Gottesdienst in der Stephanuskirche Deilinghofen am Sonntag Invokavit, 12.3.2000


Eingangslied (nach dem Kirchenchorlied: Herr, deine Güte...): „In dir ist Freude in allem Leide“, eg 398. 1-2

Am Lesepult, gelesen von Presbyterin Karin Heß-Wendel: Als neutestamentlichen Episteltext hören wir hier schon den in unsern Kirchen für den heutigen Sonntag Invokavit vorgeschriebenen Predigttext aus 2. Kor. 6, 1-10, der gleich auch der Predigt zugrunde liegt. Da schreibt der Apostel Paulus:
 


Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht: »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.

Lied vor der Predigt:  Von guten Mächten wunderbar geborgen, 1, 2, 4 und 5
 
 

Invocavit-Predigt am 12.3.2000 über 2. Kor. 6, 1-10

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde, „Fremder Leute Briefe liest man nicht!“, sagt normalerweise der Anstand, aber genau das Gegenteil habe ich, als ich noch sehr jung war, vor gut 25 Jahren in Bochum gelernt: leidenschaftlich gerne anderer Leute Briefe zu lesen, und da besonders meinen absoluten Lieblingsbrief, den 2. Korintherbrief des Paulus! Es ist der 2. Korintherbrief,  aus dem wir eben einen Abschnitt aus Kapitel 6 als heutigen Predigttext hörten.

Ein sehr faszinierender Professor da an der Ruhr-Uni war Schuld daran, dass mich dieses Brieflesen mitriss, nämlich der Neutestamentler Erich Grässer, der damals in meinem ersten Semester eine begeisternde Vorlesung hielt zum Thema des zweiten Korintherbriefs, den er ein Semester lang Vers für Vers durchnahm, Prof. Grässer, übrigens der gleiche, der später in Bonn Pastor Lohmanns Doktorvater wurde.

Und damals in meinem ersten Semester, da hat es mich gepackt wie ein Virus, das, was der Professor da aus dem Text des zweiten Korintherbriefes wie ein Detektiv herausholte und was er da aus der Umwelt des Paulus und der Gemeinde in der griechischen Hafenstadt Korinth herausholte und rekonstruierte: ja, er, der Grässer, meinte, es sei sehr erhellend, in fremder Leute Briefen rumzulesen! Da erhielte der Glaube Tiefgang und Urteilskraft, meinte er, und das, was auf den ersten Blick dröge klänge, sei eine ganz packende und mitreißende Geschichte, die Leidensgeschichte des Paulus in Korinth!!!

Statt dass ich jetzt aber hier weiter theologische Lernerfahrungen von damals beschreibe und ausbreite, will ich hier das Wichtige knapp andeuten. Ich würde ich statt vieler Worte lieber hier Predigthörer einladen, sich zu Hause den 2. Korintherbrief mit seinen 13 Kapiteln mal vorzunehmen und drin rumzulesen: da merkt man sehr bald, dass das ein Kampfbrief ist, ein Kampf- und ein Liebesbrief in einem, dass es bei diesem Kampf um „das Ein und Alles“ des Paulus geht, um Christus, den Gekreuzigten, um Christi Leiden, die Paulus gleichsam am eigenen Körper spürt, am eignen Leib erlebt,  wo er teilhat an dessen Tiefen in der eigenen Existenz als Christ und Apostel.

Aber Paulus hat nicht nur mit seinen Leiden zu kämpfen, nein, auch mit Gegnern, die auch Christen sein wollten, die auch sich als Apostel sogar aufspielen wollten und die Gemeinde leiten wollten und die sagten: „Der Paulus ist ein Jammerlappen, der Paulus ist ein Trauerkloß, ein depressiv machender Verführer, denn der redet viel zu viel von den Leiden, der redet viel zu viel vom Gekreuzigten, der müsste stattdessen sagen, dass Jesus alle Probleme löst und dass Christen drüber stehen über allen Anfechtungen!“ Und sie halten ihm da entgegen: „Denk doch positiv, Paulus, lass deine nervenden Karfreitagserfahrungen und Kreuzesanfechtungen draußen, dass kommt nicht gut, wenn du ewig Schwäche zeigst, Christen sind Starke, und deine Theologie des Kreuzes, Paulus, die geht und auf den Geist!“
Ja, und die, die da in Korinth Christen sein wollten und nicht viel vom Kreuz wissen wollten und die Gemeinde damit irremachen und auf ihre Seite ziehen wollten, das waren so welche, ich weiß nicht, ob Sie die auch kennen: die, die hatten das ewige „Jesus-Grinsen“ im Gesicht, und die taten so, als wären sie schon heilig und im Himmel, das waren Enthusiasten und Schwärmer, die das bisschen Erdenleid und Not gar nicht mehr ernstnahmen, die Leiden und Mitleiden nicht mehr kannten, die den ganzen „Riss in der Wirklichkeit“ verdrängten und übersprangen, wie man sonst auch Leid und Tod verdrängt - die da in Korinth, die machten so Meditationen und suchten Visionen, dass sie im Geist weit von der Erde weg waren, und genau damit wollten sie, die Selbstsicheren und Perfekten, in der Gemeinde Leute hinter sich scharen als „die Gurus höherer Welten“.

