Friedhelm Groth

Peter Eberhard Müllensiefen, Iserlohner Landrat von 1818 bis 1836,
in seinen Beziehungen zum Tübinger Swedenborgianer Immanuel Tafel




Text von: "Blätter zur Deilinghofer Kirchengeschichte, Heft 3b", Iserlohn 1995,
ohne den umfangreichen Bild- und Anmerkungsteil (aber mit Literaturliste)

Hier zu Johann Abraham Strauß und hier zu Friedrich Bährens
 

1. Noch ein Kapitel zu "Swedenborg in Deutschland"

"Swedenborg in Deutschland", so hatte 1947 Ernst Benz, selbst verständnisvoller Liebhaber heterodoxer Randtraditionen im christlichen Glauben und mit Swedenborg deutlich sympathisierend, sein großes Werk über das Verhältnis Immanuel Kants und Friedrich Christoph Oetingers zu Emanuel Swedenborg (1688-1772) betitelt. Heute müßte eine Arbeit über die Swedenborg-Rezeption im deutschsprachigen Raum viel deutlicher auf den Tübinger Universitätsbibliothekar und Philosophieprofessor Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796-1863) als Multiplikator von dessen Gedankengut eingehen. Darauf, daß Tafel wie kein Zweiter den Schweden hier publik machte und neben der Übersetzung und Edition vieler Swedenborg-Werke die Sammlung der Swedenborg-Anhänger in der Gemeinschaft der ‘Neuen Kirche’ maßgeblich mitbetrieb, hat besonders Eberhard Zwink, heute einer besten Kenner dieser Swedenborg-Wirkungsgeschichte, in seinen verdienstvollen Arbeiten hingewiesen. Gerade auch die Gustav-Werner-Forschung in Württemberg erhielt durch Zwinks Studien wesentliche neue Einsichten, in der Gestalt, daß man den in Studentenzeiten durch Tafel zum Swedenborg-Jünger gemachten Gustav Werner (1809-1887), den späteren großen christlichen Sozialreformer, Genossenschaftler und Reutlinger Anstaltgründer, viel mehr als es früher geschah, durchgängig begreifen kann als ‘Swedenborgianer eigener Art’, dem es gerade in seinen sozialethischen Aktivitäten um die `johanneische Liebeskirche’ ging als Überbietung der ‘petrinischen’ und ‘paulinischen’ Stufe der Kirchenentwicklung. Auch diese eigenständige Weiterführung Swedenborgischer Grundgedanken, deren Überführung in sozialethische Zusammenhänge, wäre ohne Tafel nicht zu denken, der - von staatlich-kirchlichen Repressalien bedroht und zeitweise mit Veröffentlichungsverbot belegt - wirklich einen beträchtlichen "Beitrag" leistete "zur württembergischen Kirchen- und Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert".

"Swedenborg in Deutschland", dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß der im deutschen Sprachgebiet durch Tafel maßgeblich publik gemachte Swedenborg mit seiner theosophischen Gedankenwelt eine beträchtliche Sogkraft ausübte. Es handelte sich bei ihm mitnichten um ‘irgend einen kleinen Spinner’ und obskuren Sektengründer am Rande! Sehr unterschiedliche große Geister wurden von Swedenborg mitbeeinflußt und fasziniert (aus dem deutschen Bereich seien hier nur Goethe mit dem "Faust" oder Schelling genannt, darüber hinaus etwa Strindberg und Helen Keller; viele Hin- und Her-Verbindungen zwischen Swedenborgianismus und Freimaurertum hat es außerdem von Anfang an gegeben).

Auch ist dazu in Betracht zu ziehen, daß der organisierte Swedenborgianismus eine weltweite Bewegung von erheblichem Ausmaße ist und daß der Name Tafels etwa in den USA bei vielen Anhängern der ‘New Church’ als eines deutschen Wegbereiters der von ihnen geglaubten Wahrheit durchaus geläufig ist. Und nicht unterschätzen sollte man, daß dem derzeitigen Zeitgeist zufolge auch Gedanken wie die von Swedenborg und Tafel vertretenen (esoterisches Schriftverständnis, gnostische religiöse Grundstimmung, Kontakte mit der Geisterwelt usw.) im Zeichen des sog. New Age durchaus en vogue sind: New Church und New Age gehen da hervorragend zusammen. Es sieht heute weithin so aus, wie in es sich damals in Tafels Zeiten aus dessen Optik darstellte: als seien Paulus und Luther ‘out’ mitsamt deren Kreuzes- und Rechtfertigungslehren, wogegen Ganzheitlichkeitsdenken, Esoterik und gnostische Makrokosmos-Mikrokosmos-Spekulationen angebliche religiöse Heilmittel des Zeitalters bieten. Schriften wie die, die Tafel herausgab, können da neu interessieren

Mit Tafel verglichen, scheint der hier vorzustellende Iserlohner Landrat Peter Eberhard Müllensiefen (1766-1847) ein unbedeutenderes ‘kleines Licht’ zu sein, ein Mann ohne große geschichtliche Wirkungen. Es wird aber zu zeigen sein, daß Tafel in seinem Lebenswerk ohne die Verbindung zu Müllensiefen (und dessen Tochter Minna, 1809 -1872, sowie deren Bruder Theodor, 1802 - 1872) in seinen Möglichkeiten gravierend beschnitten gewesen wäre. Gerade durch den engen Kontakt mit den Müllensiefens konnte Tafel der sein, der er wurde.

Zudem sind die Müllensiefens, aus einer alten und bedeutenden Traditionsfamilie stammend, im Sauerland und im Ruhrgebiet vom Namen her durchaus heute noch bekannnt. Das fängt bei Straßennamen an: In Iserlohn erinnert nicht weit vom Stadtzentrum eine ‘Müllensiefenstraße’ an Peter Eberhard Müllensiefen, der seinerzeit nach der französischen Fremdherrschaft im damals neugegründeten Kreis Iserlohn in den Jahren von 1818 bis 1836 der zweite Iserlohner Landrat war, ein Mann voller Initiative und Ideen, der dem Kreis Iserlohn durch sein Wirken (besonders im Blick auf die Industrieentwicklung, den Straßen- und den Kirchenbau) seinen unverkennbaren Stempel aufprägte und der in seiner Unternehmerkarriere vor seiner Landratszeit Entscheidendes dazu beitrug, daß die Nähnadelindustrie in der späteren Nadelstadt Iserlohn zum Florieren kam.

Ebensowenig darf man die wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung Peter Eberhard Müllensiefens als Stammvater des Wittener Familienunternehmens unterschätzen, der Glasfabrik Gebr. Müllensiefen, gegründet unter seiner Regie noch in der Landratszeit im Jahr 1825, und betrieben von seinen beiden ältesten Söhnen Gustav Müllensiefen (1799-1874) und dem o.g. Theodor, ein Werk, das sich aus bescheidenen Anfängen zu einem Spitzenunternehmen der deutschen Glasindustrie entwickelte. In Witten-Crengeldanz erinnert heute noch in der Nähe des großen Werkes (heute: Flachglas AG) und des hochherrschaftlichen (seinerzeit vom alten Müllensiefen erworbenen) Hauses Crengeldanz, wo auch der Landrat a.D. Müllensiefen seinen Alterssitz hatte, der Straßenname ‘Müllensiefen-Ring’ an die Firmengründer, die Gebrüder Müllensiefen und ihren Vater. Und einige Kilometer davon entfernt in Bochum-Langendreer an der Stadtgrenze zu Dortmund kreuzt sich sogar eine ‘Müllensiefenstraße’ mit der ‘Iserlohner Str.’, wobei letztere an die von Müllensiefens ältestem Sohn Gustav gegründete Zeche mit dem bezeichnendem Namen ‘Neu-Iserlohn’ erinnert. Die drei Iserlohner Müllensiefens gehören jedenfalls wirtschaftgeschichtlich mit zu den Pionieren, die das Ruhrgebiet zu dem machten, was daraus entstand.

