang zu geistlicher Enge nicht Blumhardts Beifall findet. Wilhelm Löhes (aus Sicht von Blumhardt) übertriebenes lutherisches Bestehen auf Äußerlichkeiten wird kritisch angemerkt, z.B. in III/5, 358: es seien z.B. „der Crucifixe und Altäre ... zu viele“ in Neuendettelsau (vgl. auch III/6, 209). Vor allem aber kann Johann Christoph Blumhardt Löhes streng lutherisches und exklusives Abendmahlsverständnis nicht akzeptieren; er äußert Kritik daran, „daß Löhe erwartet, daß, wer bei ihm zum Abendmahl geht, es anderswo nicht mehr nehmen solle“ (III/5, 270). Das sei eine „Einbannung der Seelen“ (III/6, 208). „Löhe hochachten und in seiner schwachen Seite erkennen“ (III/6, 208) war da Vater Blumhardts Position in Blick auf den Gründer des Werks in Neuendettelsau (wo ihn Blumhardt auch besucht hatte: III/6, 209, so wie umgekehrt Löhe Blumhardt in Bad Boll besucht hatte: III/6, 208).

Ein anderer fast Gleichaltriger mit Blumhardt hat bis heute ebenfalls einen bedeutenden Namen behalten als einer der ‚Großen im Reich Gottes’ im 19. Jahrhundert, Johann Tobias Beck (18041878), und bekanntlich hatte ein Karl Barth in seiner Sicht jenes Jahrhunderts beiden, Beck und Blumhardt, überaus große Hochachtung gezollt. Wie in den Briefbänden zuvor (vgl. die Sammlung aller Briefstellen und Erwähnungen zu Beck in III/7, 69) zeigt sich aber auch in III/5 und III/6, dass Blumhardt und Beck als Zeitgenossen, die sich in der gemeinsamen Tübinger Studienzeit und dann in ihrer Baseler Zeit oft über den Weg gelaufen waren, durchaus nicht auf einer Linie lagen. „Der Beck sagt immer I, I, I [ich, ich, ich]“, lautet Blumhardts Kritik, wie sie der junge Martin Kähler aus Bad Boll erfuhr und Ising uns zugänglich machte (III/6, 117), und dass Blumhardt Anhänger von Johann Tobias Beck einmal brieflich paradox in der Weise charakterisiert, sie hätten „großentheils“ den Hang, „gläubige Theologen ohne Gottesfurcht“ und bloß „orthodox und dogmatisch gläubig“ zu sein (III/5, 99; gegen die „Beckianer" auch III/5, 505), liegt auf dieser Linie der Kritik. Umgekehrt hatte auch Beck schlecht von Blumhardt geredet und vor ihm gewarnt (vgl. etwa Isings interessante Fundstelle: III/6, 203). Als Johann Tobias Beck dann Tübinger Lehrer der Söhne Blumhardts wurde, bot sich das Verhältnis BlumhardtBeck dann etwas versöhnlicher dar (vgl. etwa III/5, 394 und 436).   

In ähnlicher Richtung liegt auch Blumhardts Kritik an einem andern bis heute Bekannten, an Samuel Hebich (18031868), der in Basel als Missionsschüler auch bei Blumhardt gelernt hatte. Zu Hebich bemerkt Blumhardt später (1861) in einem Brief an Sohn Christoph: „sein Freund bin ich nicht, nach Allem, was ich höre. Aber viele wollen's ja heutzutage so“ (III/5, 230), und 1863 bemerkt er in einem andern Brief, Hebich verkündige und verhalte sich in einer Weise, die „der wahren Erweckung hinderlich ist“; dabei sei „Hebichs Wesen ... gut gemeint und darum mit Schonung zu beurteilen“ (III/5, 328). Solche kritischen Äußerungen finden sich in den Bänden III/5 und III/6 mehrere (vgl. die Stellen, an denen Hebich vorkommt: III/7, 115).

