Predigt am 1. und 8. September 2002 (14. und 15. n. Trin.):
In Hüsten/Holzen und eine Woche später in Bredenbruch/Ihmert
über Johannes 5, 1-11


(Es handelt sich im Grundzug um eine ältere Predigt aus Deilinghofen, die zum Sonntag der Diakonie passt und die – weil sie am 1. September ziemlichen Anklang fand – in ähnlicher Form in der hiesigen Nachbargemeinde Ihmert nochmals gehalten wurde)


Gnade sei mit uns und Friede bei Gott unserm Vater
und unserm Herrn Jesus Christus. Amen



Wir hören – durchaus passend zum heutigen Sonntag der Diakonie als Predigttext Johannes 5, 1-11:


Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber zu Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Bethesda. Dort sind fünf Hallen, in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte, die warteten, wann sich das Wasser bewegte. (Denn ein Engel fuhr herab zu seiner Zeit in den Teich und bewegte das Wasser.) Welcher nun zuerst, nachdem das Wasser bewegt war, hineinstieg, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre lang krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: HERR, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und gehe hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund worden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. Er antwortete ihnen: Der mich gesund machte, der sprach zu mir: "Nimm dein Bett und gehe hin!"



Liebe Gemeinde hier in Hüsten (in Ihmert)! Das kennen Sie sicherlich alle: das schöne Kinderspiel mit dem Stühlerücken zu Musik: „Die Reise nach Jerusalem“. Hier ist es kein Spiel, hier ist es wortwörtlich: Die ‚Reise nach Jerusalem'! Die ‚Reise nach Jerusalem', das ist im ganzen Land das Tagesgespräch, das ist Thema Nr. 1 bei allen Frommen in Israel. Das Volk fiebert der religiösen Massenveranstaltung in der Hauptstadt entgegen. Scharenweise ziehen von überall her frohgestimmte Pilger zum Tempel; alles dreht sich um die ‚Reise nach Jerusalem'.

Einer aber kann die Feste nicht so feiern wie sie fallen. Ihm ist nicht nach Festefeiern zumute; er kommt nicht mit. Er kommt nicht mit  - bei der heiteren Hochstimmung der andern, weil er als Behinderter im Abseits der Gesellschaft lebt, ganz am Rande von Jerusalem, seit 38 Jahren schon. Er kommt nicht mit - bei der Heiterkeit der Festefeierer, weil er als Gelähmter nicht mitkommen kann zum Fest. 38 Jahre im Abseits, 38 Jahre im Ghetto der Kranken, Siechen und Ausgezehrten, da vergeht einem der Frohsinn, da vergeht einem das Staunen und Sich-Wundern. (Ich selbst übrigens meine, ein bisschen davon nachfühlen zu können, ging es mir doch auch so als Kind: dass ich in einer fürchterlich schweren Krankheit zwei Jahre lang mich nicht rühren durfte und eingezwängt in einem Gipsbett lag). Und hier erst recht – in Bethesda: Wenn man 38 Jahre lang kaum auf eigenen Füßen stehen kann, dann vergeht einem mit dem Wundern auch das Hoffen auf Wunder.

Gewiss, immer mal wieder hatte er dort an der Heilquelle von Bethesda erlebt, dass so etwas wie ein Wunder passierte, wenn sich das Wasser bewegte und einer der Kranken dort Heilung fand. Durch Engelhand, so deuteten es die Leute, bewegte sich dann das Wasser - aber für ihn selbst bewegt sich gar nichts; für ihn bleibt alles beim Alten, er hat niemanden unter den Kranken und niemanden unter den Gesunden und niemanden unter den Engeln, der ihn zu dem heilkräftigen Wasser in Bad Bethesda hinführen kann. Die Mitleidenden haben kein Mitleid, und die andern auch nicht. Einer der Pilger, die auf der Reise sind nach Jerusalem, spricht ihn an und fragt ihn, den hoffnungslos Hoffenden im Ghetto von Bad Bethesda, nach seiner Hoffnung: Willst du gesund werden?

Dumme Frage eigentlich - und doch: Wollte er es eigentlich noch; hatte er sich nicht schon damit abgefunden, dass sich für ihn nichts mehr bewegt!!? Und dann fasst er für diesen neugierigen Pilger all die Not der 38 Jahre zusammen in dem einen Satz: Ich habe keinen Menschen...

Wir werden aufmerksam. Dieser Satz kommt uns merkwürdig aktuell vor: Ich habe keinen Menschen... Ist das nicht ein Satz, der (meist als unausgesprochener Hilfeschrei) eine der schlimmsten Krankheiten unserer Zeit anzeigt!!? Ich meine Einsamkeit, Depression, Isolierung in den Ghettos des Jahres 2002, wo der Satz regiert: Jeder ist sich selbst der nächste, hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Bei Mitmenschlichkeit und Solidarität der Menschen untereinander ist da Fehlanzeige; stattdessen herrscht brutaler Egoismus: Jeder will zuerst am Wasser sein; was gehen mich die andern an? Kein Kranker in Ghetto und kein Gesunder von draußen denkt an die, die gar nicht auf eigenen Füßen stehen, die nicht mitkommen in unserer angeblich so mündigen Gesellschaft. Die Gesunden denken an das Fest, die Kranken denken an ihre eigene Heilung; den schweigenden Hilfeschrei: „Ich habe keinen Menschen“, den überhören wir, den verdrängen wir, weil er uns zu unangenehm ist.