Namentlich im Bereich Hemer/Iserlohn ist der Name Peter Eberhard Müllensiefen bei heimatgeschichtlich Interessierten durchaus noch ein Begriff, denn vor 30 Jahren erschien als Band 1 der heimatkundlichen Schriftenreihe "Die Fibel", hg. vom Bürger- und Heimatverein Hemer Erich Lülffs: "Der Landrat Peter Eberhard Müllensiefen", auf 216 Seiten die Teiledition der sehr umfangreichen Autobiographie Müllensiefens, beschränkt auf die Landratszeit von 1818 bis 1836. Eine größere Ausgabe der Müllensiefenschen Biographie hatte 1931 (328 Seiten) sein Urenkel Friedrich von Oppeln-Bronikowski herausgeben. Beide Bücher waren der Ausgangspunkt, dem Thema ‘Neue Kirche’ und dem Verhältnis Müllensiefen/Tafel nachzuspüren, wozu es gelang, die handschriftliche Quelle dieser Ausgaben ausfindig zu machen. Das bemerkenswerte Exemplar (844 handgeschriebene Seiten) ist bis heute in Familienbesitz, und zwar in der Obhut von Frau Christa Schemann, geb. Müllensiefen, in Plettenberg. Peter Eberhard Müllensiefen hatte sein Werk mit "Geheime Familien-Chronik oder meine wahre Lebens- und Leidensgeschichte" betitelt.

2. Von Müllensiefens Wandlung zum Swedenborgianer (1782) bis hin zur Begegnung mit Tafel und der Hochzeit seiner Tochter mit diesem (1832)

Müllensiefens "Geheime Familien-Chronik", das glänzend erzählte und streckenweise geradezu spannend geschriebene Lebensbild des Nadelreidemeisters, Landrates und Stammvaters des großen Wittener Glaswerkes, ist nicht nur für heimatkundliche, industriegeschichtliche und kommunalpolitische Fragestellungen eine Fundgrube ersten Ranges. Bei der Lektüre begegnet dem Leser auf Schritt und Tritt eine stark durch Frömmigkeit geprägte Persönlichkeit. In der Beschreibung der Landratszeit stellte sich Müllensiefen dar als ein Kommunalpolitiker und Verwaltungsmann, der kirchlichen Belangen auch von Amts wegen ungewöhnlich hohen Stellenwert einräumte. So jedenfalls mag es damals auch für die Öffentlichkeit ausgesehen haben, aber ‘von innen her’ ergab sich von seinem Swedenborgianismus aus ein sehr anderes Bild: daß dieser Landrat Müllensiefen nämlich nahezu ein Doppelleben führte, als hochverehrter Repräsentant der staatlich-kirchlichen Obrigkeit einerseits und als ‘Freund der Wahrheit’ im Sinne Swedenborgs (und damit implizit als radikaler Kritiker lutherischen Kirchentums) andererseits. Der letztgenannte Aspekt, Swedenborgs Lehre, aber war für ihn durchweg schechthinniges Zentrum seines Wirkens: "Das geistige Prinzip, das dabei vorherrschend gewesen, war gereinigter Glaube, der durch die Liebe tätig ist, wie er sich seit dem Jahre 1782 aus der gereinigten Lehre der Neuen Kirche[ ] bei mir gestaltet hatte" (v.O.-B., S.290; vgl. Lülff, S.141).

Wie sich diese Wende zu Swedenborg 1782 für den jungen, gerade nach Altena zum Lehrherrn Rumpe in die Ausbildung gekommenen Peter Eberhard zutrug, sei in einem längeren Textausschnitt belegt. Müllensiefen erzählt, wie er von Rumpe "in Altena ... im Frühjahr 1782 .. zu einer Jagdpartie eingeladen ward" (v.O.-B., S.40), da erstmalig geschossen und gleich einen Jagdgenossen am Schuh getroffen hatte, aber gerade durch dieses Malheur als ‘Volltreffer seines Lebens’ auf Swedenborg gestoßen war, denn:

" Die göttliche Vorsehung führt oft durch anscheinend geringfügige Mittel und Wege zu großen Zwecken. Gerade dieser mein erster Jagdversuch verschaffte mir die Bekanntschaft eines Mannes, der dem Herrn als Organ dienen mußte, meine Aufmerksamkeit auf das Höhere zu leiten. Jener Mann (Mertens[ ] mit Namen) hatte als hochbejahrter Greis die Jagd mitgemacht, und mein Zufallstreffer hatte mir seine Liebe in dem Grade erworben, daß er mich am nächsten Sonntag nachbarlich zum Kaffee einladen ließ. Nach mehr oder minder interessanten Jagdanekdoten kam das Gespräch auf geheime Wissenschaften. Meinerseits in dies Fach noch nicht tief eingeweiht, konnte ich nur den aufmerksamen Zuhörer abgeben. ... Dann nahm er [ sc. Mertens] das Wort und sagte mit dem ihm eigenen Pathos: ‘Was Sie bis dahin vorgetragen, meine Damen und Herren, war mir zum Teil noch unbekannt. Manches hingegen war mir aus Druckschriften erinnerlich, über deren Wert die öffentliche Meinung längst günstig entschieden hat. Überhaupt müßte man allen historischen Glauben verwerfen, wenn man derartige Erscheinungen und Tatsachen in Zweifel ziehen oder sie gar unbedingt leugnen wollte, ohne für seine Meinung haltbare Gründe anzuführen. ... Was würden solche Ungläubigen erst über ein Werk urteilen, das ich besitze, worin auf das genaueste beschrieben steht, wie es auf den Planeten und anderen Erdkörpern des gestirnten Himmels aussieht!’ Das Wenige, was Mertens uns hiervon mitteilte, setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen, aber keiner wagte ihn um das Buch zu bitten. Ich tat es beim Abschied, und er hatte die Gefälligkeit, es mir anzuvertrauen. Es war eine schlechte Übersetzung des lateinischen Werkes: ‘De Telluribus’ usw. von Emanuel von Swedenborg, Anspach 1771. Ich fühlte mich wunderbar ergriffen und ging, noch ehe ich es ganz durchgelesen, zum Buchbinder Salberg, um mir auf der Stelle ein Exemplar davon zu verschreiben; auch ermächtigte ich ihn, ohne weitere Rückfrage alles für mich zu bestellen, was von Swedenborgs Schriften noch herauskommen würde. So bekam ich nach und nach das Werk vom Himmel und der Hölle, die wahre christliche Religion, einen Auszug aus sämtlichen theologischen Schriften Swedenborgs nebst dessen ‘Prodromus Philosophiae ratiocinatis de infinito et causa finali creationis’ usw. vom Jahre 1734. Seine übrigen lateinischen Werke, nur in wenigen Exemplaren noch in London vorhanden, waren um keinen Preis zu haben. Wie unendlich viel ich diesen Schriften verdanke, vermag ich mit Worten nicht auszudrücken; die Folgen davon verlieren sich in der grenzenlosen Ewigkeit. Bei Fortsetzung meiner Geschichte werde ich auf diesen hochwichtigen Gegenstand noch oft zurückkommen." (v.O.-B., S.41f.; vgl. die kurze Zusammenfassung im Vorwort bei Lülff, S.10 f.).

Nicht minder ungewöhnlich war "der wunderbare Weg der göttlichen Vorsehung [ ,der] zu meiner ersten Bekanntschaft mit Dr. Immanuel Tafel" führte, die "unbewußt in England begründet ward, ohne daß wir dort gewesen wären" (v.O.-B., S.297). Die Autobiographie dokumentiert diesen sonderbaren Vorgang aufs genaueste: Die ‘Elberfelder Allgemeinen Zeitung’ vom 18.11.1817 hatte einen Aufruf der Swedenborgianer-Gesellschaften in London und Manchester abgedruckt (wörtlich wiedergegeben in: v.O.-B., S.297), daß sich die Freunde der Verbreitung Swedenborgischen Schrifttums mit ihnen vereinigen sollten, woraufhin Müllensiefen umgehend (in einem nachschriftlich erhaltenen Brief vom 3.12.1817: v.O.-B., S.297-299) über eine Rotterdamer Adresse dem "Präsidenten der ehrwürdigen Kirche des Neuen Jerusalems in England" schrieb, er

"habe mit Entzücken den Ruf des Herrn durch die Elberfelder Allgemeine Zeitung Nr. 327 vernommen, die Ihre öffentliche Einladung zur Vereinigung der hiesigen Mitglieder des Neuen Jerusalem mit Ihren dortigen und anderen Gesellschaften aus der Rotterdamer Zeitung vom 18. d. Mts. entlehnt, und preise in Demut den Herrn der Neuen Kirche, der ich schon seit 34 Jahren huldige, daß er nach so vielen vorbereiteten Stürmen der Zeit seine zweite Erscheinung auf Erden endlich fühlbarer lassen zu werden würdigt. Ich ... berichte in aller Kürze ..., wie das heilige Werk hier in meiner näheren Umgebung sich gestaltet. In den achtziger Jahren fanden die Swedenborgischen Schriften nach der Vorhersagung ihres erleuchteten Verfassers überall reißenden Abgang; daher vermute ich, daß die Neue Kirche in Deutschland viele Tausend Anhänger zählt, obgleich diese, soviel mir bekannt, sich noch nirgends, wie in dem beglückten England, zu einer geschlossenen Gesellschaft konstituiert haben" (v.O.-B., S.297f.).