Wohlgemerkt erst nach Hebichs Rückkehr von der Missionsarbeit in Indien 1859, als dieser dann evangelistische Arbeit in Württemberg und in der Schweiz versah und dabei recht unkonventionelle Methoden in der Verkündigung versuchte, hatte Hebichs Art der Verkündigung derartige Missfallensäußerungen bei Blumhardt und bei vielen anderen Zeitgenossen (vgl. Isings Hinweise in III/6, 199f.) hervorgerufen. Übrigens erinnert viel bei Blumhardts Hebich-Kritik an seine Kritik an dem umtriebigen Wirken des Amerikaners Pearsall Smith (18271898) im Sinne der sog. Heiligungsbewegung (vgl. Isings Zusammenfassung der theologischen Kritikpunkte Blumhardts in: III/6, 507-509; vgl. auch III/7, 180). 

Nicht nur den ehemalige Indienmissionar Hebich, sondern auch seine Verehrer und Be-wunderer hat Blumhardt im Blick, wenn er 1863 „von Hebich und den Hebichianern“ schreibt, es sei „in seiner Ungeschliffenheit mehr als Einfalt und in der Anhänglichkeit seiner Anhänger auch etwas von dem separatistischen Gift, dem Unheil unserer Zeit“ (III/6, 344).

Im Zusammenhang mit dieser Hebich-Kritik Blumhardts ist es bezeichnend, dass er selbst in seiner Verkündigung und Art von einem insgesamt wohlwollenden Kritiker und Hausgast, Heinrich Bachofner, so charakterisiert wurde: „Die heutige Morgenandacht war das Originellste, was ich bisher gehört. Brieflich kann man nicht referieren, mündlich müsste es ein Schwabe tun. Das Wesen Blumhardts besteht in einer Mischung von württembergischer Wissenschaftlichkeit, herrenhutischer Heilandseligkeit und schwäbischer Zuchtlosigkeit à la Hebich“ (III/5, 692; vgl. Ising in: III/6, 16). Dabei mag auch Bachofner - so wie Blumhardt die Beckianer und die Hebichianer - die ‚Blumhardtianer’ nicht: das Schrecklichste sei in Bad Boll „die Wahrnehmung wie Blumhardt von Einzelnen angebetet wird. Diese Huldigungen, die dem alten dicken Mann dargebracht werden, erinnern mich an Götzendienst.“ (III/6, 692).

Nicht nur auf all die genannten, z.T. bedeutenden Gestalten der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 19. Jahrhunderts von Wichern und Bodelschwingh bis Hebich (und zahlreiche andere, die hier nicht genannt wurden) sagen die Bände III/5 und III/6 sehr viel aus und bieten eine Fundgrube in Blick auf biographische Details und Interna. Besonders fällt auch viel erhellendes Licht durch die in diesen Bänden veröffentlichten Briefe auf die Erforschung des Lebens und Wirkens seines nicht minder bedeutenden Sohnes Christoph Blumhardt (18421919), der ja nach 1880 des Vaters Nachfolger in Bad Boll wurde, der dort in Kontinuität zum Werk des Vaters seinen eigenen Stil dann zu finden hatte und sich gegenüber den oben genannten Bad Boller Blumhardt-Verehrern auch auf seine eigene Weise ‚freizuschwimmen’ hatte.

