Predigt am 1. Juni 1997 (1. So. n. Trin.) in der Deilinghofer Stephanuskirche

1. Lied: 264, 1-3 und 1-2 (engl.): Die Kirche steht gegründet -
2. Lied: 362, 1-3 Ein feste Burg;
3. Lied: 295, 3-4: Wohl denen
[Situation: Taufe eines bekehrten Ex-Moslems aus dem hiesigen Flüchtlingscamp und Rückblick auf die gemeinsame Studienfahrt zu den Luther-Stätten] FG


GNADE SEI MIT EUCH UND FRIEDE VON GOTT, UNSERM VATER, UND UNSERM HERRN, JESUS CHRISTUS. AMEN.

Liebe Gemeinde, Predigen ist eine komische Sache... Da steigt der Redner auf die Kanzel und liest was aus der Bibel vor, und kaum hat er ein paar Sätze gesagt: da macht es da unten klick: hallo, kenn' ich ja schon lange - jetzt kommt die Leier - immer dasselbe, typisch Kirche. Und wenn der Prediger dann auch noch 100 Mal sagt: das hätte was mit dem "Wort Gottes" zu tun - seien wir ehrlich: allzu oft ist's doch so, daß die Worte so abgenutzt sind und die biblischen Geschichten so bekannt, daß von Gott nichts mehr rüberkommt... Und kein Mensch versteht's, was der da oben will, wenn er denn überhaupt noch etwas will. Predigen ist eine komische Sache - auch hier! Zum Beispiel: ich wär jetzt der Redner, der hier ankündigt, heute wäre die Geschichte vom Reichen Mann und vom Armen Lazarus in unseren Kirchen zu predigen dran - Lukas 16, 19-31. Ich würde hier die Bibel aufschlagen und den vorgeschriebenen Predigttext für heute lesen. Dann würden hier welche möglicherweise innerlich müde abwinken und sagen: Altbekannt, kenne ich lange, kann nichts Neues mehr kommen. Da war doch der Reiche, den ich schon von damals ziemlich gut vom Kindergottesdienst kenne: jeden Tag lebte der in Saus und Braus, und aß und trank am vollgedeckten Tisch, der praßte, was das Zeug hielt - und scherte sich keinen Deut um den Armen vor seiner Tür, der nix hatte zu essen, Lazarus, der nicht 'mal die Krümel abbekam, der da draußen vor der Tür lag, hungrig und mit Geschwüren, die die Hunde des Reichen leckten. Und wie's weitergeht, weiß auch jeder hier - da, in Jesus Gleichnis von Lazarus und dem Reichen: Lazarus nach seinem Tod in Abrahams Schoß im Himmel - und der Reiche muß unten Qual leiden im Verderben... Und die Cleveren und Predigterfahrenen hier stellen sich dann die übliche Nutz-Anwendung des Pastors schon vor: ein bißchen Nettsein zu den Armen, um Gottes Willen - das war's.

Aber genau, um in diese gängige Schiene nicht reinzukommen, liebe Gemeinde, ist meine Lazarus-Predigt heute etwas anders. Ich les' sie gar nicht aus der Bibel. Ich erzähl stattdessen eine Kontrastgeschichte, die uns zu denken geben kann und die uns dann vielleicht hinführt zum eigentlichen Sinn dessen, was Je-sus meinte, mit seinem Lazarusgleichnis aus Lukas 19...

Hören Sie mal zu: Man erzählt im Land der Juden, daß da der reiche Zöllner Bar Majan lebte, und Bar Majan hatte alle Tage herrlich und in Freuden gelebt als stinkreicher Mann. Nun alt-geworden, starb der Zöllner, und ihm wurde ein prunkvolles Ehrenbegräbnis zuteil, weil er doch so viel Geld angehäuft hatte. Und wenn er auch eigentlich durchaus ein Gauner gewesen war, unser Zöllner Bar Majan, so wollte doch jetzt jeder in der Stadt dabeisein, beim Kaffeetrinken nach der Beerdigung, da gehört bei großen Leuten einfach dazu.

Aber da war noch ein Zweiter in der von mir erzählten alten jüdischen Legende: der Arme nämlich, der arme Schriftgelehrte, dessen Tod zur gleichen Zeit passierte wie der Tod von Bar Majan und dessen Tod kein Mensch beachtete, obwohl er als Mensch sehr anständig gelebt hatte und viel mehr wert gewesen war als jener Bar Majan, der Reiche! --- Und auf einmal - so erzählt die alte jüdische Legende weiter - ist im Jenseits alles anders rum: ein Kollege des Zöllners darf einige Zeit später im Traum sozusagen hinter den Vorhang gucken, und er sieht sozusagen ins Jenseits hinein, wie der Arme im Paradies ist und der Reiche nicht reinkommt, obwohl er es möchte.