Der folgende Briefabschnitt aus dem gleichen Brief, bei v.Oppeln-Broni-kowski ausgelassen und an dieser Stelle nach der Plettenberger Quelle ausführlicher zu zitieren, ist hier für unseren Zusammenhang höchst interessant:

"Mit vieler Mühe u. dreifachen Kosten bin ich vor u. nach in den Besitz folgender unschätzbaren Bücher gelangt, vielleicht die einzigen, welche von der ersten Auflage noch übrig geblieben.:

1. Prodromus Philosophiae rationcinantis de Infinito et causa finali creationis: de quae etc. Dresdae et Lipsiae 1794 / 2. Von den Erdkörpern der Planeten etc. Anspach. 1771 / 3. Tractat von der Verbindung der Seele mit dem Körper, welche etc. Frankft M. Lipsiae 1776. / 4. Vom Himmel, von der Geisterwelt, von der Hölle etc. ohne Druckort 1784 / 5. La sagesse angélique sur l’amour Divin et la sagesse Divin etc. Tour I. II. ohne Dr. 1786.[ ] / 6. Plan d’un Journal Novi-Jerusalémite enthaltend: Traité de la vie Lond. 1787 / 7. Doctrine de la nouvelle Jerusalem touchant le Seigneur. London 1787 / 8. Du dernier jugement et de la Babylone détruite etc. London 1787. / 9. Contimation du dernier jugement et du monde spirituel. London 1787. 1699 / 10. Vom Neuen Jerusalem, dessen sinnliches Leben. ohne Druckort 1787. / 11. Em. Swedenborg’s theol. Werke oder dessen Lehre von etc. Auszug aus seinen sämmtl. Schriften. Leipzig 1789. / 12. Die ganze Theologie der Neuen Kirche von etc.nebst den Anfängen derselben, II.Basel 1795. / 13. Nunc perrmissum est! Coup. d’ Oeil Sur la doctrine de la nouvelle église chrétienne, ou le Swedenborgianisme. Ouvrage posthume de Henry de Bülow. Philadelphia 1809.

Außer diesem besitzt unser Bruder, der hiesige Pfarrer Strauß sen., ein ehrwürdiger Greis von beinahe 70 Jhr. noch:

14. 8 Bände arcana coelestia, nebst Index von 1749 bis 1779. / 15. Apocalypsis revelata, Amsterdam 1766. / 16. Delitiae sapientiae ac amore conjugali. Amsterdam 1768. / 17. De nova Hierosolyma et ejus doctrina coelesti etc. London 1758. / 18. Summaria expositio doctrinae novae ecclesiae etc. Amsterdam 1769. / 19. Doctrina vitae pro nova Hierosolyma ex preceptis decalogi. Amstd. 1763. / 20. Doctrina novae Hierosolymae de scriptura sacra. Amsterdam 1769. / 21. Doctrina novae Hierosol. de fide. Amsterdam 1769. / 22. De ultimo judicio et de Babylonia Destructa. London 1758. / 23. contiunatio de ultimo judicio. London 1763. ...

[Ab hier auch: Lülff, S.154 f.:] Mehre meiner Geistesbrüder sind auf das Bekenntniß der neuen Lehre bereits selig verstorben. Von den noch lebenden nenne ich, außer dem Pfarrer Abraham Strauß, meinen fünf älteren Kindern, noch folgende mit hoher Achtung als Mitglieder:

1. Der Hofrath Dr. Medicinae, Pfarrer Bährens in Schwerte (2 Meilen v. hier) ein seltener Geist, der in einem unübertrefflichen Werke über den Magnetismus[ ] sich als Swedenborgs Lobredner hat vernehmen lassen. An ihm wird die neue Kirche eine mächtige Stütze haben. Seine Rede ist gewaltig u. sein Wandel der Lehre entsprechend. Sobald die bösen Wege es erlauben, will ich zu ihm, des Herren Ruf ihm kundzuthun, ihn zu thäthiger Mitwirkung aufzufordern; / 2. einen hiesigen Bürger namens Peter Vollmann[ ] /3.den Geometer Burghardt [ ] u./ 4. den Kaufmann Joh. Casp. Hellmann[ ] aus Altena (1 Meile von hier) [ Ende des Zitats in: Lülff, S.155, aber genau von hier ab wird in: v.O.-B., S.298 weiterzitiert, ohne daß dort der genaue Zusammenhang berücksichtigt wird:] Jeder von uns wirkte bisher nach Maßgabe der ihm von Herrn verliehenen Kräfte, für sich insbesondere durch verdeckte Lehre [ !] und stillen Wandel ohne gegenseitige förmliche Mitteilung. - Zu Elberfeld, wo das Werkchen ‘Coup d’oeil sur la doctrine de la nouvelle église chrétienne ou le Swedenborgianisme’ (Philadelphia 1809) [ das Müllensiefen besaß: s.o., Nr.13] unter den Gebildeten seinerzeit großes Aufsehen erregte.. dürften leicht mehrere Anhänger Swedenborgs erfunden werden. Es ... wimmelt daselbst von gutmütigen Secten aller Art, die alle nach Wahrheit dürsten, aber in selbstgemachten löcherichten Brunnen keine Befriedigung finden" , also Swedenborgs lebendiges Wasser brauchen (Zitat nach der "Familien-Chronik").

Von den in diesem Brief von 1817 nach Rotterdam und London gemeldeten ‘verdeckt’ lehrenden Swedenborg-Anhängern der Grafschaft Mark Theologen ist hier (neben dem mit Müllensiefen verbundenen ‘Erz-Swedenborgianer’ Johann Abraham Strauß, dem wir unten einen eigenen Abschnitt widmen) besonders der bedeutende, bis heute geheimnisumwitterte Pfarrer, Arzt und Universalwissenschaftler Hofrat Friedrich Bährens (1765-1833) hervorzuheben, der ‘große Sohn’ der Stadt Schwerte, dessen Lebenswerk, das z.Zt. in der Ruhrstadt von Gerhard Hallen erforscht wird, eine auffällige ‘Geistesverwandtschaft’ mit dem Denken Swedenborgs aufweist. Müllensiefens Selbstbiographie hebt des öfteren hervor, daß der Iserlohner mit Bährens brüderlich bzw. bruderschaftlich verbunden war und daß Landrat und Hofrat gerade auch im Blick auf die Heilkunst, im Bemühen um eine ‘alternative, ganzheitliche Medizin’, miteinander harmonierten.

