Zwei Rezensionen FGs aus: Pietismus und Neuzeit, Bd. 18 (1992), S.225-229 und S.230-232 (über Dieter Isings Blumhardt-Brevier)

 

Blumhardt, Johann Christoph: Ausgewählte Schriften in drei Bänden. Band 1: Schriftauslegung, XXIII und 342 S. Band 2: Verkündigung, XVI und 338 S. Band 3: Seelsorge. Glaubensfragen - Briefe - Gebete - Lieder, XIII und 303 S. (dazu: Lied­ und Registerteil unpaginiert 33 S.). Ausge­wählt von Otto Bruder, neu herausgegeben von Wolfgang J. Bittner, Gießen, Brunnen Verlag / Metzingen, E. Franz Verlag / Zürich, Gotthelf Verlag,1991.

 

Eineinhalb Jahrhunderte ist es her, seit sich dem württembergischen Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805 bis 1880) in jenem berühmten „Möttlin­ger Kampf“, der Krankenheilung der Gottliebin Dittus, unter der Losung „Jesus ist Sieger!“ seine eigentümliche Reich-Gottes-Hoffnung ausbildete, die von Möttlingen und Bad Boll aus viele Menschen prägte. Ebenfalls 150 Jahre ist es am 1. Juni 1992 her gewesen, dass dem Vater Blumhardt mitten im Möttlinger Kampf sein nicht minder bekannt gewordener Sohn Christoph Blumhardt (1842-1919) geboren wurde, der das Lebenswerk des Vaters fortsetzte und es mit neuen Akzenten versah. Von Blumhardt Vater und Sohn sind wesentliche Impulse ausgegangen auf Theologen des 20. Jahrhun­derts (Eduard Thurneysen und Karl Barth; Hermann Kutter, Leonhard Ragaz und die Schweizer religiös-soziale Bewegung; Emil Brunner; von den Neueren seien nur genannt: Joachim Scharfenberg, Helmut Gollwitzer, Rudolf Bohren, Gerhard Sauter).

In der manchmal sog. „Blumhardt-Bewegung“ waren die Schriften der Blumhardts eigentlich erst in zweiter Linie wichtig; angestoßen wurde die von Möttlingen und Bad Boll ausgehende Bewegung v. a. durch persönliche Kontakte, in denen das Charisma der beiden Blumhardts Menschen in ihren Bann zog. Die fast provozierende Schlichtheit, die ein Wesensmerkmal aller (auch der hier vorzustellenden) Blumhardt-Schriften ist, lässt den Leser manchmal unterschätzen, in welch elementarer Wucht diese Reich-Gottes-­Hoffnung, die sich seit den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausbildete, in Kirche und Theologie Nachwirkungen zeitigte.

In dieser und der folgenden Buchbesprechung sind zwei Titel vorzustel­len, die - beide 1991 erschienen - uns das Wichtigste der Reich-Gottes­-Verkündigung des älteren Blumhardt vor Augen führen. Beide Male sind es Buchtitel, die zwar vorrangig für die Gemeinde gedacht sind, die aber darüber hinaus dem wissenschaftlich Interessierten Informationen über den älteren Blumhardt bieten, die sonst kaum zu erhalten sind.

Die dreibändige, von Otto Bruder besorgte Auswahl der Schriften Blum­hardts liegt nun als Nachdruck vor, eine sehr preiswerte, schöne Taschen­buchausgabe im Schuber. Diese Auswahl, in Erstauflage 1947 (Bd. 1), 1948 (Bd. 2) und 1949 (Bd. 3) im GotthelfVerlagin Zürich erschienen; ist selbst ­wenn man so will­ ein Teil der „Blumhardt-Bewegung“. Auf diese Beson­derheit wie auf ihren Herausgeber gebührend einzugehen, ist unerläßlich bei dieser Auswahl, die ja schon eine beträchtliche Geschichte hinter sich hat (in Bittners Vorwort zum Nachdruck kommt leider mit keinem Wort zur Sprache, was für einem faszinierenden Mann das Werk zu verdanken ist).

