Predigt am 9.6.2002, 2. Sonntag nach Trinitatis, in Meschede
1. Kor. 9, 16 bis 23

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde hier in Meschede,

 

wenn ich jetzt auf dieser Kanzel stehe, muss ich sehr dran denken: Heute vor 14 Tagen war für mich persönlich ein überaus wehmütiger und gravierender Einschnitt! An jenem vorletzten Sonntag waren mit dem Abschiedsgottesdienst in Deilinghofen für mich 19 Jahre Dorfpastor-Sein drüben auf der anderen Seite, im „Märkischen Sauerland“, zuende, ein alle sehr bewegender Gottesdienst in dieser Gemeinde, in deren alter Dorfkirche ich über 1000-mal gepredigt hatte.

 

Von heute an bin ich mehr „Nomade“, man könnte sagen: „Wanderprediger“, Wanderprediger hier im Kirchenkreis Arnsberg. Und was das überhaupt soll, das mit dem Predigen, sei es 1000-mal in einer Kirche, in der ich sehr zu Hause war, oder eben heute hier – in Meschede, was das überhaupt soll mit dem Predigen, das erklärt uns heute ein Nomade, auch ein notorischer Wanderprediger, einer, der leidenschaftlich zu predigen pflegte, dem Predigen ein Muss war und ein Anliegen und eine Leidenschaft, der gar nicht anders konnte als eben: das Evangelium weitergeben. Ich meine den Apostel Paulus, und zwar im heute in unseren Kirchen am zweiten Sonntag nach Trinitatis vorgeschriebenen Predigttext; den finden wir in 1. Korinther 9 in den Versen 16 bis 23. Da schreibt der Wanderprediger Paulus über seine große Leidenschaft:  

 

Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und  wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte! Täte ich's aus eigenem Willen, so erhielte ich Lohn. Tue ich's aber nicht aus eigenem Willen, so  ist mir doch das Amt anvertraut. Was ist denn nun mein Lohn? Dass ich das Evangelium predige ohne Entgelt und von meinem Recht am Evangelium nicht Gebrauch mache. Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind,  bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.

 

Liebe Gemeinde, Predigen und Leidenschaft – so  was wie da bei Paulus scheint heute nicht mehr „in“ zu sein und zusammen zu passen. Ich weiß nicht, wie das im Hochsauerlandkreis ist, aber ich kenn das auch! Da sitzt du da in Gottesdiensten relativ unbequem, kuckst zur Kanzel hoch und fragst dich: Was will der dir jetzt sagen in seinem ziemlich hoch angesetzten langweiligen Monolog, der da sprechblasenartig aus seinem Mund kommt? Oder du fragst dich: Der will doch jetzt nur die Zeit rumkriegen – 18 bis 20 Minuten, und du bist erleichtert beim Amen. Und manchmal fragst du dich: der wirbt ja wie ein Limonadenverkäufer, ob der wohl auch seine eigene Limonade trinkt!?? Predigten, das sind ja meist Sonntagsreden - bleibt da was von alltags? Oder ist es wie bei Politikern, die in Sonntagsreden schön abgerundete Sachen absondern, die im Alltag danach dann gar nicht standhalten. Predigt in der Krise, könnte man sagen, Gottesdienst in der Krise, eben weil man nicht mehr so genau weiß, warum und mit welchem Ziel da gepredigt wird. Ein Kritiker sagte, das wäre „institutionalisierte Belanglosigkeit“, das mit dem Gottesdiensthalten, und das mit dem Predigen.

 

Und diese Krise, die möchte ich mal bildlich uns vorführen, ich möchte sie beschreiben an den Gänsen! Stellen Sie sich vor,  die Gänse könnten reden. Dann würden sie gewiss auch ihre eigenen Gottesdienste halten. Und sie kämen überdies natürlich jeden Sonntag zusammen, und ein Gänserich würde predigen. Und ich stelle mir vor, der wesentliche Inhalt seiner Predigt wäre dieser: „Liebe Mitgänse, schaut welch hohe Bestimmung haben doch wir Gänse! Welch hohes Ziel hat doch der Schöpfer in uns gesetzt! Mit unseren Flügeln können wir Horizonte überwinden und in entfernte Lande, an gesegnete Gestade fliegen! Ja, das ist seine Liebe, zu überaus Großem sind wir, die Gänse, berufen!“ So der Gänserich-Pfarrer ungefähr, jedenfalls in meiner Vorstellung. Und die Gänse? Die säßen ganz still und unbeweglich da, sehr feierlich angerührt. Und zu den schönsten Stellen der Predigt würden sie bedächtig ein wenig mit dem Kopf nicken – und nach dem Gottesdienst würden sie noch ein wenig dazu schnattern. Aber eins, liebe Gemeinde, eins würden sie mit ihrem gesunden Gänse-Alltagsverstand ganz bestimmt nie und nimmer tun: Sie würden nicht fliegen! Denn das wissen sie ganz genau: dass eine Gans nicht zum Fliegen da ist, und dass – würden sie recht hoch hinauswollen – dies ein böses Ende nähme... Fliegen also würden die Gänse nicht; und so kämen sie Sonntag für Sonntag  zur Predigt, still und unbeweglich, nickend, schnatternd, angerührt und: ... nicht fliegend! So bis an ihr Lebensende.