Man verfolgt in zahlreichen Briefen zwischen Blumhardt Vater und Sohn (vgl. Isings Zusammenstellung in: III/7, 72-74) auch die Entwicklung des Sohnes Christoph Blumhardt von dessen Kindheit an weit bis ins vierte Lebensjahrzehnt; die Briefbände III/5 und III/6 sind auch diesbezüglich eine sehr aufschlussreiche Fundgrube. Sie zeigen, wie Johann Christoph Blumhardt auf Christophs Werdegang in dessen Gymnasiumszeit in Stuttgart (ab 1857) und in dessen Studienzeit in Tübingen (ab 1862) mit Nachdruck Einfluss genommen hat und ihn (wie auch seinen anderen Sohn Theophil) auch in der geistlichen und theologischen Entwicklung geleitet hat, wobei auch viele praktische Dinge vom besorgten Vater immer wieder brieflich angesprochen werden, von der Frage angefangen, nach welcher Methode man diszipliniert zu lernen habe (vgl. z.B. III/5, 171-173 u.ö.) oder wie viel man ohne Schaden ins Theater gehen kann (III/5, 160 und III/6, 165f.) oder ob man als Bad Boller in die Studentenverbindung dürfe (vgl. z.B. in einem Brief Blumhardts von 1863 an die Söhne Christoph und Theophil, in dem Blumhardt den Söhnen die Richtung angibt, „daß es absolut gegen den ganzen Character von Boll ist, daß ihr Abzeichen, bestehend in einem Bande und in weißer Mütze, traget“, III/5, 309, vgl. auch 312) bis hin zu der Frage, welche Frau für Christoph nach Bad Boll passt (vgl. den Brief, in dem der Vater Blumhardt bei dem späteren Schwiegervater seines Sohnes für diesen um die Hand von dessen Tochter Emilie Bräuninger anhält: III/5, 520).

Von den fast 4000 Briefen und Dokumenten von, an und über Blumhardt, die Dieter Ising als dessen Bad Boller Briefe in III/5 herausgab, endet der letzte zu erwähnende Blumhardt-Brief - am 7.1.1880, also etwa sechs Wochen vor Blumhardts Tod, geschrieben mit einem für Blumhardt nur zu typischen ‚eschatologischen Seufzer’ im Sinne dessen, was Spener als Vater des Pietismus mit dem Begriff ‚Hoffnung besserer Zeiten’ umschrieben hatte; einen Satz seines Briefadressaten Albert Friedrich von Hauber zitierend, stimmt der greise Johann Christoph Blumhardt zu: „Und wie golden deine Worte: ‚Nicht wahr, wenn einmal Alles, Alles aufthaut! Und überall Frühling!’ Das hat dir ein Engel eingegeben“ (III/5, 725).

Der Ertrag von Dieter Isings Mammutaufgabe, der in der Blumhardt-Briefausgabe III/1 bis III/6 vorliegt, macht sicherlich (und hoffentlich!) vielen der Leser Lust, vom gleichen Autor auch seine bald darauf herausgekommene große Blumhardt-Biographie zu lesen: Dieter Ising: Johann Christoph Blumhardt, Leben und Werk. Göttingen 2002, 423 S.

Seit dem Jahr 2001 liegt zu den Bänden III/1 bis III/6 endlich der lang erwartete Registerband III/7 vor (dort: Quellen und Literatur: III/7, 12-46,  Bibelstellenregister  49-62, Personenregister 63-204, bei Briefpartnern je mit einer Kurzbiographie, und einem Register der erwähnten Orte und Länder 206-232). Mit diesem Registerband hat man auch den passenden Schlüssel, um das Ganze je nach Suchrichtung mühelos erschließen zu können. Auch der Registerband wurde von Ising mit der ihm eigenen äußerst peniblen Sorgfalt ediert. Der Rezensent konnte unter den zahlreichen Angaben nur einen einzigen Fehler entdecken: in der Kurzvita zu Bengel   III/7, 69   ist ab Zeile 3 versehentlich mehrmals das Jahrhundert vertauscht: 1813 statt 1713 usw.). Viel Schönes über ausgerechnet diesen Johann Albrecht Bengel kann man demnächst von Dieter Ising erwarten, denn der arbeitet jetzt an der kommentierten Edition der Korrespondenz dieses Vaters des Württembergischen Pietismus.

  

Dr. Friedhelm Groth, Hemer-Heppingserbach

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