Otto Bruder stellte seine Blumhardt-Ausgabe nicht als distanzierter Historiker zusammen, sondern als leidenschaftlicher Anhänger der Blum­hardtschen Richtung. Fernab von jedwedem rückwärts gerichteten, konser­vativen Interesse war es ihm daran gelegen, Blumhardts Gedanken gleich­sam als prophetisches Zeugnis für die Zukunft fruchtbar zu machen ange­sichts der Krisen und Wirren der Nachkriegsgegenwart (N. B. aus der neutralen Schweiz heraus ein Ruf hinein ins zerstörte und schuldbeladene Nachbarland).

Wer Blumhardt für ihn war und was das dreibändige Werk leisten sollte, beschrieb Bruder so: „Blumhardt ist nicht der mit den herrschenden Zustän­den sich zufriedengebende, still fromme und behagliche Mensch, für den man ihn wohl schon gehalten hat, sondern ein Stürmer des Reiches Gottes, eine vom Feuergeist der Bibel erfüllte, sehnsuchtsvoll drängende Persön­lichkeit, ein Mann des Kampfes gegen die Finsternis, um dem Kommen des Heilandes Bahn zu machen. Seine Botschaft ist daher in der gegenwärtigen Weltkrise und im Chaos unserer Zeit besonders nötig und heilsam. Wer sich in diese Zeugnisse vertieft, wird einem geläuterten, vom Frieden Gottes erfüllten. ..Manne begegnen, wird aber auch zugleich erfasst werden von dem heiligen Ernst und der strengen, zur Umkehr und Besinnung aufrufen­den Vollmacht eines Gottesboten“ (Vorwort Bd. 1, XXIII).

Sehr ähnliche Emphase und Leidenschaft haben von Anfang an dazu geführt, vom älteren und dann vom jüngeren Blumhardt etwas zu publizie­ren oder ihr Leben zu beschreiben. Seit Friedrich Zündel und seinem großen Lebensbild des älteren Blumhardt (Erstauflage 1880; die letzte gekürzte Auflage ist die 21. von 1988, auch im Brunnen Verlag in Gießen erschienen) haben oft die Autoren, die das Werk der Blumhardts beschrieben oder ihre Schriften herausgaben, solche praktisch-theologischen „prophetischen“ Absichten damit verfolgt; genannt seien nur Leonhard Ragaz, EugenJäckh, Robert Lejeune, Johannes Harder oder Walter Nigg. Letzterer gab kurz vor seinem Tode seine „Blumhardt-Deutung“ über das Lebenswerk des Vaters und des Sohnes heraus unter dem Titel „Rebellen eigener Art“ (Stuttgart 1988) .Und bei allen z. T. sehr beträchtlichen Akzentunterschieden zwischen den genannten Autoren ist das frappierend Gemeinsame dieser Veröffentli­chungen unverkennbar: Sie sind geschrieben eben von "Rebellen eigener Art", von am Rande des wissenschaftlichen Betriebes stehenden „unregel­mäßigen Verben“ der theologischen Zunft, von Begeisterten und Beweg­ten, die in den Blumhardts etwas gefunden hatten, was sie nicht für sich 'behalten konnten.

Zu diesen temperamentvollen, originellen Menschen gehörte eben nicht zuletzt auch „Otto Bruder“. Dieser Name ist ein schriftstellerisches Pseud­onym; es steht für Otto Salomon (1889-1971). Salomon, von Geburt her Jude, war 1911 Christ geworden, stand der Jugendbewegung nahe (Arbeit im Neuwerkkreis, Bruderhof-Gemeinschaft, vgl. den Namen „Bruder“) und hatte seine geistliche Prägung ab Beginn der 20er Jahre durch Blum­hardtsche Gedanken gefunden. Beruflich wirkte er als Schauspieler, Drama­turg, Romanautor und Dichter (Lyrik unter dem Pseudonym Otto Johannes Bernt), und er war auch lange in führender Stellung im Kaiser-Verlag in München, als Lektor im Gotthelf Verlag und später als Leiter des Zürcher Zwingli­ Verlags und als Gründer des nicht unbedeutenden dortigen Flam­berg-Verlags tätig. Bruder, der übrigens 1930 eine Enkelin des jüngeren Blurnhardt, Elfriede Weber, heiratete, wirkte in seinem leidenschaftlichen Einsatz für die Blurnhardtsche Reich-Gottes-Verkündigung auf so unter­schiedliche Theologen wie Rudolf Bohren, Gerhard Sauter und Helmut Gollwitzer ein. Zum Ganzen vgl.: Otto Bruder. Aus seinem Leben und Wirken, hg. von Ludwig und Margrit Hönig, Stuttgart 1975, ferner Ger­hard Sauter, Otto Salomon zum Gedenken, in: EvTh 71 (1971), 449.