Da traf ich bei einem Hausbesuch eine alte Frau, die kaum noch auf eigenen Beinen stehen kann. Ihr Mann, der sonst für sie viel von den äußeren Dingen erledigt hatte und der ihr alles bedeutet hatte, ist kürzlich gestorben. Sie wird vor lauter Depression und Alleinsein sehr altersschwach. Und dann immer das Grübeln über das Vergangene in den eigenen vier Wänden, in der ihr die Decke auf den Kopf zu fallen scheint. Diese Frau sagte mir, als ich sie besuchte, genau den Satz: Ich habe keinen Menschen... Einer unter Tausenden von Hilfeschreien alter Leute, die sich vorkommen wie auf dem Abstellgleis, wie im Ghetto.

„Ich habe keinen Menschen“, so sagte der, der nicht mitkommt am Teich, ich habe keinen Menschen, so ertönt es aus vielen Ghettos, aus unzähligen Brennpunkten der Not in unserer Umwelt: Wir haben keine Menschen, die bei euch unsere Sache zu ihrer machen, so kommt ein Hilfeschrei aus den Ländern der Dritten Welt, wo die Lage in den Hungergebieten so ähnlich aussieht wie bei Bethesda: Hoffnungslose, Wütende, Kranke, Ausgezehrte. Auch die kommen nicht mit zum Fest, auch die bleiben liegen im Ghetto der Ohnmacht.

„Ich habe keinen Menschen!“ - ein zum Fürchten aktueller Satz, im Kleinen wie im Großen. Und wie oft sind gerade wir selbst mit solchem unausgesprochenen Hilfeschrei gemeint...

Kehren wir zurück an die Hallen des Teiches. Da sieht es anders aus. Der neugierige Pilger auf der Reise nach Jerusalem, der sieht den, der nicht mitkommt und nicht auf ein Wunder hoffen mag, mit andern Augen an. Ja, der setzt gerade im Ghetto ein Zeichen! Es geschehen noch Zeichen und Wunder: auf eigenen Füßen soll der Mann wieder stehen, so wahr das nicht nur irgendein Pilger ist, sondern der Christus, der Mensch Gottes, ER, der Sohn selbst! Stehe auf, nimm dein Bett und gehe umher! Und der Kranke stand auf, nahm sein Bett und ging umher.
Was war da geschehen? Ist dieser seltsame Pilger, der der Christus sein soll, einer von denen mit übersinnlichen Kräften, so eine Art Zauberer wie damals jener löffelverbiegende Uri Geller, der was veränderte mit Gedankenkraft angeblich ??! Weit gefehlt - es geht da nicht um Sensationen für Boulevardzeitungen, es geht nicht um hintersinnige Spekulationen aus der esoterischen Ecke, es geht um Gott und seine Herrlichkeit! Im Tempel später - so heißt's kurz nach unserm Text - sagt Jesus es: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.

Das wird da drunten am Teich als handgreifliches Sinnbild demonstriert: Jesus setzt Zeichen - Zeichen für Gott: Jemand, der kein Wunder mehr erwartete, darf auf eigenen Füßen stehen! Das wird da anschaulich deutlich, so "handgreiflich", dass die Hände des 38 Jahre lang Kranken wieder greifen und die Füße wieder gehen könne. Nein, das fromme Innenleben steht hier gar nicht so sehr im Vordergrund: Wenn Jesus einem Menschen begegnet, dann wird der ganze Mensch gesund. Die Seele und der Leib und das Zusammenleben mit andern, alles ist da mitgemeint.

Ein modernes Kirchenlied zu unserm Text beginnt so: "Ihr fragt, ist das denn wahr, das einer Kranke heilt am Teich Bethesda?" Und im Kehrreim mündet dieses schöne Lied ein in den Refrain: "Ich sage es, versucht es doch, was damals ging, geht heute noch!" Für mich, liebe Gemeinde, ist das durch eine unvergessliche Erfahrung, die ich vor einiger Zeit machen durfte, eindrücklich verständlich geworden. Ich will es Ihnen knapp schildern.

