Predigt ueber Luk. 19, 41-48 am 10. So. nach
Trinitatis, 3.8.97 in der Deilinghofer Stephanuskirche
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Hl. Geistes sei mit Euch allen! Amen.
Liebe Gemeinde, der 10. Sonntag nach Trinitatis ist
in jedem Jahr der Israel-Sonntag, und der vorgeschriebene Predigttext
fuer heute in unseren Kirchen ist darauf abgestimmt. Hören wir aus
Lukas 19 die Verse 41 bis 48:
Und als er, Jesus, nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte ueber
sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden
dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit
ueber dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen,
dich belagern und von allen Seiten bedraengen, und werden dich dem Erdboden
gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern
lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht
worden bist. --- Und er ging in den Tempel und fing an, die Haendler auszutreiben,
und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: »Mein Haus soll ein Bethaus
sein«; ihr aber habt es zur Raeuberhöhle gemacht. Und er lehrte
taeglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die
Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbraechten, und
fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an
und hörte ihn.
Manchmal, liebe Gemeinde, wird die Bibel durch die Zeitung ausgelegt. Letzten
Donnerstag, als ich zum ersten Mal diesen Text aufschlug, um eingehender
drueber nachzudenken, da lag neben der Bibel der Kreisanzeiger vom Donnerstag
- und es war, als wuerde sich da erschreckend ein Bogen schliessen. Jesus
weint ueber Jerusalem, weil da das Heiligtum des Tempels dem Erdboden gleichgemacht
wird - so der Text bei Lukas - und dicht daneben im Lokalteil des IKZ ein
Bericht aus Menden, das aelteste dortige Buch sei aufgefunden und werde
restauriert: eine Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert mit dem uralten Text
des juedischen Geschichtsschreibers Josephus, der die Katastrophe der Zerstörung
Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 durch die Römer beschreibt...
Doch diese ungeheure Katastrophengeschichte aus dem Jerusalem des Jahres
70 nach Christus - so einschneidend es war, was sich damals bewahrheitete
- stand und steht mitten drin in einer langen Kette von Leiden und Heimsuchungen,
die Gottes heilige Stadt seines auserwaehlten Volks ueber sich ergehen
zu lassen hatte, mitten drin in einer Geschichte des Grauens, die ueber
Israel und die Juden als Heimsuchungen kam - bis hin zu dem geradezu Unsagbaren,
das den Juden, Gottes Augapfel, angetan wurde, bis hin zu dem teuflischen
Holocaust, dem planmaessigem und fabrikmaessigen Voelkermord, den deutsche
Menschen verbrecherisch dem juedischen Volk zufuegten.
Und dort in der gleichen Donnerstagsausgabe des IKZ, und zwar auf der Titelseite
die schwer zu ertragenden Berichte und die schrecklichen Bilder des neuerlichen
furchtbaren Massakers, das sich diese Woche grausam und blutig mitten in
der heiligen Stadt Jerusalem abgespielt hatte - Bilder von selten gesehener
Brutalitaet und Grausamkeit zeigten, wie diese besondere Stadt Jerusalem
nicht zur Ruhe kommt.
Wie erzaehlt Lukas in unserm heutigen Predigttext zum Israelsonntag? „Und
als er, Jesus, nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte ueber sie und
sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!
Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen."
Weinen ueber Jerusalem! Ja, man könnte und muesste stundenlang
eine Menge zum Thema des Israelsonntags ausfuehren und muesste mit allen
zusammen drueber diskutieren: darueber, dass Juden und Christen, Alter
und Neuer Bund unlöslich zueinandergehören, dass ohne den Hintergrund
der Offenbarungen des Alten Testaments der christliche Glaube ueberhaupt
nicht christlicher Glaube sein kann, dass es die Geschichte einer grossen
Schuld ist, ein teuflisches Gemisch aus Luege, Irrtum und menschenfeindlicher
Ideologie, wo man das Alte Testament leichtfertig runterputzte, und erst
recht: wo man Juden in der christlichen Tradition veraechtlich gemacht,
gehasst und verfolgt hat.
Liebe Gemeinde, all das kann die Predigt hier nur sehr unvollkommen andeuten,
aber wer von Ihnen die Wochenzeitschrift „Unsere Kirche" bezieht, hat gerade
zum Israelsonntag in dieser Woche einmal aufklaerende Artikel, die man
hier nur zum Lesen empfehlen kann - wo z.B. auch beschrieben wird, dass
frueher der 10. Sonntag nach Trinitatis, der Israelsonntag, grauselig missbraucht
wurde, die Juden als Christusmörder zu brandmarken und die Zerstörung
Jerusalems im Jahr 70 herauszuheben als gerechte und soz. logische Strafe
Gottes fuer die nicht bekehrungswilligen Juden.
