Deilinghofer Karfreitagspredigt in der Stephanuskirche am 2. März 1999

 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, wir hören den für den heutigen Karfreitag vorgeschriebenen Predigttext nach Lukas 23, 33-47

[gelesen von Ortwin Quaschnik am Lesepult]:

Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!

 

Gebet: Herr, lehre mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen. Amen.

Modewort "Leitbild", liebe Gemeinde! Es scheint weit vom traurigen Thema des Karfreitags abzuführen, wenn ich hier mit dem Wort "Leitbild" anfange, wie es innerkirchlich auf höheren Ebenen in letzter Zeit von manchen Pastoren und weiteren sich wichtig fühlenden Menschen auf Synoden und anderswo sehr viel gebraucht wird. Überall sollen in den Gemeinden diese sogenannten "Leitbilder" entwickelt werden. Ehe ich darüber ein bißchen spöttele - über diese neumodische Leitbild-Entwickelei, muß ich den nicht so Eingeweihten kurz andeuten, was so ein viel gepriesenes Leitbild eigentlich meint und soll: Das mit den Leitbildern hat man sich bei den großen Unternehmen abgeguckt, bei Sparkassen und Banken und Industrieunternehmen, und damit die nicht in die Pleite rutschen und Bankrott werden, damit die ihren Betrieb optimal führen und Gewinn machen in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten der Konkurrenzgesellschaft, haben die ja bekanntlich eigene Werbepsychologen, Verkaufstrainer und Seelenklempner für das Betriebsklima und den Umsatz. Und solche Leute sind's, die mit der Firmenleitung und der Belegschaft zusammen ein sogenanntes Unternehmens-Leitbild erstellen: jeder Zweig der Firma soll harmonisch zum Wohl des Ganzen darstellen, was er für das Ganze bringen kann und das wird dann schön als Konzeption auf große Papiere gebracht oder als gefällige Folie an die Wand projiziert: so daß man's nach innen sehen kann: Wir sind eine große Familie, wir sind gerne die Rädchen in guten Große-Ganzen, jede Sparte der Firma hat also auch im Leitbild so eines Unternehmens die eigenen Fähigkeiten analysiert und beschrieben: was sie kosten in ihrer Abteilung, was sie dem Ganzen nutzen. Und nach außen dient die Konzeption eines solchen Leitbildes dazu, klar die Leistungsfähigkeit des Unternehmens werbewirksam sichtbar zu machen, und als Tüpfelchen auf dem "i" finden dann die Marketing-Strategen, daß jeder zu dem Zeichen seiner Firma stehen soll, das heißt auf Deutsch: ein Logo, ein Abzeichen muß her, das man dann auf jedem Briefbogen findet und auf der Arbeitskleidung, den Schriftzug der Firma, den Mercedes-Stern oder das Zeichen der Deutschen Bank oder was auch immer. "Was hat das mit uns zu tun?" - da braucht man, wenn man die Kirche kennt, nicht lange zu fragen... Es scheinen ja die Spatzen von den Dächern zu pfeifen, daß das wirtschaftlich derzeit auch so "ein Laden" ist, der nach der Effektivität des Geleisteten fragen muß, und der wirtschaftlich den Bach runterzugehen droht, wenn man den Anschluß nicht hält. Deswegen sprechen viele nicht mehr wie früher von Bekehrung, von Erweckung oder von Reformation, nein: heute ist es "in", wenn man ein neues Leitbild entwickelt.

Da kam neulich die Leiterin des Kindergartens ins Gemeindebüro und schilderte, wie sie in Iserlohn auf höherer Ebene mit Kindergartenerzieherinnen und Pastoren eine große Diskussion hatten "über das Leitbild des Kindergartens innerhalb des Leitbildes einer Kirchengemeinde", und als Frau Krause mich - auch ein bißchen frotzelnd - fragte: "Was haben wir denn für ein Leitbild in Deilinghofen, was hat das Presbyterium da entwickelt?", da nahm ich das da hängende Bronzekreuz von der Wand, wo die Worte dastehen von Jesus: ICH BIN BEI EUCH, ich kopierte das Kreuz ganz groß am Fotokopierer und gab das Bild ihr mit - augenzwinkernd, mit den Worten: "Für unsere Gemeinde ist eigentlich das Leitbild genug: Dieser Gekreuzigte da und die Worte: ICH BIN BEI EUCH", wobei Frau Krause, weil sie mich gut kennt und mit der ich viel drüber diskutiert habe, sehr genau wußte, was ich damit meinte und auf welchen wunden Punkt bei uns das zielte.