Diese ‘verdeckt’ lehrenden Gesinnungsgenossen der Grafschaft Mark aber kamen bald im Blick auf ihre Swedenborg-Jüngerschaft unverhofft international ans Licht der Öffentlichkeit in einem ‘Outing’ eigener Art. 1818, im Jahr von Müllensiefens Amtsantritt als Landrat in Iserlohn, wurde ein Auszug dieses im November 1817 geschriebenen Briefes in englischer Sprache im ‘Report Nr.9’ der Londoner Swedenborgianer-Gesellschaft veröffentlicht. Müllensiefen schildert in seiner Lebensbeschreibung, wie dieser denkwürdige Brief von 1817 über den Report Nr. 9 nach Tübingen in Tafels Hände kam, was diesen veranlaßte, am 19.12.1825 einen Brief nach Iserlohn (abgedruckt bei: v.O.-B., S.300f.) zu schreiben. Der Tübinger Bibliothekar beschrieb darin seine in letzter Zeit zustandegebrachten verlegerischen Aktivitäten und auch die Schwierigkeiten in Blick auf Swedenborg-Editionen (königliches Publizierverbot für den Universitätsbibliothekar, der aus diesen Unbill-Gründen sein Amt aufzugeben trachtete) und teilte auch mit, daß er zur Zeit für seine (durch herausgebrachte Swedenborg-Bücher entstandenen) Schulden "ungefähr 200 Fl. Zins jährlich zahlen" (v.O.-B., S.301) müsse und dringend Geld brauche, um aus dieser Misere herauszukommen, wozu auch Müllensiefen und die Märker aus der Grafschaft bitte mithelfen möchten: "Indem ich Sie nun nochmals angelegentlichst bitte, nach Kräften mitzuwirken, und Gegenwärtiges Herrn Pastor Strauß, Dr.Bährens, Peter Vollmann, Hr. Burghardt, Johann Caspar Hollmann [ lies nach der "Familien-Chronik": Hellmann] , wenn sie noch leben, gefälligst mitzuteilen und herzlichst zu grüßen, beharre ich hochachtungsvoll Ihr ergebenster Diener und Freund Dr. Imm. Tafel" (v.O.-B., S.301).

Seit diesem Brief vom Dezember 1825, dessen wahrhaft merkwürdige Vorgeschichte von November 1817 an die Etappen Iserlohn/Rotterdam/London/Tübingen umgreift, so schreibt der Landrat, "bin ich nun unausgesetzt mit Tafel in Briefwechsel gewesen" (v.O.-B., S.299) , und in einem mit "Iserlohn, den 4. Mai 1826" datierten Antwortbrief (ganz abgedruckt in: v.O.-B., S.301-303) teilt der Landrat dem Tübinger mit, daß zwar "Hollmann [ Hellmann!] und Burghardt bereits in dem Herrn entschlafen" (v.O.-B., S.302) seien, daß aber die anderen in der Grafschaft Mark sich als Gönner stark machen wollten:

"Bährens bezeigte sich zu einem jährlichen Beitrag geneigt, ebenso die neuen Brüder, Prediger Dr. Hüls[ e] mann[ ] zu Elsey bei Limburg und der Superintendent Dr. Rauschenb[usch] zu Altena bei Iserlohn. Alle jedoch ohne Verpflichtung durch Unterschrift, weil einiges amtliche Bedenken dabei obwaltet. ... Damit Sie aber auch wirklich Beiträge nahmhaft zu machen haben, übersende ich hierbei von unserm ehrwürdigen Bruder Strauß unter brüderlicher Begrüßung 10 Taler. Ich selber lege dazu 10 Taler, Summa 20 Taler in Königl. Kassenanweisung, wofür Sie bei jedem Bankier oder in Frankfurt am Main pro Taler 25 Fl. Reichswährung beziehen können. Dies Scherflein, das der Herr segnen wolle, sei Ihnen von Strauß und mir jährlich zugesagt, solange es dem Herrn gefallen wird, unser Leben zu fristen. (Str. zählt bereits 76, ich 60 Jahre). Wir geben es beide nicht von unserm Überfluß. In meiner früheren kaufmännischen Laufbahn war ich zu ehrlich, um reich werden zu können. ... Mein Sohn Theodor, ein eifriger Anhänger der Neuen Kirche, ist im Begriff, mit meinem ältesten Sohne Gustav bei Witten a.d. Ruhr eine Glashütte anzulegen. Sobald diese neue Fabrik nur eben Ausbeute liefert, werden auch meine Söhne mit Beihilfen hinzutreten, vielleicht auch noch andere, die zu gewinnen ich mit dem ehrwürdigen Veteran Strauß dieser Tage durch einen auf sicheren Ausgang berechneten Plan verabredet habe. Meinen jüngsten Sohn Julius, einen fünfzehnjährigen Jüngling mit seltenen Talenten ..., habe ich dem Studium der Theologie, d.h. der Neuen Kirche, geweiht[ ] . ... Sie werden, so der Herr will, seine Bekanntschaft machen" (v.O.-B., S.302). Aus diesem seinem wichtigen ersten Brief an Immanuel Tafel läßt Müllensiefen auch erkennen, daß der obenn genannte Hofrat Bährens genauestens über Tafels Tübinger Schicksal informiert ist: "Der Hofrat Bährens ... meint, Sie würden wohltun, Ihre Amt als Universitätsbibliothekar vorderhand noch beizubehalten" (v.O.-B., S.300), und auch eine Aufforderung, mit Bährens wie mit den Beiden andern Theologen in Briefwechsel zu treten (vgl. ebd., S.301) enthält dieser Brief, den Müllensiefen mit dem bezeichnenden ‘geistlichen Ausblick’ schließt "Die Neue Kirche des Herrn steht fest gegründet, und die Pforten der Hölle werden Sie nicht überwinden[ ] . Wer diese himmlische Lehre tut, wird bald innewerden, daß sie von Gott ist. Darum nur mutig fortgefahren, mein teurer Bruder, aber mit Vorsicht! Wir indessen beten"
(v.O.-B., S.303).

In der Folge blieb es nicht bei bloßem Briefkontakt mit Tafel. Wie ein Iserlohn-Besuch Tafels für den Tübinger erhebliche Folgen hatte, das wird in Müllensiefens Lebensbeschreibung besonders schön wie folgt zusammengefaßt:

"So setzten wir unsern Briefwechsel fort, bis Tafel uns besuchte. Seine Ankunft, spät am Abend, war mir wie das Erscheinen eines Friedensboten des Allerhöchsten. Von einem wundersamen religiösen Gefühl durchschauert, vermochte ich kaum, ein Wort hervorzubringen. Am folgenden Morgen grüßten wir die Brüder und reisten dann nach Dortmund und Crengeldanz, wo ich ihn meinen Kindern vorstellte. Beim Abschied von Iserlohn, wo ich, von Nahrungssorgen ungewöhnlich hart gedrückt, der heiligen Sache nur ein Geringes zum Opfer bringen konnte, schien Tafel sehr bewegt, im inneren Kampfe mit sich selbst. Ich ... fragte ihn, ob er noch etwas auf dem Herzen habe. Er verneinte es nicht ohne sichtbaren Zwang, aber seine nähere schriftliche Antwort aus Tübingen löste das Rätsel. Er bat um die Hand meiner Tochter Minna! Sie ward am 25. August 1832 die Seinige, im Sinne wahrer ehelicher Liebe, und heute, wo ich dies schreibe (26. November 1839) erfreuen bereits drei schöne, hoffnungsvolle Kinder die beglückten Eltern" (v..O.-B, S.303).

An diesem 25.8.1832 wurden die beiden übrigens in der Obersten Stadtkirche Iserlohn durch Pfarrer Florschütz getraut, wie aus dem dortigen Kirchenbuch hervorgeht. Der damalige Bräutigam veröffentlichte 1841 die Bemerkung, daß bei der Feier auch J.A.Strauß, der Pastor der Bauernkirche, anwesend war und daß das denkwürdigerweise das letzte Mal war, daß er diesen persönlich.sah.

Zwei Wochen nach der Hochzeit schrieb der Landrat am 7.9.1834 einen Brief (Lülff, S.165-168) an die preußische Prinzessin Marianne nach Schloß Fischbach in Schlesien, die kurz zuvor bei einem Iserlohn-Besuch einem jungen Mädchen begegnet war, das mit fünf andern zusammen bei diesem Besuch eine repräsentative Rolle übernommen hatte und dafür später - wenn auch in Abwesenheit - ein goldenes Kreuz von der Prinzessin erhalten hatte. In diesem Brief liest man:

"Das eine Kreuz habe ich, höchstem Befehle gemäß, derjenigen Jungfrau übergeben, welche der hohen Gnade gewürdigt war, im Beistande von 5 andern Jungfrauen Ew. K. Hoheit einige hiesige Fabrikate auf einem hier gefertigten Schenkteller mit einer kurzen Anrede ehrerbietigst zu präsentieren, und diese Jungfrau war meine Tochter Minna, nunmehrige Gattin des Königl. Württemb. Universitäts=Bibliothekars Dr. Immanuel Tafel zu Tübingen. ... Was den Vater ... vollendst beruhigt, ist eine Rückerinnerung des zum Besuch hier gewesenen Königl. Hofpredigers Strauß[ ] , daß Ew. K. Hoheit sogar die Gnade gehabt hätten, des Landrats Tochter ihm besonders zu nennen" (Lülff, S.165).