Und jetzt kommt der Pfiff an der Sache, liebe Gemeinde, der eigentliche Clou bei allem: als Jesus in Lukas 19 dort, im heutigen Predigttext seine Lazarusgeschichte, dieses Gleichnis, erzählt, da meinte jeder der ersten Hörer damals: "Altbekannt nach Rabbi-Weise, da schalte ich doch gleich ab - was der da erzählt und schildert von Lazarus, das ist doch die alte Leier, die wir schon lange kennen: das ist doch genau wie bei der gängigen Standardgeschichte von Bar Majan, die jedes Kind im Land der Juden kennt: im Himmel wird es besser werden für die Armen, und damit hat sich's."
Sie sollten sich täuschen, die ersten Hörer damals: denn auf einmal merkten sie zusammenzuckend: die Geschichte, so wie Jesus sie erzählt, die wird ja auf einmal ganz anders, ganz an-ders, als sie gängig ist, denn dieser Jesus da, der predigt nicht die "alte Leier", nicht wie die Pharisäer und die Schriftgelehrten, wo man am Anfang schon weiß, wie die Nutzanwendung hinten aussieht.

Ja, auf einmal kommt da ein ganz pfiffiges Ende an die von Jesus verfremdete alte Erzählung, das typische Jesus-Ende, ein Ende mit Haken und Ösen, mit Widerhaken sogar, mit typischen Jesus-Widerhaken, die da am Ende der Geschichte sitzen, und wo jeder glaubte, das wäre eine gängige Geschichte, wie es im Jenseits alles vor sich geht, der merkt auf einmal, Jesus will was ganz anderes sagen, was bei ihm im Namen Gottes der Clou und der Knackpunkt seines Gleichnisses ist.

Und an dieser Stelle möchte ich die Bibel aufschlagen und Jesu Schluß des Gleichnisses aus Lukas 19 hier vorlesen, denn da liegt bis heute der Clou und der Knackpunkt von allem Hören auf das Wort, von allem Predigen und von-Gott-Reden - das ist Jesu Weckruf damals, der heute hier Weckruf werden kann, wenn es da heißt, daß der Reiche in seiner Qual den Abraham im Paradies bittet: So bitte ich dich, Vater, daß du Lazarus sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham sprach zu ihm: Sie haben Mose und die Propheten; laß sie dieselben hören. Er, der Reiche, aber sprach: Nein, Vater Abraham! sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde.

Ja, liebe Gemeinde, wenn wir mit den richtigen Ohren hören, was Jesus uns hier zu sagen hat, was Jesus Christus seiner Kirche und seiner Gemeinde in Deilinghofen zu sagen hat bis zum heutigen Tag, dann liegt's in diesem Jesus-typischen Schluß des Gleichnisses, der der Clou vom Ganzen ist und der Grund, weshalb überhaupt Jesus diese Geschichte auf seine ureigne Weise erzählt.... Es ist ein Wachmacher-Schluß - ein vollmächtiger Weckruf an seine Gemeinde, der dort der Spie-gel vorgehalten wird:
Kommt Ihr nicht drin vor in diesem Gleichnis - kommen wir nicht drin vor? Denn diese fünf Brüder wohnen vielleicht alle in Deilinghofen, die so leben, als wären ihre eigenen Maßstäbe, ihre eigenen egoistischen Meßlatten das Maß aller Dinge - als müßte man sich nicht fragen, was im Geiste Jesu Gottes Wille ist im Leben auf dieser Welt, als müßte man nicht hören auf das was das Wort uns sagt. "Mose und die Propheten", so heißt es da bei Jesus im Gleichnis - wir könnten heute auch sagen: die Bibel des Alten und Neuen Testament, wo sie entstaubt und völlig neu mit unverstopften Ohren gehört wird, da wirkt sie wie Dynamit und nicht wie ein Betäubungsmittel: da führt sie auf den Sinn des Lebens und da bleibt sie nicht das heilige Buch einer leicht angestaubten Kirche! --- Diese Bibel führt hin zu Gottes Willen in meinem Leben, so wahr dieser Jesus Christus das letzte Wort hat und behalten wird, und Gottes Wort und sein Wille führt immer ins Leben hinein, daß sich da bei mir was ändert, daß ich den Lazarus, den Hilfesuchenden neben mir, in den Blick kriege und nicht mehr weiter zulasse, daß nur die wundenleckenden Hunde sich um ihn kümmern. -- Kurz gesagt: Die fünf Brüder leben immer noch, und auch Lazarus mag's auch noch geben neben uns, und wie! Und dies Buch gibt's noch, das in unsre Kirche frischen Wind pusten kann, den Geist von Pfingsten, den Geist von diesem Jesus her, der nicht die alte Leier runterleiert. Und wenn ich vielleicht zu den fünf Brüdern gehöre und Jesu Worte mir zu Herzen nehme, dann hör ich da in diesem Geist: Die Zeit, die du jetzt noch hast, bevor es zu spät ist, ist Gnadenzeit: es ist die Zeit, Gott zu finden, und es ist Zeit, seinem Wort gemäß zu leben und auf dieses bauend, Christ zu werden und mit andern neben dir die Kirche zu reformieren: mit Jesus, mit der Kirche und der Gemeinde, mit Glauben als dem Sinn des Lebens, von dem sogar Lazarus was abkriegt, neu anzufangen.