 

Jenes schöne Gänsemärchen, liebe Gemeinde, das ich erzählte, ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Es ist weit über 100 Jahre alt, und es ist die berühmte Gänsegeschichte des bekannten dänischen Theologen, Schriftstellers und Christen Sören Kierkegaard, eines der wichtigsten Männer Dänemarks, der ungeheuer stark auf die gesamte europäische Philosophe- und Geistesgeschichte ausgestrahlt hat. Dieser Kierkegaard hatte ein glühendes Herz für Jesus, einen brennenden Glauben und einen ganz wachen und kritischen Verstand – und gerade deswegen fand er Kirche ätzend, ja: grausam, jene ach so gemütliche und betuliche dänische Volkskirche in seiner Zeit. „Christentum ist Brandstiftung“, das hatte er den Kirchenleuten kritisch wie ein Prophet entgegengeschleudert, „und ihr macht da was warmes Gemütliches draus und regelt das Feuer, das von Jesus ausgeht, auf Zimmertemperatur herunter, macht wohlfeilen Sonntagsreden draus, wo niemals was Ansteckendes draus folgt, wo folgenlos über Liebe gelabert wird.“

 

Wir sind mit dem Ganzen, was ich hier zwischendrin schilderte, liebe Gemeinde, kein bisschen vom Text weg, den ich vorher von dem Nomaden und Wanderprediger Paulus verlas. Dem nämlich geht es keinen Deut anders – da in seinem Brief an die Korinther im heutigen Predigttext. Auch er wie ein Besessener, ähnlich wie der Kierkegaard, so muss er von außen wirken – bei seinem glühend leidenschaftlichen Versuch, seine Sache, die ihn gepackt hat, werbend unter die Leute zu bringen.

 

Dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und  wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!

Und ich tue es nicht für Geld, so hören wir da bei Paulus, es ist eine ganz andere Instanz, der ich verpflichtet bin:

Täte ich's aus eigenem Willen, so erhielte ich Lohn. Tue ich's aber nicht aus eigenem Willen, so  ist mir doch das Amt anvertraut.

 

Und mehr noch, möchte ich hinzufügen: ein verpflichtendes Amt und eine ganz große Liebe, die ihn gepackt hat, eine Liebesgeschichte, die ihn nicht mehr los ließ, seit er da bei Damaskus Christus, dem Lebendigen, Christus, dem Gekreuzigten, begegnet war: dem, der ihn beim Kragen gepackt und umgedreht hatte, vom Saulus zum Paulus, vom Christenhasser zum Prediger.

Ja, wie Jesus dem Petrus am Anfang gesagt hatte, er sei jetzt nicht mehr nur Fischer, sondern werde Menschenfischer werden, genauso spricht Paulus hier in unserm Text vom „Menschen gewinnen“, was sein Amt und ein Amt dieses Predigens sei. Klingt nicht sehr „politisch korrekt“, weiß ich auch. „Menschen gewinnen“ überlassen wir den andern Religionen, und „Menschen fischen“ den Sekten und neuen Weltanschauungsgruppen, ist doch nix für die Kirche... Aber es steht da, das mit dem „gewinnen“, liebe Gemeinde, und die Kirche hat’s vergessen, weithin, es nicht mehr gewagt, zu sagen und drauf zu vertrauen, dass Predigen heißt: Menschen einladend und werbend gewinnen für Christus, getrieben von einer großen Liebe, die man einfach nicht für sich behalten kann, sondern die in die Welt hinaus muss.