Aber nicht nur im schlesischen Schloß wußte man von der Verbindung Tafels mit Minna, sondern auch im Süden, im württembergischen Weinsberg, erfuhr eine bekannte Persönlichkeit davon. Es war kein Geringerer als Justinus Kerner (1786-1862), der Interna dieser Liebesgeschichte zu lesen bekam. In diesem Schreiben ist es reizvoll, die ganze Geschichte aus der Optik Immanuel Tafels betrachten zu können. Brieflich teilte dieser am 20.3.1834 Näheres über seine in die Ehe gemündete Liebesverbindung dem mit ihm in recht engem Kontakt stehenden Justinus Kerner mit:

"Seitdem ich Sie das letzte Mahl gesehen, hat sich bei mir vieles geändert, und schon lange wünschte ich es Ihnen mitzutheilen ... Als ich Sie verließ, war ich schon mehr gebunden, als ich selbst wußte. An Ostern 1832. hatte sich nämlich zwischen d(er) jüngsten, 22jährigen Tochter des Preuß. Landraths Müllensiefen in Iserlohn, bei dem ich auf seine Einladung (wir hatten nämlich seit 1825 correspondirt) wohnte, bloß ein freundschaftliches Verhältniß gebildet; sie hatte mir ein Stammblättchen gegeben, und mir eines geschrieben; beim Abschied sah ich aber schon, daß ich ihr nicht ganz gleichgültig sei; was mich bestimmte, schon auf der Reise ihr einen freundschaftlichen Brief zu schreiben, und als ich nach Hause kam, fand ich denselben schon ... erwidert... Ich antwortete sogleich, und legte die Sache ganz in die Hände ihres Vaters, dem ich meine Lage mit nichts weniger als reizenden Farben schrieb. Am 20. Jun. erhielt ich von beiden die Einwilligung und das Jawort, und am 25. Aug. 32. waren wir getraut. Unsere Absicht war auf der Hieher-Reise Sie zu besuchen, auch war in Heidelberg mit dem Kutscher accordirt, daß er uns nach Weinsberg führe, allein als wir in Heilbronn ankamen, war es zu spät ... Auch nachher hatten wir öfter im Sinne, die Reise zu Ihnen zu machen, es ward aber stets vereitelt, und jetzt ist meine ... Frau ...Wöchnerin mit einem gesunden und kräftigen Mädchen; daher ich wohl Tübingen nicht verlassen werde, zumahl bei meinen vielen Arbeiten"

1832 war das enge geistige Band zwischen den glühenden Swedenborg-Verehrern Tafel und Müllensiefen mit der Hochzeit (wohl zu beider Wohlgefallen und Vorteil) zur familiären Verbindung geworden. Es war für Tafel und den Swedenborgianismus in Deutschland ‘eine gute Partie’! In unserer Darstellung klang ja auch implizit und explizit an, daß die Müllensiefen-Bekanntschaft für Tafel und seine Editionen auch finanziell durchaus wichtig wurde. ein Aspekt, den wir unten zur Spätzeit Müllensiefens und zum väterlichen Erbe, das in Sachen Swedenborg der Sohn Theodor weiterführte, noch weiterzuverfolgen haben.

Nachdem der vorangegangene Abschnitt aus dem Zeitraum von 50 Jahren (1782-1832) die entscheidenden biographischen Grundzüge der Swedenborg-Jüngerschaft Peter Eberhard Müllensiefens vorstellte, geht es im 3. und 4. Abschnitt nun um Präzisierungen. Im 3. Abschnitt ist weiterführend zu zeigen, daß die entstandene Iserlohn-Tübinger Verbindung Müllensiefen/Tafel einen für den Swedenborgianismus in der Mark sehr wichtigen Dritten mitumfaßte, nämlich den als Swedenborgianer schon genannten Johann Abraham Strauß in Iserlohn. Im 4., abschließenden Abschnitt dann ist als Kurzausblick einzugehen auf Müllensiefens Crengeldanzer Spätzeit, wobei (neben theologischen Aspekten seines Swedenborgianismus) das finanzielle ‘Sponsoring’ der Neuen Kirche durch ihn und den Sohn Theodor noch einmal thematisiert wird.

3. J.A. Strauß, das Iserlohner "Pfarroriginal", als Bundesgenosse der Swedenborgianer I. Tafel und P.E. Müllensiefen

Anders als in Württemberg gab es unter den Pfarrern und Theologen der Grafschaft Mark im vorigen Jahrhundert nicht viele ‘Originale’ (ein Manko an Originalität, das im gleichen Gebiet heute noch zu beklagen ist). Doch Hofrat Bährens, etwa, der Pfarrer an der Schwerter St. Viktor-Kirche und Swedenborg nahestehende Gelehrte, war damals so ein Original. Ähnlich originell und ungewöhnlich (wenn auch theologisch ‘auf einer etwas anderen Schiene) war zu gleicher Zeit an der Iserlohner Bauernkirche sein erwecklich ausgerichteter Kollege Strauß, dessen `verdecktes’ Wirken im Sinne der Neuen Kirche hier näher zu beschreiben ist. Dieser Johann Abraham Strauß (1755-1836), dem Emil Frommel in seinem viel gelesenen Strauß-Lebensbil ein Denkmal setzte, war übrigens der Vater des oben schon genannten bekannten preußischen Oberhofpredigers Gerhard Friedrich Abraham Strauß (1786-1863); letzterer machte seinen Vater am preußischen Königshof zu einer bekannten Größe, was zu Besuchen von Mitgliedern der königlichen Familie in Iserlohn führte.

Das von Frommel sog. "Pfarroriginal" Strauß stand als Herrnhuter dem Pietismus und der sich herausbildenden Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert nahe, und bei der Lektüre seiner Lebensbeschreibung entsteht der Eindruck, daß man einen kernig-nüchternen märkischen Bauernpfarrer vor sich hat, der die Frommen in seiner ‘Kirchspielgemeinde’ nachhaltig förderte und dem die ‘Er-weckung’ der ihm Anvertrauten das geistliche Herzensanliegen war. In der Tat sind von Strauß aus auch erweckliche Prägungen ausgegangen, die im damaligen Gebiet der Kirchspielgemeinde heute noch spürbare Nachwirkungen haben. Dabei hat aber nicht nur Strauß selbst gewirkt, sondern in erheblichem Maße auch Frommels harmonisierte Version und Lesart des Lebens dieses Pastors im Bauernkittel.

Bei der genauen Lektüre des Vorworts zum Frommelschen Büchlein, in dem auf die ‘Überlieferungsgeschichte’ der verwerteten Strauß-Aufzeichnungen eingegangen wird, die Straußens vormaliger Hilfsprediger, der auch als Erbauungsschriftsteller bekanntgewordene K.L.Josephson, an Frommel weiterleitete, bekommt man schon den Eindruck, daß bestimmte Aspekte des Lebens von Strauß (nach dessen Wunsch) bewußt nicht allgemein bekannt sein sollten. Unsere starke Vermutung geht dahin, daß das Motiv davon die Geheimhaltung der Swedenborg-Begeisterung des Pfarrers Strauß ist, was dann. Josephson und Frommel zu der ‘geglätteten’ Version der Lebensbeschreibung führte, in der ganz viel von der Brüdergemeine, aber nicht ein Wort und kaum eine Andeutung von Swedenborg und der Neuen Kirche vorkommt.

Umso genauer war z.B der württembergischen Führer und Hauptapologet der Bewegung der Neuen Kirche, Immanuel Tafel, über den Swedenborgianismus von Strauß informiert. Schon in seinem o.g. wichtigen ersten Brief nach Iserlohn im Dezember 1825 hatte sich Tafel bei seinem späteren Schwiegervater mit dem Satz einführen können: "Daß meine unternommene Übersetzung der Swedenborgischen Werke bei Ihnen bekannt ist, schließe ich daraus, daß der verehrungswürdige Pastor Strauß mich durch den Missionar Bezuer vor ungefähr einem Jahr grüßen ließ" (v.O.-B., S.300).