Es würde hier natürlich zu weit führen, das Schrifttum des älteren Blum­hardt, wie es in der Bruder-Ausgabe vorliegt, „rezensierend“ zu würdigen; das hat auf ihre Weise die Forschung der letzten Jahre hinreichend unternom­men. Hier kann es nur um eine schlichte Inhaltsangabe gehen unter Hervor­hebung einiger Aspekte, die für den Vater Blumhardt typisch sind. Gleich in Band 1 (Schriftauslegung) beginnt Bruder (1-65) mit Texten zur eigentüm­lichen, zweischichtigen Pneumatologie Blumhardts: Da wird neben dem heiligen Geist, wie er in der Kirchengeschichte immer wirksam war, gemäß Joel 3 und Apg 2 eine noch ausstehende besondere, machtvolle Geistaus­schüttung mit entsprechenden Krafterweisungen im eschatologischen Hori­zont des kommenden Reiches erwartet, wovon die Ereignisse von Möttlin­gen durchaus so etwas wie ein "Angeld" waren.

Im Anschluss daran geht es um Blumhardts Verständnis der Wunder (Bd.1, 67-116). Dieser Abschnitt über Blumhardts Verständnis der Wunder ist eigentlich durch und durch ebenfalls eine Erörterung des Themas der erwarteten neuen Geistausgießung, bei der heilsgeschichtlich in drei Etap­pen - chiliastisch - eingeteilt wird: 1. Offenbarungsstufe bei Mose im alten Bund, 2. im neuen Bund bei Christus und den Aposteln, und die „dritte Offenbarungsepoche“ (ebd., 114) ist­ nach dem Rückgang der Wunder nach der Apostelzeit - die Zeit des erwarteten Geistes und der vollen Wieder­kehr der Machttaten im Horizont des heranbrechenden universalen Reiches Gottes auf diese-x Erde. Danach geht es im 1. Band von Bruders Blumhardt­-Ausgabe um Jesu Aussprüche zur Nähe der Parusie (117-130), um eine Auslegung von Jesaja 65 (131-137) und um das für Blumhardt besonders wichtige spannungsvolle Zusammen von „Warten und Eilen“ nach 2. Petr. 3,12 (139-152), wobei fast alle exegetischen Texte aus diesem ersten Teil von Band1 den „Blättern aus Bad Boll“, 1873-77, entnommen wurden. An anderer Stelle separat gedruckt waren zuvor die beiden nächsten Blumhardt­-Abhandlungen über die Engel (Bd. 1, 153-193) und über die Bergpredigt (195-250), an die sich folgerichtig Blumhardts "Kurze Besprechung des Vaterunser oder Reichgebets" anschließt (Bd.1, 251-306), die er auch in den „Blättern aus Bad Boll“ 1874 in Serie vorgenommen hatte. Zwei Auslegun­gen aus der gleichen Quelle, von der „Heilung des Besessenen“ (Bd. 1, 307-315) und vom " Wachen und vom Warten" (Bd. 1,317-336), schließen den Band ab, der sich also weitgehend aus Material speist, wie es uns jetzt auch in den Faksimile-Nachdrucken der „Blätter aus Bad Boll“ (Gesam­melte Werke, hg. von Joachim Scharfenberg und Paul Ernst, Reihe II, Bd. 1-4, Göttingen 1966-1970) zur Verfügung steht. Im Einleitungsteil des Bandes 1 hat der Neuherausgeber Bittner leider einen interessanten Blum­hardt­-Text, der in Bruders Ausgabe von 1947 stand (in der dortigen Seiten­zählung: XIX -XXIII), ausgelassen, nämlich Blumhardts Beschreibung sei­nes Entwicklungsganges von 1830.