Für diesen Gottesdienst am Karfreitag, liebe Gemeinde, und für unseren gehörten Text aus der Lukaspassion gilt das erst recht und zugespitzt: nicht die Leitbilder, die wir entwerfen und konzipieren, zählen, um eine Gemeinde zu einer guten Gemeinde zu machen und auf Vordermann zu bringen - viel mehr zählt's, da bin ich bewußt ganz altmodisch, wenn wir uns das "Leitbild Jesus Christus" neu zu Herzen gehen lassen, wenn wir sein "Leid/tbild" - mit d und mit t geschrieben, wohlgemerkt beides - uns zu Herzen gehen lassen, wie es uns heute der Lukas in seinem 23. Kapitel vor Augen stellt.
Denn so könnte man das zusammenfassen, was ich da eben als Predigttext las: dieser Jesus dort am Kreuz in seiner Ohnmacht ist das Urbild und das Leitbild, das einen leiten kann zum Kern und zum Wesen und zur Quelle allen Christseins; doch freilich: es ist ein ärgerliches Bild des Elends, und wie! Es ist ein Leidbild, dann mit d wohlgemerkt - ein Leidensbild, das uns der Lukas da vor Augen führt. Und wenn ich zeichnen könnte oder malen, liebe Gemeinde, dann würde ich den heutigen Predigttext so malen, wie er vorne uns vor Augen steht - auf dem ursprünglich im Mittelalter entstandenen Altar unserer Stephanuskirche.

 



Genau so würde ich unseren Predigttext malen, und das Wichtigste unseres Textes des heutigen Karfreitags steht seit Jahrhunderten hier in Deilinghofen den Menschen vor Augen! Fast sieben Wochen lang haben wir in den diesjährigen Passionsandachten jeden Abend alte Leidens-Bilder, die als Zeugnisse der kirchlichen Kunst hier in der Stephanuskirche zu sehen sind, als Andacht betrachtet und (wenn man so will) meditiert, und gerade heute am Karfreitag ist noch einmal der mittelalterliche Schnitzaltar für uns eine Anschauungsquelle für das, worauf es am Karfreitag ankommt, gerade auch in unserm Predigttext aus Lukas 23: für das Leidbild (mit d) "Jesus am Kreuz" und für ihn Jesus, den Gekreuzigten, als das entscheidende Leitbild (mit t)!
Ja, Blicke allein erzählen dort auf dem Altar eine ganze Geschichte: wenn man sich allein die beiden Mitgekreuzigten Jesu ansieht hier vorne an unserm Altar! Der von Ihnen aus linke der Schächer, also der zur Rechten Jesu, der hat den Blick hoffnungsvoll hoch zu Jesus gewendet - der andere - so verächtlich wie es geht - guckt weg von dem Verachteten, spottet und lästert ihn, so wie man's bei Lukas eben hörte: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Wohingegen man es dem zur Rechten dort an dem Altarbild förmlich ansieht, was er sagt, und wie es uns Lukas so überliefert: Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Liebe Gemeinde, in eigener Weisheit und mit theologischem Tiefgang hat der alte Kirchenvater Augustin die Geschichte von den beiden Mitgekreuzigten, von den beiden Schächern am Kreuz, als eine ganz grundsätzliche für jeden Glauben angesehen und gemeint: Da am Kreuz - in der letzten irdischen Stunde Jesu, in dieser Auseinandersetzung mit den beiden, die mit ihm starben, da käme - wie in einem letzten Gleichnis Jesu - das große Angebot des Glaubens ganz konzentriert zutage, da kämen die beiden großen weit auseinanderklaffenden Möglichkeiten anschaulich zutage: der eine so, stirbt mit dem Versprechen, in den Stand der Unschuld zurückversetzt zu sein, der andere geht an Christus vorbei verloren an seiner Schuld, und in Augustins tiefsinnigen Doppel-Satz, den er daraus als Lehre und Quintessenz für seinen und für jeden Glauben zieht, heißt das ganze so: "Es gibt zwei Möglichkeiten. Aber verzweifle nicht, denn einer der Schächer wurde gerettet! Und umgekehrt: Frohlocke nicht und sorge dich um deine Seele, denn einer der Schächer wurde verdammt!" Ich wiederhole den Satz von Augustin nochmals: "Es gibt zwei Möglichkeiten. Aber verzweifle nicht, denn einer der Schächer wurde gerettet, und umgekehrt: Frohlocke nicht und sorge dich um deine Seele, denn einer der Schächer wurde verdammt!"

Liebe Gemeinde, wir sehen dort vorne am Altar die anderen Gestalten, von denen uns Lukas 23 berichtet, wir sehen rechts von Jesus auf dem Pferd den heidnischen Hauptmann, zu Jesus, aufs Kreuz hin respektvoll hochweisend dort - vom Pferde aus, mit Worten auf den Lippen, von denen es bei Lukas so heißt: Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!
Und wir sehen die anderen - aus der Menge der Schaulustigen und Dabeigewesenen, hier am Altar repräsentiert durch die zur Linken Jesu, die würfelnden Kriegsknechte dort. Im heutigen Bibeltext lautet deren Meinungsäußerung und deren Haltung zum Tode Jesu so: Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Wie gut man selbst bei allem Zorn auf sie diese gafflustigen Zyniker verstehen kann, denke ich! Denn die Ecke, aus der ihre Argumente stammen, angesichts des Elends dieses Todes, die gibt's heute noch und ist uns wohlbekannt: daß jemand ein großes Leiden sieht und mitkriegt, und daran bitter wird: wenn der nicht mal Jesus vor dem Tode retten kann, dieser angebliche Gott der Liebe, wenn der nicht mal ein bißchen ein Machtwort gegen Gewalt und Leid zeigen kann und ich drüber hadern muß und verbittert werde, dann ist mit diesem Gott, der da auf Golgatha und anderswo so scheinbar gnadenlos sterben läßt, nicht viel los. So die Perspektive von der Linken Jesu her, die auf dieses Leidbild am Kreuz da starren - wie auf einen Sensationsmenschen, der dann doch schließlich elendiglich gescheitert ist, der soo hoch stand und umso tiefer fiel...