Sehr wohl also wußte Tafel, noch bevor er Müllensiefen wirklich kannte, von dem Iserlohner Pfarrer an der Bauernkirche. Der immerhin hatte sich seine Swedenborg-Begeisterung durchaus etwas kosten lassen, wobei nicht nur an die oben erwähnten 10 Taler pro Jahr, die an Tafel gingen, zu denken ist, sondern vor allem auch daran, daß er geradezu ein Vermögen ausgegeben haben mußte beim Erwerb all der Swedenborgiana, die er im lateinischen Urtext besaß und die auf Müllensiefens ganannter brieflicher Liste vom November 1817 verzeichnet sind.

Tafel nun ließ den Iserlohner Pfarrer Strauß in seinem Buch "Zur Geschichte der Neuen Kirche" auf elf Druckseiten breit zur Wort kommen. Das Iserlohner ‘Pfarroriginal’ wurde für die Anhänger der Neuen Kirche darin so charakterisiert: "Pfarrer Strauß hatte etwas Kindliches, Originelles, Patriarchalisches, und stand in der Nähe und Ferne in großer Achtung, daher er auch stets viele Besuche von Fremden erhielt. Auch der letztverstorbenene König achtete und liebte ihn, und ließ ihn, wenn er durch Iserlohn fuhr, jedes Mal an seinen Wagen kommen" (S:164f.).

Das vom Iserlohner Strauß gegebene "Zeugniß für die Göttlichkeit der h. Schrift", das wie Tafel extra betont, der Position des württembergischen Namensvetters David Friedrich Strauß diametral gegenübersteht (S.165), ist nach -Tafel solch eine eine ausführliche Zitation wert. Hier ist - in loser Aneinanderreihung - Einiges daraus wiederzugeben, damit die Prägung Straußens theologische Prägung durch Swedenborg und seine Beziehung zu Tafel und zur Neuen Kirche deutlicher wird:

"Seit 39 J. war Sw. Doctr. Nov. Eccl. Jerus. meines Herzens Eldorado", bekennt der "Strauß, aet.73" am 10.4.1827; man käme dann als Anfang etwa auf das Jahr 1788 - sechs Jahre, nachdem der junge Müllensiefen in Altena durch Mertens auf Swedenborg stieß, und im gleichen Brief wird die Bedeutung Swedenborgs so beschrieben: das sei "neues Licht über den erhabenen Geist des Urchristenthums", "der einzige haltbare Vereinigungspunkt für alle entzweiten Religionsparteien" (Zitate S.166f.). Euphorisch heißt es am 24.5.1829 im Brief am Tafel: "Immanuel!!! das Losungswort der N.K. durch Immanuel Sw. der Welt bekannt geworden, - durch Immanuel Ta. weiter aufgetischt. Bene! nil supra. - Wir beten täglich für Sie, - ut Deus tecum sit" (S.166). Am 9.10.1829 schreibt Strauß an Tafel, er "lebe mehr in Tübingen ...als hier" und habe "seit 28 Jahr ... auf einen solchen Mann" wie Tafel "so sehnlich gewartet" und teilt auch mit, daß die Kinder von "Landrath M." diesem "Freude in geistiger und weltlicher Hinsicht" machen (S.167) . Im Brief am 21.2.1830 heißt es bei Strauß "Sw.: der erwartete Hercul., der die Hydra der sichtbaren Kirche, d.i. die vielköpfigen Ansichten zur Einsicht gebracht", und der Verehrte wird beschrieben: als der, der "allein per misericord. Dom, Organismus in sein religiöses Werk brachte - ein genauerer Denker ohne Dünkel aus göttlicher Offenbarung. - Introite, et huic insunt sciendi fundamenti" (S.169). Im Brief vom 10.10.1830 gibt Strauß wieder das Anfangsfdatum seines Wegs mit Swedenborg an,etwas vom genannten abweichend: "seit 1786 war es die Perle, für die ich alles fahren ließ" (S.169) und: "Am 26. Dec. zähle ich elf mahl 7 Lebensjahre, und ich habe davon 45 freudige und fröhliche Jahre der Lehre der N. Kirche ... zu verdanken (S.170). Auf der gleichen Seite ist zur Swedenborg-Lektüre hinzugefügt: "Opera Omnia Sw. habe ich 10 mahl durchstudirt, und excerpirt". Bei all dem geht es aus Sicht von Strauß allein um die Bibel, die sich für ihn in Swedenborg erschlossen hat: "In der Doctrin der N.K. ist mir die höchste Aufgabe gelöst in der Schrifterklärung der Uebertragung des sinnlichen Ev. in das geistige" (Brief an Tafel vom 20.7.1832: S. 171). Auf den letzten drei Seiten der Darstellung des Swedenborgianismus in Iserlohn fügt Tafel in seine "Geschichte der Neuen Kirche" sogar einen langen wörtlich wiedergegebenen Lebensabriß des Lebens von J.A.Strauß bei, wie er drei Tage nach Straußens Tod am 5. Juni in der ‘Elberfelder Zeitung’ veröffentlicht worden war (S.173-175; mit der nennenswerten Bemerkung: "Er war bis an sein Ende beschäftigt, studirte fortwährend,...und in seiner Bibliothek war allmählich wieder eine kleinere Bibliothek von

erpten entstanden", S.175 - Exzerpte des Bibel- und Swedenborgforschers Johann Abraham Strauß...

Viel vorsichtiger aber ging Strauß in seinem Wirken in Iserlohn mit dem Lieblingsthema Swedenborg um. Die Darstellung Müllensiefens, wo dieser in der Autobiographie auf seine Beziehung zu Strauß zu sprechen kommt, läßt das gut erkennen. Einiges Charakteristische in dieser Richtung haben wir hier zu nennen:

Die von Müllensiefen erzählte Geschichte, wie er als Landrat Straußens baufällig gewordene Bauernkirche vor dem Abbruch rettete (Lülf, S.157-160), ist, wie Müllensiefen sagt, ein "Vorfall, für die neusalemitische Kirchengeschichte nicht unwichtig" und ein Beispiel dafür. wie er als Landrat alles ausnutzte, um aus Problemen "den möglichsten Nutzen für die Neue Kirche zu ziehen" (Lülff, S.157). Zunächst gelang es dem Landrat, die königliche Regierung, durch geschicktes Argumentieren zu erweichen, daß der 1830 verfügte Abrißplan revidiert wurde (vgl. Lülff, S.158f.). Müllensiefen kommentiert seinen Erfolg bezeichnenderweise so: "Groß war mein Triumph, eine Kirche gerettet zu sehen, die - ehrwürdig schon durch ihr Alter - nebenbei auch noch eine lange Reihe von Jahren dem Prediger Strauß gedient hatte, des Herrn Wort im Geiste und Sinne der gereinigten Lehre zu verkündigen, ohne je deren Quelle zu nennen" (Lülff, S.159).

Das also gehörte zum Umgang Straußens mit der ‘Wahrheit’ seiner Lieblingslehre: daß er ein Herrnhuter war, durfte jeder wissen (wie es dann ja auch Frommel publik machte), daß er aber aus angeblich noch ‘tieferen Quellen’ schöpfte und ununterbrochen Swedenborg studierte, das wußte in Iserlohn kaum jemand, höchstens besonders Eingeweihte - wie eben dieser besonders Vertraute Landrat Müllensiefen, der Schwiegervater des verehrten Tafel aus Tübingen. Umgekehrt wußten es seit 1818 dank Müllensiefen über deutsche Grenzen hinaus alle interessierten Leser des genannten Londoner Swedenborgianer-Publi-kationsorgans ‘Report Nr. 9’, und die Deutschen im Umkreis der Neuen Kirche bekamen es seit 1841 durch Tafels "Zur Geschichte der Neuen Kirche" zu wissen...