„Jesus weint ueber Jerusalem", sagt Lukas, und wer da merkt, was das von
innen her heisst, kapiert: da ist ein andere Richtung hinter, in die nach
Jesu Art der Weg geht, da ist Wehmut, Mitleid und viel, viel Liebe
eines Juden zu seiner Stadt hinter. In der genannten Ausgabe von „Unsere
Kirche" schreibt z.B. der mir gut bekannte Pastor Laqueur, der Israel sehr
liebt und in Nes Ammim in Israel arbeitet, in der Andacht zu unserm heutigen
Text, so wie Jesus ueber sein Jerusalem Traenen vergoss, so - ganz entsprechend
- sei es bis zum heutigen heutigen Tag bei jeder juedischen Trauung: dass
da beim Trauzeremoniell der Braeutigam nach den sieben Segensworten sagt:
„Vergesse ich dein, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll
an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht
lasse Jerusalem meine höchste Freude sein."
Lassen Sie uns den heutigen Text deshalb noch einmal naeher vornehmen,
so dass biblisch von Lukas 19 her beleuchtet wird, 1.was Jesu Traenen da
in der Tiefe besagen, 2.wie man Jesu Traenen schaendlich missverstanden
und zu judenfeindlichen Waffen uminterpretiert hat und 3. wo Gottes Tempel
hier es braucht, dass Jesus uns sein Haus rein macht und taeglich drin
lehrt und uns anspricht wie damals.
Ja, 1. liebe Gemeinde, ruehrt mich das an, was da zu den Traenen
Jesu steht! Er sieht die Stadt an und weint ueber Jerusalem. Jesus sieht
- wie Lukas es dort schildert - seine eigene bevorstehende Passionsgeschichte
prophetisch geradezu und innig mit der mit der Leidensgeschichte der heiligen
Stadt verbunden. Wenig spaeter im gleichen Lukasevangelium kommt uebrigens
fast das Selbe noch einmal vor, als dort Jesus auf dem Kreuzweg zusammenbricht
und Simon von Kyrene ihm das Kreuz hochtraegt auf den Huegel Golgatha,
schreibt Lukas in Kap.23, folgte ihm eine grosse Volksmenge, und Frauen
klagen und beweinen ihn. Jesus aber - steht da - spricht zu ihnen:
„Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht ueber mich, sondern weint
ueber euch selbst und ueber eure Kinder. Wenn das hier am gruenen Holz
geschieht, wie soll’s am duerren werden!" Mit andern Worten: das ist viel
mehr als nur ein Einzelschicksal, dort auf dem Weg hoch ans Kreuz, das
ist gleichsam die ganze Schuld der Welt, die Jesu Passion ausmacht, das
ist die Unbussfertigkeit der Leute in Gottes Volk, die ihn dort zusammenbrechen
laesst, und da ist exemplarisch fuer all diese unsere Schuld: sein Schmerz
ueber Jerusalem, Gottes Herzblatt, die heilige und geliebte und von Gott
mit vielen Verheissungen bedachte Stadt, die Stadt des Tempels, an deren
Rand auf den Huegel sie ihn niedermachen und das Ende bereiten wollen.
Das ist - recht verstanden - alles andere als eine Verfluchung der Stadt,
als wuerde ein böses zauberisches Orakel jetzt drueber liegen ueber
der Stadt. Nein, das ist sehr anders in der Tiefe wahrzunehmen:
es ist das, was das ganze alte Testament auch wie ein roter Faden durchzieht:
es ist der ungeheure Schmerz Gottes, der - wie es die Propheten an vielen
Stellen beschreiben - sein Volk Israel liebt wie ein Geliebter die Geliebte,
und an der Untreue der Geliebten geradezu kaputtgeht und ewig nicht von
seinem geliebten Volk ablassen kann, der es immer wieder sucht und sich
diesem Volk immer wieder neu verspricht - Gottes Schmerz ueber unser Fremdgehen,
unsere gottferne Friedlosigkeit und unsere Untreue! All das steckt dort
in den Traenen Jesu ueber sein Jerusalem drin.