Im Einleitungsteil des Bandes 2 (Verkündigung) aber übernimmt Bittner Bruders Vorspann (Bd. 2, IX -XVI): Aus den „Gesammelten Werken von Johann Christoph Blumhardt“, Bd. 2: Evangelienpredigten (hg. von Chri­stoph Blumhardt, Karlsruhe 1887) wird das Vorwort des Sohnes abge­druckt, in dem er die Verkündigungsweise des Vaters charakterisiert. Der Band 2 ist klarer gegliedert: Die Predigten und Andachten des ersten Teils befassen sich mit dem für Blumhardt zentralen Christusthema (Bd. 2, 1-65); es folgt der zweite Teil unter der Überschrift "Das Volk Gottes" (Bd. 2, 67-184), der Blumhardts Verkündigung vom Elend und der Armut der Kirche und von der Verheißung der Jesusgemeinde zum Inhalt hat. Der dritte Teil des zweiten Bandes (Bd.2, 185-331) ist­ unter dem Titel der „Wiederkunft Christi“ -Blumhardts Verkündigung der eschatologischen Reich-Gottes-Hoffnung gewidmet, wobei es natürlich bei dieser Gliede­rung in den hier abgedruckten Gelegenheitsaussagen Blumhardts mannigfa­che Überschneidungen gibt. Zum Beispiel wird in Band 2 Blumhardts Lieblingserwartung der Geistausgießung, die der erste Band breit behan­delte, des öfteren erneut aufgegriffen (vgl. etwa Bd.2, 257(, 314-316, ferner 69­ 75; vgl. auch die Bemerkungen des Sohnes zu diesem wichtigen Punkt im Vorwort, XIV -XVI). Wie man bei Blumhardt eigentlich "Schrift­auslegung", " Verkündigung" und "Seelsorge" nicht voneinander trennen kann, so ist seine christologische Orientierung an "Jesus, dem Sieger" untrennbar mit seiner eigentümlichen Pneumatologie im Rahmen der escha­tologisch-universalen Reich-Gottes-Hoffnung verquickt; dabei geht es anhand der Bibel immer neu in vielen Aktualisierungen stets um das im Grunde gleiche Thema. Dieser zweite Band Bruders ist (wie Bittners hinzu­gefügtes, von Gerhard Sauter entlehntes Quellenverzeichnis zeigt: Bd. 2, 334­ 336; das Quellenverzeichnis zu Bd. 3 wurde versehentlich ebd. , 337 ( schon abgedruckt) den "Gesammelten Schriften", die Blumhardts Sohn herausgab, und verschiedenen in Bad Boll herausgegebenen Predigt­ und Andachtsammlungen des vorigen Jahrhunderts entnommen.

Band 3 der Bruder-Auswahl ist schon einmal als separates Taschenbuch erschienen Johann Christoph Blumhardt, Seelsorge, hg. von Otto Bruder, Harnburg/München 1968 = Siebenstern­ Taschenbuch 118; lediglich der unpaginierte Anhang fehlt in diesem Bändchen, dafür hat Bruder dort, 7-16, ein neues Vorwo!t vorangesetzt: " Was sagt uns Johann Christoph Blumhardt heute?"). In Band3 ist stärker als in den vorigen Bänden das frömmigkeitsgeschichtliche Lokalkolorit eingefangen, das zum Wirken Blumhardts sehr wesentlich gehörte. Dieser dritte Band führt, wie Bruder sagt, "in das innerste Gemach seiner Wirksamkeit, und wir lernen Blum­hardt kennen als den priesterlichen Mann, der das Leid der Menschen um sich her auf betendem Herzen trug und dessen Anliegen es war, die Bot­schaft von der Wirklichkeit des Sieges Christi. ..als Kraft und Trost und als Heilung Leibes und der Seele weiterzureichen" {Bd. 3, VII).

