6. Passionsandacht in Deilinghofen am 3. April 2001
in der Stephanuskirche zu Deilinghofen
(am 6.4. korrigierte Version)

Liturgische Ordnung nach dem „alten Gesangbuch“ EKG S. 996-998; Texte Lukas 23, 1-5, 6-12 und 13-25. Lieder 1. Lied: EKG 60, 1, 2.Lied: 55, 1-3; 3. Lied: 60, 2; 3. Lied: 60, 3; 4. Lied: 64,6-7 (nach Melodie 312), 5. Lied: 361, 1, 3, 8 und 9.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde! Einen kleinen unscheinbaren Satz der heutigen Lesung stelle ich hier in den Mittelpunkt unserer Betrachtung: „Und ihr Geschrei nahm überhand“.

Das steht in Lukas 23, Vers 23, da heißt es im ganzen Vers, wie wir hörten: Aber sie setzten ihm zu mit großem Geschrei und forderten, dass er gekreuzigt würde. Und ihr Geschrei nahm überhand.

Und wenn man es so sieht, vielmehr: wenn man es so hört, wenn man da das in die Ohren gellende Geschrei der Schreihälse hört in Lukas 23 – dort in Jesu Leidensgeschichte, dann müsste man eigentlich das Glaubensbekenntnis umschreiben: „Gelitten unter Pontius Pilatus“, das sagt man ja da Sonntag für Sonntag. Aber wenn man Lukas folgt, dann war das nicht der römische Statthalter Pontius Pilatus allein. Das Zünglein an der Waage war da die Masse, die Ansammlung der Schreihälse mit ihrem Geschrei: „Wir wollen Barrabas!“ und: “Kreuzige, kreuzige ihn!“ „Gelitten unter Schreihälsen“, so könnte man’s dann auch sagen, gelitten unter deren laut herausgebrüllten Mehrheitsmeinung, gelitten unter dem angeblich gesunden Volksempfinden des Publikums da, die sich sagen: „Wenn wir schon eine Stimme haben, wenn man uns mal eine Stimme gibt und abstimmen lässt, dann weg mit Jesus, warum nicht Barrabas, ja, den wollen wir!“ Und wider alles Erwarten wird bei dieser Abstimmung der Aufrührer und Mörder Barrabas der erste, der vom Tod freikommt durch den Tod des andern, der gekreuzigt wird. Das Volk hat entschieden – mit eigener Stimme, mit großem Geschrei, dass der Tod des einen das Leben des andern wird: „Kreuzige, kreuzige ihn. Gib uns den Barrabas frei!“

Liebe Gemeinde, gerade der heute in der Lesung gehörte  Abschnitt aus der Leidensgeschichte verdichtet ganz viel, was für Jesus typisch und charakteristisch ist und was für die typisch ist, die Jesus ans Messer liefern: Da sind zuerst „die da oben“: Herodes und Pilatus, die beide sich Jesus vorführen lassen, der jüdische Herrscher und der römische Statthalter, die ursprünglich beide gar nicht miteinander können, die aber beim Jesusverurteilen auf einmal in merkwürdiger Allianz, in einer „Ökumene“ eigner Art gemeinsame Sache machen und auf einmal durch die Leidensgeschichte des zu verurteilenden Jesus von Nazareth aus Feinden zu Freunden werden. Und da sind „die da unten“ bei denen die Geschichte so ähnlich geht wie bei ihren Oberen, „die da unten“, die auf einmal einen verhassten gefährlichen Mann durch ihre Stimme und ihr Geschrei vom Tod freikommen lassen und seine Begnadigung betreiben und stattdessen beim andern gnadenlos „Kreuzige, kreuzige ihn!“ schreien, im Wissen, Zünglein an der Waage zu sein.

Und ihr Geschrei nahm überhand.

Liebe Gemeinde, wir gehen auf den Palmsonntag zu – Palmarum 2001, der Sonntag, an dem ja auch unsere Jubiläumskonfirmation ist, Palmarum der Sonntag, bei dem das Evangelium vom Jesu Einzug auf dem Esel gelesen wird und vom Jubel der Menge – mit den Palmzweigen auf dem Weg. Genau diese Szene liegt im Lukasevangelium beim heute Gelesenen vier Kapitel zurück: Als da die Menge das große Geschrei macht, das überhand nimmt – da war das andere schon geschehen, das mit Palmsonntag, wo sie ihre Stimme erhoben und fromm angestimmt hatten, um dem einziehenden Jesus zu huldigen: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, hosianna in der Höhe!“
Sie hatten es angestimmt – dort auf dem Weg nach Jerusalem, wie wir es mit den gleichen Worten am Sonntag in der Abendmahlsliturgie anstimmen werden: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, hosianna in der Höhe! Und dicht dahinter hier:  Und ihr Geschrei nahm überhand. Und der Inhalt der schreienden Menge in jähem Meinungsumschwung hier ganz anders: „Kreuzige, kreuzige ihn!“ Wie schnell geht es bei der Menge vom Hosianna bis zum Kreuzige ihn, nicht nur in dieser Geschichte...

Ich muss da an die Worte denken, die lateinisch lauten: "Vox populi vox dei", zu deutsch: „Volkes Stimme ist Gottes Stimme“. Und viele bis heute tun ja so, als stimme das, sie tun bis zum heutigen Tag, als sei das, was die Menge sagt, ausschlaggebend, als sei das, was die Schreihälse schreien, was die Mehrheit schreit, immer die Wahrheit und dann auch Gottes Wille. Was das Volk sagt, was das Dorf sagt, das ist dann auch einfach so, was „man“ sagt und was „man“ tut, das ist - findet man - eine gute Regel, an die man sich halten kann und nie ins Fettnäpfchen tritt. Vox populi vox dei – so glaubte man es in ganz unseliger Vergangenheit, als jener Führer und Schreihals da in die Berliner Halle reinbrüllte: Wollt ihr den totalen Krieg? Und als sie fanatisch zurückschrieen – wie mit einer Stimme: „Ja!“ Und wie die Lemminge folgten sie in den Abgrund, der dann kam.