Gewissermaßen war also für Müllensiefen die Bauernkirche, die er rettete, durch diesen dort predigenden Neukirchler ein besonders ‘geheiligter Ort’. Und auch zur dann fälligen Geldbeschaffung wollte er sich neukirchlicher Beziehungen bedienen, denn der ihn aufsuchende (vgl. Lülff, S.160) Superintendent Hülsemann, oben schon genannt, war - das wußte der Landrat - "im Besitz einer Tafelschen Druckschrift" und mutmaßlich ein "heimliche[r] Anhänger der gereinigten Lehre" war (Lülff, S.157), so daß man ihm getrost den Plan unterbreiten konnte, den Müllensiefen in wörtlicher Rede so wiedergibt: "Ich wüßte wohl Rat, nach England müssen wir uns wenden! Dort ist der nötige Bedarf leicht zu beschaffen", wozu er, Müllensiefen, seine "vielvermögende Empfehlung an die Neu-Salemitischen Gemeinden zu London etc. benutzen wollte", und nach längerem gemeinsamen Planen in dieser Richtung ist aus "unserm schönen Plan, leider! nichts geworden" (Zitate: Lülff, S.160). Das Geld zur Renovierung von Straußens Bauernkirche war anderweitig zu beschaffen. Bei dem Unternehmen muß sich auch Hülsemann von dem gerissenen Fuchs Müllensiefen gefoppt gefühlt haben. Vielleicht fürchtete der Superintendent das ‘Ge-outet’-Werden. Am Ende jedenfalls konstatierte der Landrat, "daß der Herr Dr. Hülsemann in der gereinigten Lehre der Neuen Kirche wenig Fortschritte gemacht zu haben scheint, weil er seit jener Zeit auch kein Wort darüber hat vernehmen lassen" (Lülff, S.160).

Daß hingegen der Landrat mit dem über Swedenborg verbrüderter Bauernkirchen-Pfarrer Strauß ein gut zusammenarbeitendes Duo bildete, kommt in Frommels Lebensbeschreibung auch darin zum Ausdruck, daß gegen Ende des Lebens von Strauß Müllensiefen zu den ganz wenigen Auserwählten gehört, die am 17.6.1833 bei Straußens Goldenener Hochzeit anwesend waren: "Nur wenig Freunde, unter ihnen der Landrat Müllensiefen, ein Diasporabruder Schwarz aus Neuwied und der Adjunkt waren zugegen", und aus der Familie war aus "Berlin ... der Sohn, der Oberhofprediger, mit seinem Sohn, dem jetzigen Hofprediger. gekommen". Der Landrat gehörte also soz. zum erweiterten Familienkreis.

Bei der ‘Amtsjubelfeier’, dem 50jährigen Pfarrerjubiläum von Strauß am 14.3.1832 allerdings war Müllensiefen nicht im Iserlohner Pfarrhaus, da ihn "die Pflicht nach Deilinghofen zu einer wichtigen Bauverhandlung" (Lülff, S.157) gerufen hatte (an den Ort, dem Strauß durch seinen väterlichen Freund Dümpelmann entscheidende Prägung verdankte). Abschließend sei aus dem Glückwunschschreiben des Landrats aus diesem Anlaß der (für die sie verbindende Swedenborg-Bruderschaft) charakteristische Absatz zitiert: "Mit dem Ausdruck eines überwallenden tiefbewegten Herzens danke ich Ihnen für alle Tatbeweise treuer Bruderliebe, deren ich mich beinahe 32 Jahre in Ihrem Hause erfreuen durfte. Ihr lehrreicher Umgang, mit Beispiel belegt, hat nicht wenig dazu beigetragen, ... die Liebtätigkeit in mir vorherrschend zu machen. Wollen wir dann ferner Hand in Hand dem Ziel entgegengehen" (Lülff, S.156).

4. Kurzausblick auf P.E.Müllensiefens Crengeldanzer Spätzeit und auf Th.Müllensiefens Weiterführung des im Blick auf Swedenborg Ererbten

Vieles wäre zur von Swedenborg geprägten Denkungsart beim älteren Müllensiefen noch anzuführen, z.B. wie seine Heiltätigkeit in der Crengeldanzer Zeit in diesen Zusammenhang gehört oder daß er selbst außergewöhnliche Erfahrungen hatte und sogar zweimal in einem Gesicht den verehrten Swedenborg im Jenseits erblickte (vgl. v.O.-B., S.312f. und den ganzen Schlußabschnitt S.312-323 sowie andere Stellen der Autobiographie). Dieser ganze für Außenstehende skuril anmutende (und deshalb z.B. bei Lülff weitgehend ausgeblendete) Aspekt seines Lebens war in Wirklickeit von Müllensiefen aus gesehen das Wichtigste.

Seit 1836, dem Ende der Landratszeit, war er in Witten-Crengeldanz eng mit seinen Söhnen Gustav und Theodor zusammen, die dort als Glas-Unternehmer eine aufsehenerregende Karriere machten. In Crengeldanz starb er am 10.4.1847; sein Grab befindet sich nahe dem Haus Crengeldanz und der Fabrik, auf dem bemerkenswerten Müllensiefenschen Privatfriedhof, der noch heute die letzte Ruhestätte derer vom Stamm Müllensiefen ist.

Wie sehr auch noch im Alter Müllensiefen neukirchlich engagiert war, sieht man besonders an dem von ihm verfaßten Büchlein, dessen Titel allein das Wichtigste zusammenfaßt, was es für ihn gab: die Lehre Swedenborgs, die er unter die Leute bringen wollte. So liest man auf dem Titelblatt eines 1846 kurz vor seinem Ende gedruckten Bändchens: "Nunc licet!/ Fortschreitende Offenbarung/ der Dreieinigkeitslehre./ Den/ im Evangelium angedeuteten/ Unmün digen/ umsonst zugedacht/ von dem in dieser gereinigten Bibellehre ergrauten Verfasser/ Peter Eberhard Müllensiefen/ geb. am 7.März 1766/ Königl. Preuß. Landrath a.D.; Neu-Salemit seit 1782, und, als Solcher, Mitglied der Neuen Kirche aller Welttheile; Mit=Director der Märkischen Bibelgesellschaft zu Iser-lohn; Mitglied des literar. Vereins zu Limburg an der Lenne etc. etc./ Tübingen,/ Verlagsexpedition./ 1846."

Über den theologischen Gehalt dieser 48seitigen Schrift kann man getrost knapp hinweggehen; er ist - sicherlich auch aus neukirchlicher Sicht - nicht allzu groß. Nach dem Willen des Verfassers ist es eine im Verfolg von Gottes fortschreitender Offenbarung für die Mitte des 19. Jahrhunderts aktualisierte Apologie des Swedenborgschen Umgangs mit der Trinitätslehre, die im ersten Teil der Arbeit (S.3 -39) mit einem ganzen Arsenal von aneinandergereihten Schriftstellen operiert (unter ihnen, wie es sich für einen rechten Swedenborgianer gehört, kaum eine Paulusstelle), die alle darauf hinauslaufen (sollen), daß Gott ‘monotheistischer zu denken ist’, als es die bisherige Tradition tut und man von da aus, biblisch fundiert in Swedenborgs Sinn, die Christologie neu zu erfassen hat, daß nämlich "vom heiligen Geiste, als dritter Person in der Gottheit, nicht die Rede" sein darf und stattdessen "der Vater im Sohne wie die Seele im Körper" gedacht werden muß, so daß dann "unter dem heiligen Geiste wol nur ... das ausgehende Göttliche" zu fassen ist (S.21), wodurch das, was unter Gott zu verstehen ist, ‘sich aufklärt’ (S.34f.):

"Triumph! Triumph! wir haben auch den verborgenen Gott gefunden, den Jehovah versiegelt hatte (Joh. 6,27.).Er ist nicht jener finstere, frostige, metaphysische Glaubensgott der heutigen Christenheit, noch die historisch merkwürdige Person des Arianismus ... der Nicänischen Kirchenversammlung ...!!! Nein: Er ist der einige und lebendige Gott der Liebe, Jehovah Jesus Christus, in welchem, wie die Seele im Körper, die Dreieinheit in aller Fülle der Gottheit leibhaftig wohnet: der Vater, entsprechend der Seele; der Sohn, entsprechend dem Körper, und der Heilige Geist, entsprechend der Wirksamkeit aus Beiden oder das ausgehende Göttliche"