 

Doch Paulus führt es seinen Korinthern in ihren Anfechtungen durch die Irrlehrer dort vor in unserm Text, dass Predigen eben nicht so ein Eiapopeia ist, wie es die Gegner des Paulus da vollführten, die immerfort in fromm klingenden Tönen von himmlischen Höhen redeten und von frommen Träumen und von alles überschreitenden Visionen, genau so ähnlich wie der Gänserichpfarrer Kierkegaards. Nein ganz anders werden bei Paulus Grenzen überschritten, und von einer total anderen Voraussetzung her: Er weiß sich als Knecht des Gekreuzigten und kann sich deshalb erniedrigen und zum Knecht machen – für alle Menschen, damit die die Voraussetzungen kriegen, sich für seine große Liebe gewinnen zu lassen. Paulus erklärt das sehr genau in unserm Text:  

 

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden. Ja, und weiter hörten wir, dass er denen ohne Gesetz ist wie einer ohne Gesetz und den Schwachen ein Schwacher.

 

Auf Deutsch könnte man sagen: Ich versetze mich in den andern herein, nehme die Fragen und Anknüpfungspunkte ernst, werde dem Konfirmanden ein Konfirmand und dem Fußballfan ein Fußballfan, den Alten und Kranken in ihrem Kreuz ein zutiefst Mit-Fühlender, den Suchenden ein Suchender – nicht um mich überall einzuschmeicheln und einzuschleimen, sondern um zu verhindern, dass eine Predigt folgenlos am Wichtigsten vorbeigeht, dass ich mich gewinnen lasse und andere gewinne von diesem Jesus Christus, der die Nummer eins werden will – über alle Grenzen hinweg.

 

Obwohl ich frei bin, ein Knecht! Luther hat bekanntlich darüber ein ganzes Buch geschrieben, seine zentrale Reformationsschrift von der Freiheit eines Christenmenschen, dass ich als Christ ganz und gar frei bin im Glauben, dass ich aber in der Liebe zum Knecht mache für jeden, da den unteren Weg leicht gehen kann, um andre liebend zu gewinnen, genau wie es da im heutigen Text steht. Und wenn der Luther den Leuten zum Bibelübersetzen und beim Predigen, „aufs Maul geschaut“ hat, wie er es sagte in einem bekannten Luther-Wort, hängt das genau damit zusammen, was der Paulus im heutigen Predigttext meint: den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, denen, die mit dem Gesetz nichts anfangen können wie ein Gesetzlosen, aber nicht aus Einschleimungsgründen, sondern mit einem Ziel, wohl gemerkt! Nicht dass die Juden Juden bleiben, nicht dass die Griechen Griechen bleiben, wie sie waren, sondern dass sie sich gewinnen lassen von ihm, der über alle Grenzen hinaus der Herr ist. Kurz gesagt: Zwar aufs Maul schauen, aber niemals den Leuten nach dem Mund reden! Zwar aufs Maul schauen, aber niemals den Leuten nach dem Mund reden! Niemals es bei abgesonderten lieben und wohl feilen Gänserich-Predigtworten lassen, der den da Sitzenden nur nach dem Mund redete und vom Fliegen sprach, was nie passierte.

 

Und ich höre daraus an mich: dass mein Predigen, auch mein jetziges Wanderprediger-Sein, eine Quelle und ein Ziel haben muss, genau eben jene große Liebe, die den Wanderprediger Paulus zum Predigen brachte: Pastor, werde Christ, Pastor sei Christ, trink die Limonade, für die du wirbst, lass dir Christus großwerden, der dich gewinnt und dann durch dich andere, orientier dich an diesem Urbild und nicht an den wohlfeilen Leitbildern. Und vielleicht kann ich dann den Meschedern ein Mescheder werden, um Mescheder für Christus zu gewinnen und Arnsbergern ein Arnsbergern, so dass da überall Kirchenmitglieder die Chance kriegen, durch Predigten neu zum Glauben zu kommen und Christen zu werden, so dass am Ende Predigern kein Geschnatter nur als Folge hat wie in der Gänsekirche, sondern ein Gewinnen von Menschen für die leidenschaftliche Liebe des Gekreuzigten Christus, die konkurrenzlos wichtig ist. 

Ob dann diese Predigt ein Gewinn ist, oder nur so wohlfeiles Eiapopeia-Geschnatter bleibt, das liegt an dir und an mir: ob wir uns heute von Jesus rufen lassen und einladen und retten, ob wir ihn neu verbindlich ernst nehmen wollen – auch in unserer rettungslos verloren scheinenden gemütlichen Volkskirche mit ihrem Geschnatter. Und ob das Gerettetsein dann bei uns Retterliebe freisetzt, wie da der Wanderprediger Paulus es meint, der zum Schluss des Textes sagt: Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise wenigstens einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben. Amen.