Irn ersten Teil des dritten Bandes der Auswahl ("Besprechung von Glau­bensfragen", Bd. 3, 1­ 76) handelt es sich fast ausnahmslos wieder um in den "Blättern aus Bad Boll" zugängliche Blumhardt-Äußerungen, diesmal vor­nehmlich zu Leserfragen über das Beten (Bd, 3, 1­ 34), die Heiligung (Bd. 3, 35.:..51) und die Kindertaufe (Bd.3, 59-68). Die „seelsorgerlichen Rat­schläge“ (Bd. 3, 77-145), ebenfalls aus den "Blättern aus Bad Boll", ferner aus vom Sohn herausgegebenen "Brieflichen Äußerungen" des Vaters (Bad Boll1883) geschöpft, betreffen Glaubens­ und Anfechtungsfragen der Leser und Seelsorgesuchenden sowie Fragen der Erziehung. Aus den 2800 von Blumhardt bekannten Briefen werden dann (Bd. 3, S. 147-281) Briefe und Briefauszüge dargeboten, die Johann Christophs Biographie und seine seel­sorgerliche Wirksamkeit illustrieren (aus der Iptinger und Möttlinger Zeit 1837-1852, ebd., 149-202; aus der Bad Boller Zeit 1852-1880 ebd., 203-281). Gebete von Blumhardt (Bd. 3, 283-303) und einige Blumhardt­Lieder irn unpaginierten Teil schließen den Band und die gesamte Auswahl ab, die -wie Bittner in seiner Einleitung zur Neuausgabe sagt (Bd.1, VII­ XII) -eine "erschwingliche Edition der Schriften Blumhardts" sein soll, die in der" Überzeugung, dass Blumhardt zum Eigentum der Gemeinde gehört, neu. vorgelegt" wird (Bd. 1, VII) .Allerdings befremdet an dieser Neuherausgabe, dass Bittner in seiner Einleitung die ebenfalls ganz auf die Gemeinde zugeschnittene, umfangreiche Blumhardt-Ausgabe (Johann Christoph Blumhardt, Ausgewählte Werke für die Gemeinde Jesu Christi, ihre Hirten und Lehrer, hg. von Gerhard Weber, Band I-III; ausgeliefert auch im Brunnen Verlag, Gießen 1974, 1975 und 1982) nicht erwähnt und so den Eindruck erweckt, als sei seine Ausgabe endlich (!) eine Auswahl für die Gemeinde, wobei aber die speziellen Qualitäten und theologischen Absich­ten der Bruder-Edition (wie in dieser Besprechung indirekt angedeutet wurde) auch ein wenig verschwiegen werden.

 

Hemer-Deilinghofen                                                                               Friedhelm Groth

 

 

 

Zweitens dann (in Pietismus und Neuzeit 18 direkt anschließend:

 

Blumhardt, Johann Christoph: Ein Brevier. Hg. und mit Erläuterungen versehen von Dieter Ising. Mit 21 Abbildungen, Göttingen, Vanden­hoeck &Ruprecht, 1991, 214 S., kart. 29,80 DM.

 

Vom Herausgeber des zuvor besprochenen Werks liegt auch ein Blumhardt­-Brevier vor: Christoph Blumhardt, Heute schauen wirvorwärts. Ein Blum­hardt­ Brevier für alle Tage des Jahres, hg. von Otto Bruder, München 1966. In ähnlicher Weise bestehen die gängigsten Breviere (Barth-Brevier, hg. von Richard Grunow, Zürich 1966,2. Aufl. 1979; Bonhoeffer-Brevier, hg. von Otto Dudzus, München 1963, 3. Aufl. 1968) aus je 365 Textauszügen, die „für alle Tage des Jahres“ zu lesen sind.