So ähnlich durchaus ist es hier bei Pilatus, alle schreien mit einer Stimme, und ihr Geschrei nahm überhand. Doch für den, der es mit den Augen des Lukas liest, der uns das Ganze berichtet, für den ist auch hier wieder etwas für Jesus ganz Typisches und durch und durch Charakteristisches geradezu auf die Spitze getrieben: Auf dem Weg zum Kreuz, da wird auch der Satz "Vox populi vox dei" drastisch durchkreuzt! Der Satz, an den sich alle halten: dass Mehrheit immer recht habe und der gesunde Menschenverstand nicht in die Irre führe, an dem kann man da berechtigt zweifeln! Ja, auch das wird da durchgestrichen und wortwörtlich durchkreuzt, dass  man sich dran halten kann, wie "die da oben" urteilen und erst recht wie "die da unten" urteilen, wenn sie meinen, dass des Volkes Wille Gottes Wille wäre. Für Jesus ist das durchgängig so gewesen, von allem Anfang an, dass er fast nie tat, was der Menge genehm war, sondern dass er sehr oft das tat, was die Menge skandalös fand und was die Menge zum Kochen brachte und ihre Obersten auch! Ohne das gäbe es die Leidensgeschichte gar nicht, ohne das gäbe es Jesusglauben gar nicht und auch nicht das Kreuz mitten darin, wenn nicht überall wo damals und heute dieser Name Jesus bekannt wird, sich ein Teil der Menge an den Kopf fasst und sagt: Bloß weg mit dem!

So eben auch hier in Lukas 23 bei dem, als die Masse das Zünglein an der Waage wurde: Und ihr Geschrei nahm überhand.

Es nahm überhand, mit der Folge, dass ein Mörder und Aufrührer in letzter Minute vom Todesurteil freikommt und der andere für ihn sterben muss, an seiner Stelle. Würde man – wie Lukas und wie wir – von hinten auf die ganze Geschichte zurückkucken, dann ist das ja fast wie ein Gleichnis. Es ist wie ein Gleichnis auf Jesus und seinen Kreuzestod, das unbewusst und völlig gegen den eigenen Willen die schreiende Menge da predigt, predigt über den Sinn des Kreuzestodes. Denn der Barrabas kriegt ja in letzter Minute das Leben zurück – durch den Tod des Einzigeinen, so wie wenig später am Kreuzesstamm der eine Schächer, der Mitgekreuzigte, in anderer Weise auch in letzter Minute das Leben und die Begnadigung erhielt, als Jesus zu dem Sterbenden am Kreuz sagte: „Wahrlich, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“ 

Und wenn wir schließlich den kleinen Satz uns wirklich zu Herzen nehmen und betrachten: Und ihr Geschrei nahm überhand, ja, dann müsste einem auch das vergehen, ganz vergehen, was in der Geschichte der Kirche oft in teuflischer Weise aus diesem Satz gemacht wurde. Man hat mit spitzem Finger auf die damals gezeigt, die so schrieen, und man hat gesagt: Siehst du, das sind „die Juden“, so also sind „die Juden“; die haben Jesus ans Kreuz gebracht, und da ist dann Judenfeindlichkeit draus geworden mit all den schlimmen uns bekannten Folgen. Und manchmal, so bei Passionsspielen in Oberammergau z.B., da ist es so gewesen, dass da das Geschrei so dargestellt wurde, dass man auf „die Juden“ einen Hass bekam und dass man in heimlicher Judenfeindlichkeit oder in offenerem Antisemitismus das von Deutschen den Juden angetane Leiden beschönigte mit dem, was die Juden angeblich Jesus angetan hatten.

Genau so aber ist die Passionsgeschichte Jesus nach Lukas nicht gemeint! Genauso wenig wie wir an den letzten Dienstagen mit spitzen Fingern auf  Petrus damals, den Verleugner, und mit spitzem Finger auf Judas, den Verräter damals, zeigen konnten, ohne auf uns selbst zu zeigen, ebenso wenig können wir hier auf das Volk der Juden zeigen, die da so schreien und schuld sind. Nein, wer mit offenen Ohren, einem offenen Herzen und einem Gewissen die Passionsgeschichte liest, der kommt zu völlig anderen Schlüssen: Ich selbst bin es, der ganz viel von Petrus und Judas an sich hat, ich selbst bin es, der mit der Menge schreit und mit der Meute kläfft, ich selbst bin es, der in der Versuchung steht, sonntags Hosianna zu singen und in der Woche dann kurz drauf mich von Jesus loszusagen und ihn ans Messer zu liefern, ihn auch heute sozusagen noch einmal kreuzigen zu lassen. Und gekreuzigt in der Tat wird er da, wo er heute in die Ecke geschoben wird, wo wir heute den Schreihälsen und der Mehrheit uns anpassen und dem, was „man“ so sagt und denkt, mehr gehorchen als IHM, dem Gekreuzigten, der durch seinen Tod uns Leben gab.

Dieser Herr schenke uns Urteilskraft, dass wir da JA sagen, wo man nach Gottes Willen JA sagen muss, dass wir ebenso klar und mutig NEIN sagen an den Stellen, wo man NEIN sagen muss, dass wir aber bei all dem uns nicht orientieren an der Masse, sondern an dem Einzigeinen, zu dem man beten kann und der mit seinem Tod am Kreuz zu uns zuerst JA gesagt hat. Amen.

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