Ja, und Paulus da in Korinth? Der wird eben von diesen tollen Typen beschimpft als kleines Licht, als Jammerlappen und Trauerkloß, als einer, der nicht faszinierend reden kann und nicht mal tolle Visionen erzählt, der dazu als kranker und leidender und angefochtener Mann eben theologisch und frömmigkeitsmäßig „nichts auf der Platte hat“.

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext 2. Kor.6, 1-10 zeigt, dass genau das, was die Gegner dem Paulus an Schwäche übel anrechneten, für Paulus umgekehrt das alles Entscheidende ist: mitten in seiner angefochtenen Existenz um Christus, den Gekreuzigten, wissen, mit ihm leiden, mit ihm mitleiden, seine Passion in den eigenen Leiden wiederzufinden und darin – genau darin! - Anteil zu haben an seinem Sieg. So hören wir auf diesem Hintergrund noch einmal die wesentlichen Verse des heutigen Textes, wenn der Paulus da schreibt:

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht: »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.

Ja, in der Tat, liebe Gemeinde, ich denke, wenn man anderer Leute Briefe mit Verstand liest, da steckt da viel mehr dahinter, als man beim ersten Hören kapiert. Da las ich eine lausige Andacht, eine lausige Kurzpredigt über den eben gelesenen Predigttext in der Wochenzeitung „Unsere Kirche“, geschrieben von einem Hauptpastor aus Hamburg, und der Mann mokierte sich da auch ziemlich über Paulus und meinte, das sei ein komischer und etwas misslungener Text: da liege so ein „depressiver Grauschleier drüber“  und das sei eine ein bisschen misslungene Variante von „In dir ist Freude in allem Leide“, denn da bliebe doch die Freude auf der Strecke und käme höchstens ein bisschen „steifbeinig daher“ in 2. Kor. 6.

Und liebe Gemeinde, was unser Hauptpastor da schreibt, so ähnlich halten’s neuerdings viele mit Paulus und mit dem Kreuz und mit der Passionszeit: so was will man der Gemeinde nicht zumuten, fast so wie damals in Korinth, und manchmal hört man von jüngeren feministischen Theologinnen oder von politisch engagierten Pfarrern, damit könnten sie nix anfangen, und das alles brächte nichts, das mit Leid und Tod, das brächte nichts, wenn man so viel von Jesu Tod und den eigenen Ängsten, Zweifeln und Anfechtungen zum Ausdruck bringe und predige. Das ist auch der Grund, warum ganz viele alte Passionslieder nicht mehr singen wollen und  oftmals Passionsandachten gemieden werden, Passionsandachten, die ja vielerorts auch gar nicht mehr gehalten werden.

Doch das, was alle Welt gar nicht mehr im Zentrum haben will – wie es ein Luther als „Theologe des Kreuzes“ hatte, wie es in gleicher Linie Paulus als „Theologe des Kreuzes“ hatte, das ist hier in unserm Text der Dreh- und Angelpunkt von allem: wer von diesem Tiefen nichts mehr wissen will und das als nicht in den heutigen Zeitgeist passend ausscheidet, geht am Heil vorbei! Paulus sagt da im ersten Satz des Textes, wir sollten Gottes Mitarbeiter, Christi Leidensgenossen, werden und nicht an der Gnade vorbeilaufen: „Fang heute an“, sagt er, „hier und jetzt, hab teil an Christi Kreuz und da über dieses Nadelöhr an seinem Sieg! Fang an, hier und jetzt, denn heute ist die Zeit der Gnade, heute ist der Tag des Heils!“