Und das ist ja heute noch genauso wie bei Jesus damals: 1000e von Menschen gibt's, die sagen: die olle Bibel genügt nicht, wenn doch ein Engel erschiene oder einer von den To-ten - und manche Spirististen und Okkultisten beschwören die Toten angeblich und meinen, sie wären dann dichter dran an den Engeln: sie hätten dann einen Zipfel vom Jenseits, und wie der reiche Mann da in der Qual betet: "Sende einen Engel oder einen von den Toten" als Gottes- und Jenseitsbeweis, daß Leute endlich glauben und richtig handeln, so heißt es heute sogar typischerweise in einem Poplied, das ein Welthit wurde: "Send me an angle" - "Sende mir einen Engel"! - Aber Jesus sagt dazu - nüchtern nach Jesu Art: "Quatsch, braucht Ihr nicht, Ihr habt alles, wenn Ihr dem Wort folgt. Mose und die Propheten reichen" - das Wort, in dessen Mitte dann das Kreuz von Golgatha und er selbst stand, das genügt. Wo das nicht Leute verändert, finden sie den Weg auch nicht durch Übersinnliches.

Ich möchte's am Ende hier durch zwei Ereignisse der vergangenen Woche erklären. Vor einer Woche waren 40 aus unserer Gemeinde - einige sind jetzt hier - auf Luthers Spuren z.B. in Wittenberg - dort an der Schloßkirche, dem Ort des Thesenanschlags, wo Luther das Wort, das verändern kann, höher setzte als alle menschliche Tradition. "Ein feste Burg ist unser Gott" - das steht weit sichtbar bei dieser Kirche um den Kirchturm herum: Luthers Lied in dessen 4. Strophe es dann heißt: Das Wort sie sollen lassen stahn / und kein' Dank dazu haben; / er ist bei uns wohl auf dem Plan / mit seinem Geist und Gaben. Nur wo das gehört und geglaubt wird heute, nur wo dies Wort ganz neu gehört wird - da kann eine schlafende Kirche wieder aufwachen. Und zwar genau im Sinne von Jesu Weckruf an die fünf Brüder, die meinten, mit ihren eigenen Maßstäben durch das Leben zu kommen. Und unser Stadtführer in Wittenberg, ein glaubender Mann, von Beruf Lehrer, der meinte zu Recht: Deutschland Ost und Deutschland West hätte nichts nötiger als Reformation, als einen neuen Aufbruch zum Glauben hin, so wie er '89 in der Wende andeutungsweise sichtbar wurde. Wo jetzt leider Gottes in Ost und West alle wieder re-signiert zu schlafen scheinen.

Predigen - wirklich - ist eine komische Sache: das Wort droht zum einen Ohr reinzugehen und zum andern raus, und mit der Bibel ist's genauso: jeder hat sie und so oft verstaubt sie, keiner hört da Gottes Stimme raus...

In den letzten Tagen habe ich beschämt von dem jungen Mann aus Jordanien, der ein Moslem war, von Mahmud, den wir gerade tauften, etwas gelernt: er hat diese zerlesene Bibel hier - eine arabische Bibel [zeigen] - dreimal gelesen, und sie ist ihm wie ein Liebesbrief Gottes. Er hatte in Jordanien harte Verfolgungen auf sich zu nehmen, weil er Christ werden wollte - aber dies Wort, das Wort von Jesus, ließ ihn nicht los. Ganz intensiv hat er biblische Geschichten verstanden, auch die heutige, die wir in Englisch zu zweit lasen und über die wir redeten - und lebendiger Glaube ist draus gewachsen. Wenn's sowas doch mehr in Deutschland gäb!

Laßt uns nicht erst auf Engel und überirdische Wunder warten, sondern IHM, dem wir gehören, aufs Wort trauen und unser Wort geben. Und laßt uns Lazarus vor unsrer Tür etwas davon abgeben, so wie es der ganz nüchterne Martin Luther, unser Reformator, genau zu unserm Text passend, mal sagte: "Die Welt ist voll Gottes. Auf allen Straßen, vor deiner Tür findest du Chri-stus. Gaff nicht in den Himmel und sprich: Ei wollt ich unsern Herrgott einmal sehen, wie er ist, ei, wie wollt ich ihm dann alle möglichen Dienste erweisen".Amen