Liebe Gemeinde, es ist bezeichnend, wie Jesus dort am Kreuz nach Lukas 23 auf alle diese Einsprüche reagiert. Und ich möchte das, was da nach Lukas 23 und nach unserm Altarbild anschaulich vor Augen steht - auch ein Bild gebrauchend: eine Gerichtsverhandlung nennen, und er, der mitten drinnen - zwischen zwei Übeltätern gekreuzigt: er ist der Verteidiger und Anwalt Gottes vor den Menschen, und er ist der Anwalt der Menschen vor Gott. Und das, was wir als Bild dort sehen und als Geschichte bei Lukas hören, das ist dann nichts anderes als die fällige Gerichtsverhandlung über unsere schuldig gewordene verrückte Welt mit ihren Sünden, die uns an den Rand des Wahnsinns ziehen. Was Jesus da sagt und tut, nach Lukas 24, ist das einzig stichhaltige Plädoyer für unsere Welt und uns: ein Anwalt, der selbst als Opfer die Schuld der Angeklagten trägt. Der erste Satz des Anwalts schlägt das entscheidende Generalthema an: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Er plädiert also nicht auf Freispruch wegen erwiesener Unschuld, plädiert auch nicht auf Freispruch aus Mangel an Beweisen. Und dieser ehrliche Anwalt, der nicht schummelt und sich nicht blenden läßt, beantragt da auch nicht Berücksichtigung mildernder Umstände. Nein, dieser Anwalt plädiert auf etwas, was völlig anders ist als unsere ü blichen Erwartungen und Vorkehrungen und vielleicht am ehesten einer Amnestie ähnelt: er plädiert auf Vergebung.

Vergebung geschieht auch in dem zweiten Wort, dem schon gehörten, das Jesus da spricht nach Lukas 23: "Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!" Heute - das meint keinen Tag im Kalender. Das auch, gewiß, aber es meint viel mehr: Jetzt bist du frei und unbelastet, jetzt bist du deine Schuld los, jetzt hast du eine neue Unschuld. Das Paradies ist ja der Ort derer, die vor Gott in Freiheit und Freude leben, los- und freigesprochen von all ihrer Last und Schuld.

Vergebung geschieht schließlich in dem dritten Wort Jesu am Kreuz: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände." Allerdings - und das ist zum Staunen! - hat Jesus nicht für sich selbst um Vergebung zu bitten. Wenn wir Jesus dieses Wort nachsprechen in der Stunde unseres Sterbens, dann kann das allein auf jenes Handeln Gottes hin geschehen, das wir mit Vergebung beschreiben. Und darum ist es gut, wenn wir dies dritte Kreuzeswort auswendig wissen, by heart, wie der Engländer sagt. Es könnte unser wichtigstes Wort sein bei unserem eigenen Abschied.

Vollkommene Einheit, wohlgemerkt, herrscht in jenem Plädoyer für die Menschheit, gehalten auf dem Hügel Golgatha, zwischen dem Wort und dem persönlichen Einsatz dieses Anwalts. Dieser Anwalt stirbt an seinem Plädoyer! Mitten im Prozeß wird er vom Klienten selbst erledigt. Und merkwürdig: Er hält sein Plädoyer, obwohl ihm sein Klient dauernd das Mandat entziehen will und höhnische Ratschläge gibt: "Steig herab vom Kreuz! Hilf dir selbst!". Und so wie da - wie gesagt - ist es genau noch heute...

Ja, unser wirklich hilfreiches Leitbild sei das Bild des Deilinghofer Altars, und damit: das Bild, das Lukas 23 uns vor Augen führt: Auf Jesu Tod am Kreuz für uns ist seine Kirche, seine Gemeinde gegründet, auf seiner Amnestie, die er erwirkt hat, auf seiner Vergebung. Damit kann ich leben und sterben, damit kann ich Christ sein auch in meinem eignen Kreuz - und am Kreuz vorbei gibt es kein Ostern und überhaupt keine Zukunft der Seinen und der Kirche, weder hier noch dort und in Ewigkeit. Wohl dem, der sich sein Bild einprägt in seiner Kreuzesnot, wohl dem, der sagt: Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken: Wer so lebt, der lebt wohl, wer so stirbt, der stirbt wohl. Amen.
 

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