Beim Johann-Christoph-Blumhardt-Brevier Dieter Isings ist das anders; hier handelt es sich nicht um solch ein Buch zur täglichen Besinnung. Dieses Brevier ist ein sehr schönes Bändchen, das in Kurzform - breviter - und anschaulich in Leben und Wirken des älteren Blumhardt einführt und das dessen Art und seine theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Bedeu­tung gut vor Augen stellt. jedes sog. „einfache Gemeindeglied“ wird mit diesem Brevier etwas anfangen können, aber auch ein versierter Kenner des Blumhardtschen Werks wird hier Überraschendes und Neues finden­

Unzweifelhaft ist derzeit Dieter Ising, der in Stuttgart auch beruflich „an der Quelle sitzt“, der Theologe, der das Blumhardtsche Schrifttum voll den Quellen her am besten kennt. Bereits bei der wissenschaftlichen Edition von Johann Christoph Blumhardt, Gesammelte Werke, Reihe I, Band 2 (Der Kampf in Möttlingen, Anmerkungen) , Göttingen 1979, ist er (zusammen mit Gerhard Schäfer) als Mitherausgeber in Erscheinung getreten. Im Rah­men dieser Gesammelten Werke wird von ihm ab 1992 die Herausgabe von vier Bänden Blumhardt-Briefe zu erwarten sein. Das hier vorgelegte Bre­vier ist da so etwas wie ein „Appetithäppchen“. Es kommen hier nämlich schon viele bisher nicht gedruckte, interessante Blumhardt-Zeugnisse, vor allem Briefauszüge, an die Öffentlichkeit.

Nach Isings Einleitung (7 -16) befasst sich das erste Kapitel des Bändchens eindrucksvoll mit Blumhardts Biographie (17­ 58) .Sein Lebensweg von 1805 bis 1880 wird in sieben Abschnitten vorgestellt (Kindheit und Jugend in Stuttgart, Schöntal und Korntal bis 1824; Studium in Tübingen bis 1829; Vikariat in Dürrmenz 1829/30; als Missionslehrer in Basel bis 1837; als Pfarrgehilfe in Iptingen 1837/38; Pfarrer in Möttlingen bis 1852; Prediger und Seelsorger in Bad Boll bis 1880). Ising lässt zu jeder dieser Etappen Blumhardt in gut ausgewählten, zwar kurzen, aber aussagestarken Selbst­zeugnissen zu Wort kommen, die vom Herausgeber lediglich mit ganz knappen Worten eingeleitet werden. So wird zum Beispiel Blumhardts Tübinger Studienzeit im Brevier mit Auszügen (20­ 22) aus vier Briefen des Jahres 1826 dokumentiert, die Blumhardt an seinen Freund Eduard Mörike geschrieben hat; eine Bleistiftzeichnung mit dem Bild des 20jährigen Mörike (20) illustriert diese Briefauswahl. Nicht minder eindrucksvoll ist Isings Zusammenstellung von Blumhardt­ Texten beim Möttlinger Kampf {34-42) , wo die vielen Aspekte des dort Geschehenen in den Selbstaussagen in einer Weise herauskommen, wie es distanzierte theologische Beschrei­bungen nicht wiederzugeben vermögen. Entsprechend werden im weiteren Verlauf der Lebensbeschreibung durch Selbstzeugnisse die Möttlinger Zeit und Blumhardts segensreiche vielfältige Seelsorgetätigkeit in Bad Boll anschaulich gemacht: eine Darstellung mit sehr viel Lokalkolorit, wobei die gut ausgewählten Illustrationen das ihre zu solcher Anschaulichkeit beitra­gen - bis hin zum abgedruckten Reisepass Blumhardts {55). Ob aber der Vater Blumhardt für die laut Karl Barth {Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und Geschichte, 3. Aufl., Zürich 1960, 592) in Bad Boll angeblich bereitstehende ,Kutsche nach Jerusalem’, dem kommenden Herrn entgegen, auch solch einen Reisepass hatte, gültig für Palästina, wird im Brevier nicht verraten, was wohl damit zusammenhängt, dass das von Barth Kolportierte in den Bereich der Blumhardt-Legenden gehört.