Gottes Schmerz... In meiner Studienzeit lasen wir in Marburg in einem Seminar
bei Prof. Ratschow ein eindrucksvolles Buch eines koreanischen Christen
und Theologen, Kazmoh Kitamori, das hiess: „Der Schmerz Gottes", und Kitamori
beschreibt darin, was fuer ihn das Eigene und Allerwichtigste des biblischen
Glaubens an Gott sei: dass naemlich ganz anders als im asiatischen Heidentum,
ganz anders als bei anderen Religionen und vorgestellten Gottheiten, ganz
anders auch als bei den Griechen Gott nach der Bibel des Alten und Neuen
Testaments in der Lage ist, Schmerz zu empfinden, liebenden Schmerz ueber
die Welt: eine Vorstellung, die in allen anderen Religionen total unmöglich
ist, die da in der Bibel des Alten und Neuen Testaments das Herzstueck
ausmacht, und liebe Gemeinde, bei Jesus und besonderes in unserm Text kommt
das so deutlich wie fast nirgends sonst in der Bibel heraus: Da ist Gott
kein ewig grinsend-laechelndes Buddha-Götterbild, Gott, das ist da
kein unbeweglicher und starrer Schicksalsgott ueber den Wolken, das ist
kein unbewegter Gott, der kein Herz hat, weil er nur ein Prinzip ist!
Von einem sehr anderen Gott ganz eigener Art, wie er sich im Alten und
dann im Neuen Testament offenbart, reden wir: Dieser Gott weint Traenen
ueber uns in seinem Schmerz; von so einem Gott reden wir! Von Jesus reden
wir, der gerade in seinen Traenen uns beweist: er hat und lieb, so wie
er dort Jerusalem liebhat, er weint um uns, wie eine Mutter um ihr Kind
auf krummen Wegen weint, wir, sein Volk, sind ihm nicht egal, und er wartet
darauf, dass er wie ein Vater den verlorenen Sohn mit Traenen in den Augen
wieder in die Arme schliessen kann, wie es vier Kapitel davor im gleichen
Lukasevangelium heisst.
Liebe Gemeinde, zum 2. dann kurz: dass diese Traenen Jesu ueber
Jerusalem - leider Gottes - völlig falsch verstanden wurden,
und soz. zu Waffen wurden - mit schrecklichsten judenfeindlichen
Folgen. Sogar ein Luther war nicht ganz frei davon, wie wir wissen, von
der Tendenz, dass Israel und die Juden dann umgestempelt wurden zum verachtenswerten
verlorenen Sohn und zum Suendenbock. So als könnten Christen mit Haenden
auf das Volk des Alten Bundes zeigen und sie niedermachen als zu Recht
Bestrafte und Christusmörder. Als könnten sie besserwisserisch
und haemisch urteilen: die sind selber schuld in ihrer Verstockung, und
kriegten 70 nach Chr. die erste Quittung dafuer. Und eben viele andere
Quittungen waeren zu Recht gefolgt als Strafe fuer Schuld danach - bis
hin zu den Gaskammern dieses Jahrhunderts...
Israelsonntag heute - da zeigt die Bibel von innen her gesehen in eine
ganz andere Richtung, und gerade Lukas 19, unser Text, auch! Er zeigt auf
das 3.: auf den Tempel, in den Jesus da geht, wo die „Sonne der
Gerechtigkeit" aufgeht, als Jesus alles Unreine rauswirft, all das, was
Menschen schuldhaft an falscher Tradition und fremder Ideologie da reingetan
haben in vermeintlicher Frömmigkeit, die in Wirklichkeit ganz irregeleitet
ist.
Wer von uns die Botschaft von Lukas 19 sich sagen laesst, wer Jesus da
den Tempel aufraeumen sieht, dass sein Haus wieder ein Bethaus wird, wer
das von innen her auf sich wirken laesst und mit dem Herzen versteht, dem
vergeht völlig und total alle Besserwisserei ueber etwaige Schuld
bei irgendwelchen Juden, alle Spekulationen ueber Verstockung und Gericht
bei anderen. So ist’s: wo ich mit spitzem Zeigefinger auf Gottes Volk damals
zeige, gehen in Wahrheit vier andere Finger auf kritisch mich selbst, auf
unser Gottesverhaeltnis heute, auf Gottes Volk hier!
Und so fuehrt uns Jesus auf den Kern der Sache: Gott weint immer
noch und traegt Schmerz, wo die Leute seines Volks, wo wir, ihn
vergessen, verraten und aussen vor lassen - auch hier in seinem Haus in
Deilinghofen - und Jesus damit immer neu kreuzigen. Gebe er’s hier, dass
dies Haus endlich wieder Bethaus werde, wo viele und immer mehr unter sein
Wort und seine Herrschaft kommen und das glaubwuerdig erleben, was damals
schon geschah: dass er dort taeglich lehrt und heilsam was zu sagen hat
und das Volk, viel Volk, ihm anhaengt, wie Lukas sagt. Und spreche Er,
der um uns weinende und Traenen vergiessende Jesus, es uns, dir und mir,
heute morgen bis ins Herz und ins Gewissen rein, was er damals in Liebe
zu seinem Jerusalem sagte: Wenn doch auch du er kenntest zu
dieser Zeit, was zum Frieden dient! Amen.