Interessant sind im zweiten Teil die Nutzanwendungen und Erläuterungen, die Müllensiefen dann in 12 Paragraphen anhängt (S.39-47). In diesen wird (S.40-42) in den §§1-4 die auszuübende Liebe (im Sinne der ‘Lebenslehre’ der Neuen Kirche) als zentral hervorgehoben, und ab §5 wird Müllensiefens Jetztzeit eschatologisch im Rahmen der fortschreitenden Offenbarung begriffen; er "will ... auf die Zeichen der Zeit aufmerksam machen": daß "buchstäblich alles erfolgt ist, was der Herr vorausgesagt hat". Zu den "Zeichen der Zeit, und ... Weltveränderungen" (S.43) kann er da die Erfahrungen seines langen Lebens miteinfließen lassen:

"In meinen jüngeren Jahren dem Welthandel angehörend, braucht man mich nur zu fragen, wohin ich nicht gehandelt habe. Ich antworte kurz: ‘Bloß nach Australien nicht! Man kann sich leicht denken, daß bei meiner vielseitigen Berührung mit den übrigen Welttheilen ich dem Schicksale der Neuen Kirche, in die ich 1782 aufgenommen ward, sorgfältig nachzuspüren mich gedrungen fühlte und durch Kämpfe eigener Art berufen fühlte. - Mit der Bibel in der Hand durchlief ich die Weltgeschichte", und er referiert in einer langen Liste die Naturkatastrophen und wirtschaftlichen und politischen Krisenphänomene der zurückliegenden Zeit, in der "die Neue Kirche verketzert, verhöhnt, verfolgt" (Zitate: S.44), bis in einer Epochenwende Gott "in der Person des kleinen Corsen Napoleon ... der Welt eine neue Gestalt" gab "Seit jener denkwürdigen Periode ist das Dasein und der Einfluß der Neuen Kirche auf Erden merkbar fühlbarer geworden und wird es täglich mehr", was universal zu traumhaften Aussichten auf eine gute neue Zeit berechtigt, bis dahin, daß man die Entfernung bald sogar per Luft überschiffen kann, wie Müllensiefen voraussagte (Zitate: S.45)

In diesem Horizont sieht kurz vor seinem Tod Müllensiefen den Einsatz für Swedenborgsches Schrifttum und dessen Verbreitung; Luthers Werke helfen nicht (S.46); dessen ‘Postille’ "mag zu seiner Zeit viel genützt haben; auf der gegenwärtigen religiösen, moralischen und scientifischen Bildungsstufe könnte sie nur dazu dienen, uns wieder 300 Jahre zurückzuschleudern; und damit kann die Neue Kirche sich eben so wenig einverstanden erklären". Was her muß ist Schriftenmission "im Wege großartiger Austheilung durch Vereine, oder vorerst durch Einzelne nach des Verfassers Beispiel, umsonst" (S.47). In seinem Schlußwort (S.48) gibt der Landrat i.R. dazu Hinweise und Vorschläge, wie Einzelpersonen und Vereine Swedenborgs Erbe fördern können, und er faßt seinen Plan zur organisatorischen Verstärkung der Bewegung der Neuen Kirche so zusammen:

"es tritt ein begüterter Mann auf, oder ein Verein, und läßt auf seine Kosten so viel tausend Exemplare drucken, als seine Geldkräfte es gestatten; so wie beispielsweise jetzt der Verfasser eine Auflage von vielen tausend Exemplaren in deutscher Sprache, seinem geliebten Schwiegersohn, Dr. Joh. Friedr. Immanuel Tafel, Tübingen, zur Verfügung stellt, um diese umsonst auszutheilen" (S.48).

Mit Letzterem ist zutreffend auch die Lebensaufgabe und das Hauptanliegen des ledig gebliebenen zweitältesten Sohnes umschrieben. Dieser Theodor Müllensiefen (1802-1882), bekanntgeworden auch als nicht unbedeutender Politiker und preußischer Abgeordneter, zeigte in Sachen Swedenborg genau das gleiche Engagement wie der Vater. Th.Müllensiefen stellte sein ganzes großes Vermögen weitgehend in den Dienst der Neuen Kirche. Nach der Wittener Glasfabrikantenkarriere zog er 1865 auf den von ihm erworbenen Theodorshof in Rheinfelden/Schweiz (zuletzt dort Ehrenbürger), wo er ab 1865 als führender Swedenborg-Buchhändler und Schriften-Herausgeber der Neuen Kirche Nachfolger des Schwagers Tafel wurde. Mit Mittnacht, Werner u.a. gehörte er zu den führenden Leuten der Neuen Kirche. 1875 wurde der in Iserlohn geborene Landratssohn sogar Präsident der Deutschen neukirchlichen Gesellschaft .

Literaturliste zum Müllensiefen-Aufsatz

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Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945 (= Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Band 4), Bielefeld 1980

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Gerhard Gollwitzer, Art. Swedenborg, Emanuel, in: RGG VI, 3. Auflage, Sp. 535 - 536

Gerhard Gollwitzer, Art. Swedenborgianer, in: RGG VI, 3. Auflage, Sp. 536 - 537

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Friedhelm Groth, Die Apokatastasis panton - das Ziel der Werke Gottes. Bemerkungen zum eschatologischen Heilsuniversalismus bei Friedrich Christoph Oetinger, in: Werner Brändle (Hg.), Wahrnehmungen. Theologische Perspektiven und Zusammenhänge. Studien für Eckhard Lessing zum 50. Geburtstag, Münster 1985, S. 79 - 96

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Peter Eberhard Müllensiefen, Geheime Familien-Chronik oder meine wahrhafte Lebens- und Leidensgeschichte. Auf Ersuchen meines geliebten Julius - Ihm und seinen sechs Geschwistern zum Andenken - am Abend meines Lebens niedergeschrieben, so viel als unter vieler Störung möglich gewesen, am Krengeldanz in den Wintermonaten von 1838/39 und 1839/40

Peter Eberhard Müllensiefen, Nunc licet! Fortschreitende Offenbarung der Dreieinigkeitslehre. Den im Evangelium angedeuteten Unmündigen umsonst zugedacht von dem in dieser gereinigten Bibellehre ergrauten Verfasser, Tübingen 1846

Rolf Oventrop, Er rettete die Bauernkirche vor dem Abbruch. Peter Eberhard Müllensiefen 1766 - 1847. Sein Wirken als Unternehmer und Landrat in Iserlohn, in: Iserlohn. Waldstadtinformationen Kultur., Wirtschaft, Verkehr, Mai 1982, S. 17

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Emanuel Swedenborg, Die Vier Hauptlehren der Neuen Kirche, bezeichnet unter dem Neuen Jerusalem in der Offenbarung Johannis: Die Lehre vom Herrn; Die Lehre von der heiligen Schrift, Die Lebenslehre; die Lehre vom Glauben, Zürich o.J. (Faksimile-Druck der Ausgabe Stuttgart 1876)

Emanuel Swedenborg, Kurze Darstellung der Lehre der Neuen Kirche, welche unter dem Neuen Jerusalem in der Offenbarung verstanden wird. Aus der zu Amsterdam 1769 gedruckten lateinischen Urschrift erstmals wortgetreu übersetzt von Dr. J. F. Immanuel Tafel, Zürich o. J. (Faksimile-Druck der Tafelschen Ausgabe)

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Zur Hundertjahrfeier der Firma Gebr. Müllensiefen, Glasfabrik Crengeldanz, Westfalen 1825 -1925, Witten 1925

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Eberhard Zwink, Gustav Werner und die Neue Kirche. Die Auseinandersetzung mit dem Swedenborgianer Johann Gottlieb Mittnacht. Mit einer Edition des Briefwechsels zwischen Werner und Mittnacht und anderen sowie weiterer neukirchlicher Quellen zu Gustav Werner aus der Sammlung Mittnacht in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Reutlingen 1989 (=Zwink II)

Eberhard Zwink, Gustav Werner und Johann Gottlieb Mittnacht. Eine Auseinandersetzung um die von Emmanuel Swedenborg gelehrte Neue Kirche, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 88 (1988; Festschrift Gerhard Schäfer), S. 402 - 428 (= Zwink III)

Horst Bergmann/Eberhard Zwink (Hg.), Emanuel Swedenborg 1688 - 1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (29. Januar bis 25. März 1988), Stuttgart 1988 (=Zwink IV)