Großen Wert legt Ising im umfangreichsten Teil des Breviers, dem zwei­ten Kapitel über die „Theologie“ Blumhardts {59 -170), darauf, die Schwer­punkte der Verkündigung anhand von dessen Textzeugnissen vor Augen zu führen. Da diese didaktisch geschickt ausgewählt sind, liest sich auch derje­nige, der Blumhardt nicht so gut kennt, leicht ein und bekommt rasch ein Gespür dafür, worum es Blumhardt theologisch geht. Ising geht bei der Darstellung der Unterthemen wiederum biographisch-chronologisch vor {vgl. dazu 9 f. ), indem er erst Textzeugnisse bietet, über die Blumhardt in der Kinder-, Jugend­ und Ausbildungszeit schon nachgedacht hat {Bibel, Recht­fertigung und Heiligung, Wiedergeburt usw.: vgl. 59-77), und im Anschluss daran Aussagen zu Blumhardt­ Themen, die sich aus dem Möttlinger Kampf ergeben haben {Blumhardts kritische Einstellung zu verschiedenen Aspek­ten des Themas Okkultismus und umgekehrt seine Haltung zu Fragen des Gebets und der Krankenheilung, vgl. 77-127; dort 99-106 eindrucksvolle Blumhardt-Zeugnisse von der Möttlinger Buß­ und Erweckungsbewe­gung).

Die für den reifen Blumhardt fundamentalen Verkündigungsschwer­punkte {Kritik an der Kirche, Erwartung der Geistausgießung, Naherwar­tung, Reich-Gottes-Orientierung) werden dann in diesem zweiten Kapitel in einem längeren Abschnitt vor Augen geführt {127-151), in dem auch Blumhardts Beziehung zum alten württembergischen Pietismus und seine Rolle im zeitgenössischen Pietismus des 19.Jahrhunderts {z. B. seine Bezie­hung zu Christian Gottlob Barth, dem Calwer Verlagsverein, zu Wilhelm Hoffmann und Korntal; zu Korntal und Hoffmann vgl. 140 und 17 f. ) durch Selbstzeugnisse Blumhardts und durch Anmerkungen des Herausgebers dokumentiert werden. Dabei kommen auch die diversen pietismuskriti­schen Tendenzen beim älteren Blumhardt sowie die Kritik an Blumhardt von pietistisch orientierten Zeitgenossen {dazu besonders instruktiv die zusammengestellten Blumhardt-Selbstzeugnisse 134-138) angemessen und sehr anschaulich zum Ausdruck. Zu Recht erhält in Isings Brevier Blum­hardts Ringen um die Allversöhnungsfrage einen eigenen Abschnitt (152-155); in diesem kommt zum Ausdruck, wie dieses württembergisch­-pietistische Lieblingsthema in Blumhardts Reich-Gottes-Denken auf sehr eigene Weise vorsichtig wieder aufgenommen wird. Weitere furBlumhardt zentrale theologische Aspekte schließen sich an: sein Engagement für die Mission (155-160), seine Stellung zu den Juden und der Judenmission (160-163) und zur Ökumene und den Konfessionen (163-166). Den Abschluss findet das Kapitel über Blumhardts Theologie in einem Abschnitt über sein Verständnis des Todes (167-170).

Zwei kürzere Kapitel stehen dann am Ende des Breviers. Zunächst erhält der Leser im dritten Kapitel (171-186) anhand von Briefauszügen seelsor­gerlichen Inhalts (weiteren) Einblick in Blumhardts Art, Seelsorge zu trei­ben. Am Schluss des Bändchens stellt Ising in einem eigenen vierten Kapitel an Beispielen vor, wie Blumhardt zu sozialethischen und politischen Fragen gedacht hat. Es kommt in diesem Kapitel heraus, was Ising selbst an anderer Stelle zusammenfasst in der Feststellung, „daß man beim älteren Blumhardt zwar eine systematisch ausgefuhrte Sozialethik vermißt, jedoch sehr bemer­kenswerte Ansätze finden kann, die über den Horizont eines ,konservativen schwäbischen Landpfarrers' (Sauter. ..) gewiß hinausgehen" (12, Anm. 5). Zwei abrundende Beilagen bilden den Abschluss dieses erfreulichen Bänd­chens: Der Abdruck einer Würdigung des älteren Blumhardt durch den Sohn aus dem Jahr 1896 (210-212) und eine Zeittafel zur Blumhardt-Vita (213f.). Man darf gespannt sein auf die vom Herausgeber Dieter Ising bearbeitete wissenschaftliche Briefausgabe.

 

Hemer-Deilinghofen Friedhelm Groth

www.pastoerchen.de

 

 

 

 

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