Und wenn einer vom Kreuz was weiß, so fährt Paulus fort, dann "geht’s bis an die Nähte": Wer vom Kreuz Christi was weiß, wird leiden wie ER im eigenen Kreuz. Und ganz gegensätzlich zu „denen mit dem ewigen Jesusgrinsen“, im Gegensatz zu denen, die da für so ein problemloses Himmelsgucker-Christentum ohne Erdanfechtungen Propaganda machen, führt Paulus aus, dass für ihn Christus nicht „einfach so“ alle Probleme löst, sondern dass im Gegensatz zu manchen andern er als Diener Gottes noch mehr Probleme und Anfechtungen hat als andere Menschen, und da kann er geradezu eine ganze Litanei aufzählen von tiefsitzenden eigenen Erfahrungen, und er tut es auch: er erfährt was von Christus und seinem Kreuz im eigenen Leben in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, ja sogar wenn ihn die Gegnern verlästern und verlachen, weil er zu viel von der eigenen Schwäche redet, dann erweist sich das Diener-Gottes-Sein „in bösen Gerüchten und guten Gerüchten“, und wenn sie sich die Mäuler darüber zerfetzen, was er denn für ein Schlappschwanz wäre, was für ein Don Quichotte, der gegen Windmühlenflügel kämpft, ja, dann sieht Paulus genau das als Leidensnachfolge Jesu des Gekreuzigten, der ihn berufen hat und ihm das Heil schenkte, das Heil, das „unter dem Kreuz verborgen“ ist, wie Luther sagte, das aber nur über den Weg des Kreuzes im eigenen Leben auch Anteil hat an Jesu Sieg über den Tod, so wie es Paulus geradezu triumphierend am Ende unseres Predigttextes ausführt: Leute, die Christi Kreuz als Diener Mitarbeiter Christi im eigenen Leben spüren, sind paradoxe Menschen seiner Gnade, wie Paulus da in eigentümlichen und viel sagenden Gegensatzpaaren herausarbeitet: als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.

In der theologischen Sprache heißt das: das ist „Theologie des Kreuzes“, und unser Predigttext ist ein Kernbeleg solche Kreuzestheologie, für das, was Paulus vom Kreuz weiß, was ihm sein „Ein und Alles“ war: Und jedem, dem das zu theoretisch ist, das mit „Kreuzestheologie“, will ich das an zwei anschaulicheren Beispielen zum Schluss noch mal zu erklären versuchen:

(1) Als der Christ und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer kurz vor seinem Tod im KZ dichtete: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ (das, was wir eben vor der Predigt sangen), da hat er im Gefängnis viele beeindruckt dadurch, dass er mitten in seinen Leiden – den Tod vor Augen – ein freier Mensch war, der gelassen, aus Glauben lebend, „nichts hatte und doch alles hatte“ und daherging wie ein „Gutsherr auf seinem Schloss“, wie es bei diesem Bonhoeffer einmal heißt: wie einer von denen, die sterben, und siehe, wir leben! Und als es dann wirklich zur Vollstreckung des Todesurteils ging, da war dieser leidende und glaubende Bonhoeffer im damals im Mai 1944 wirklich wunderbar geborgen; der Arzt bei seiner hin Hinrichtung bezeugte das später, er habe Bonhoeffer sehr innig beten sehen und dann im Mut den letzten Weg gehen, und er habe nie einen mutiger sterben sehen. Eben „von guten Mächten wunderbar geborgen“.

(2) Und das ist nicht nur bei Bonhoeffer so. Im zweiten Beispiel zu 2. Kor. 6 will ich es zuletzt andeuten, dass hier in Deilinghofen ein Mensch, der schwerstkrank ist, mit dem ich viel in Seelsorgegesprächen auch über Leiden und Sterbenmüssen redete. Und dieser Mann hat das heute morgen einfach beim Wort genommen, dass heute der Tag des Heils und heute die Zeit der Gnade ist, dass wir als die Sterbenden die sind, von denen es heißt: „Siehe, wir leben!“, und dass die, die nichts haben, in Christus die sind , die alles haben.

Dieser Mann – er sitzt hier unter uns  – ist heute morgen um 9 Uhr sehr bewusst nach langem Entscheidungsprozess wieder in die Kirche eingetreten und hat hier am Altar sozusagen seine zweite Konfirmation gefeiert und hat Brot und Wein, Leib und Blut als Zeichen von Jesu Bund zu sich genommen zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter und der Enkelin und mit Freunden. Und gestern habe ich mit ihm und der Frau intensiv über den heutigen Predigttext geredet, und ich bitte Gott für ihn und für uns alle, dass wir im eigenen Kreuz auf Jesu Kreuz blicken und da Trost finden als die, welche diese Zeit der Gnade, diese Gnadenzeit, ausnützen und dass wir uns verstehen "als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben".

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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