Ich habe einen gleichaltrigen Bekannten (der heißt Friedhelm mit Vornamen wie ich), den konnte man wirklich zu den Ghetto-Menschen im Abseits rechnen. Krank durch und durch, im übertragenen Sinn ebenso 38 schlimme Jahre lang. Als Heimkind aufgewachsen, wurde er kriminell, knackte Autos, verfiel dem Alkohol, bis er wochenlang wortwörtlich nicht mehr auf eigenen Füßen stehen konnte. Ich half dem viel, aber viel Rückschläge gab es auch. Bei dem Penner ist nichts mehr zu machen, sagten die Leute, der friedhelm, der ist total kaputt. Ich gebe zu, manchmal habe ich das auch gedacht. Lange Zeit verlor ich ihn aus den Augen, bis er eines Samstags freudestrahlend vor der Tür unseres Pfarrhauses stand Ich traute meinen Augen nicht: - völlig verändert, nicht mehr mit aufgedunsenem Gesicht, in sauberer Kleidung!  Und was er dann stundenlang so freudestrahlend und glaubwürdig zu berichten hatte, war noch viel erstaunlicher. Er hatte in Siegen bei einer Jugendgruppe des CVJM Anschluss gefunden vor etwa einem Jahr. Und da war das Wunder geschehen: Zum ersten Mal war ihm richtig und einschneidend klargeworden, was das mit Jesus Christus auf sich hat. Er sagte das in seiner Sprache so: "Ich habe den einzigen richtigen Weg gefunden, den mit Jesus. Der hat an mir ein Wunder getan!" Das klang weder weinerlich noch verschroben oder sentimental, sondern nüchtern und froh! Man merkte: Das war kein Spinner, sondern jemand, der etwas Großes und Wichtiges erlebt hatte. Seit längerer Zeit hatte er eine eigene Wohnung sogar, seit einem dreiviertel Jahr war er verantwortlicher Mitarbeiter in der Jugendgruppe.

Ja, wer sich ernsthaft auf diesen Jesus einlässt, wird Entdeckungen machen, wie dieser Jesus Zeichen setzt bis heute, wie er uns buchstäblich wieder auf die Beine bringt und unsere Zukunft handgreiflich neu macht, wie er uns hilft, dass wir wieder Menschen haben...

Der Kranke dort am Teich ist wieder auf die Beine gebracht. Nimm dein Bett und gehe umher! Doch kaum tut er das, da will man ihn schon in ein neues Ghetto hineinzwängen. In das Ghetto der engstirnigen Gesellschaft, in das Ghetto frommer Festefeierer.

Es ist nämlich Sabbat - und da regierte bei den Juden die strenge Vorschrift: "Du darfst nicht..." "Das Tragen von Gegenständen am Sabbat ist streng verboten!" So hieß eine der 39 Sabbat-Regeln der Schriftgelehrten.

Mit seinem Befehl aber sprengt Jesus auch dieses Ghetto! Auch da setzt er Zeichen, und wie: Nimm dein Bett und geh umher; lass dich nicht unterkriegen von den unbarmherzigen Regeln, lass dich nicht verwirren durch scheinheilige Argumente! Auch das gehört dazu, dass Jesus jemand auf die Beine bringt.

So wahr in Jesus etwas sichtbar wird von Gott, so wahr sollen sich von ihm geheilte Menschen hüten, sich als Mucker und Ducker neu knechten zu lassen - von Menschenregeln und Verhältnissen, die menschenfeindlich sind!

Erst wird der Gestörte heil, dann stört der Geheilte! Plötzlich stört er, um den sich keiner je gekümmert hatte, seine gutbürgerliche Umwelt. Und zwar auf ausdrücklichen Befehl von Jesus hin! "Der mich gesund gemacht hat, sagte es mir". Ja, dieser Jesus ist ein heilender Störenfried und ein störender Heiland, das zeigt unsere Geschichte aus Johannes 5 ganz plastisch. Er setzt eigentlich nicht ein Zeichen, sondern zwei Zeichen: die Heilung und die Störung. Beides gehört zusammen bei ihm. Und beides soll bei uns zusammmengehören: Heil und Heilung einerseits und mutiger Protest gegen unbarmherzige Engstirnigkeit andererseits. Von Jesus geheilte Protestanten sollen wir sein, als solche haben wir eine Aufgabe an unserer Umwelt.

Liebe Gemeinde, beim Evangelisten Johannes weiter hinten in Kap. 14 sagt Jesus einmal: Wer an mich glaubt, wird die Werke auch tun, die ich tue.
Ja, wir haben einen Auftrag: Lasst uns störende Zeichen setzen, heilende störende Zeichen! So sagt es uns ja dieser störende Heiland, dieser heilende Störenfried! Lasst uns helfen, in den Ghettos zu heilen, hier am Ort und darüber hinaus. Lasst bei uns den, der Wunder tut, so groß werden, dass man sich wundert um uns herum, handgreiflich wundert...

So dass wir alle zusammen, wenn wir jenes genannte Kirchentagslied auch vielleicht nicht können, doch dessen Refrain verstehen lernen: Ich sage euch, versucht es doch, was damals ging geht heute noch. Amen.  


Nach Hause hier