Gottesdienst und Predigt am Volkstrauertag,

dem vorletzte Sonntag im Kirchenjahr, 18. November 2001,

in der Stephanuskirche zu Deilinghofen

Orgelvorspiel, Begrüßung und Abkündigungen

Eingangslied: das Morgenlied „Aus meines Herzens Grunde“ (eg 443), 1-4)

Im  Namen des Vaters... Unsere Hilfe...

Wir hören Psalm 1: Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl. Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut. Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.

Kommt, lasset uns anbeten! EHR SEI DEM VATER...

 

Wir bekennen unsere Schuld vor Gott: Herr, wir bekennen dir unsere Gottlosigkeit: dass wir selber es oft sind, die Wege gehen, die vor dir nicht richtig sind.  Du weißt um unsere Gottlosigkeit - in unserm Denken und in unserm Tun, wir wir die Mitte unseres Lebens von dir wegrücken und uns selber im Mittelpunkt haben wollen. Du weißt um die Schuld der Kriege im Großen und um die Schuld, die wir mit unseren Kleinkriegen im persönlichen Bereich anrichten. Ja, Herr, tritt du neu in unser Leben, dass wir besser auf dich hören und so werden wie der Baum an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit. Herr, erbarme dich unser.

KYRIE

Gnadenzuspruch: So spricht Gott der Herr im Jeremiabuch Kapitel 29: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen. EHRE SEI GOTT...ALLEIN GOTT IN DER HÖH...DER HERR SEI...

 

Gebet: Herr Jesus Christus, sei du bei uns an diesem neuen Tag, an diesem Sonntag, und mach, dass es dein Tag werde. Ich bitte dich für mich und jeden hier: Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach deinem Wort. Sei und bleibe du auch heute mein Beschützer und mein Hort. Nirgends als bei dir allein kann ich recht bewahret sein. Gelobst seist du, unser Herr und Bruder, der du mit dem Vater und dem Hl. Geist lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

 

Evangelienlesung:

In seiner großen Rede vom Weltgericht sagt Jesus in Matthäus 25 im Eavangelium dieses vorletzten Sonntags des Kirchenjahres:                                      

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in dasewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Halleluja!

Glaubensbekenntnis

Lied vor der Predigt: „Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ...“ (eg 343), 1-3 und 5 

Predigt Jeremia 8, 4-7

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde, der Predigttext, über den jetzt zu dieser Stunde in den meisten evangelischen Kirchen des Landes nachgedacht wird, ist im Alten Testament aus dem Propheten Jeremia. Da heißt es im Predigttext des vorletzten Sonntags im Kirchenjahr in Jeremia 8, in den Versen 4-7, als Gottes Wort an den Propheten Jeremia:                                      

Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen. Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber  mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Wir beten: Zeige uns, wo wir gemeint sind, Herr, bewahre uns davor, nur für andere zu hören, wo du uns Kritisches zu sagen hast. Und lass mich nicht anderen predigen und selber verwerflich werden. Öffne du uns die Ohren und die Herzen, segne das Hören und das Reden. Amen.

Liebe Gemeinde, mit einem Umweg, den ich mit Bedacht nehme, geht es heute mitten in den Predigttext rein. Sogar mit einer Geschichte von einem Umweg fängt’s hier an, einem recht abenteuerlichen Umweg! Hörten Sie mal zu: Eine Busfahrt nach Velbert zum Diakonissenhaus Bleibergquelle mit unserer Frauenhilfe. Das war vor einigen Jahren. Der Bus nahm seinen Weg nach Hause, und wir richteten uns drauf ein, bald wieder hier in Deilinghofen zurück zu sein. So ging es auf die Autobahn Wuppertal - Hagen - Schwerte bis zum Westhofener Kreuz. So dachten da auch 35 Frauenhilfsfrauen und der Pastor, aber falsch gedacht... Denn der Busfahrer, was machte der? Der bog in die entgegengesetzte Richtung ein, und auf einmal waren alle bass erstaunt, dass wir uns am Leverkusener Kreuz wiederfanden, und unser Busfahrer, ein ziemlich eigenwilliger Jugoslawe, der von uns keine Widerworte hören wollte, der bretterte einfach weiter über Leverkusen hinaus auf Köln zu. Ein Riesenumweg, wo er dann doch irgendwann merkte, er musste mal raus und zurück, aber dann, dann kam erst mal der richtige Schreck: nach dem Zurückfahren, da machte der Mann „ganz zu“, da war er nicht mehr eigenwillig, sondern stur und rechthaberisch, verbohrt und wie vernagelt: Er war ein zweites Mal wieder eine falsche Autobahneinfahrt eingebogen, und er fuhr schnurstracks den Riesenumweg auf Olpe zu ins Sauerland, da half kein Klagen, da half kein Bitten und Betteln: Er hatte die Orientierung verloren und ließ sich nicht beirren: auf dem falschen Weg weiter und immer weiter! Bloß sich nicht noch einmal die Blöße des Umkehren-Müssens geben. Und so fuhr er mit 35 Frauen und einem Pastor wohl 180 km Umweg insgesamt, eine Fahrt mit einem hörunfähigen Fahrer, der nicht umkehren wollte, um keinen Preis! Eine Fahrt, die niemand vergessen wird - und die übrigens so bei Rudi Reuter heute, bei Reuter-Reisen nie vorgekommen wäre, denn der hat ja seit einiger Zeit sein supermodernes Computer-Navigationsgerät drin, den „Auto-Pilot“. 

Ja, wie gesagt, liebe Gemeinde, die leidige und ziemlich traurige Umweggeschichte von damals, die dann am Ende nur noch lustig war, die führt uns auf einem Umweg schnurstracks mitten in den gehörten Predigttext aus Jeremia 8 hinein!

So sind die Menschen, sagt Gott da: So, ganz genauso ist mein Volk! Sie gehen irre für und für, ein Auto-Pilot ist da nicht eingeschaltet: Und die ersten Sätze da aus Jeremia 8 in unserm Text, die lauten ganz entsprechend: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für?

Liebe Gemeinde, das was da im Horizont der Katastrophe, die etwa 500 Jahre vor Christus als Babylonische Gefangenschaft über das Volk Gottes  kam, der Jeremia zu berichten hat und zu predigen, das ist eine ganz und gar nicht schöne Predigt. Keine Predigt, die positive Worte sucht und höflich mit „liebe Gemeinde“ anfängt. Nein, er hat Kritik und Gottes Klage über menschliche Schuld anzusagen, für eine gar nicht liebe Gemeinde, für ein gar nicht liebes Volk!

Verdorben und verblendet, durch und durch, so ist das Volk, das zeigen unsere Verse, aber auch die Kapitel ringsrum: wo da ein gar nicht lieber Gott zornig wird und durch den Propheten die Leute daran erinnert, dass sie ihre Mitte verloren haben und dass alle ihre inneren Navigationsgeräte nicht mehr funktionieren: während es doch sonst normal ist, dass ein Gefallener aufsteht, bleibt man da liegen im Dreck, und wo es doch normal ist, dass man bei einem falschen Weg, den man nimmt umkehrt, ist es da so ähnlich wie beim genannten Busfahrer: Kritik gar nicht erst hören, und schnurstracks weiter in die falsche Richtung.

In unserem Text heißt es dann weiter: Sie halten fest am falschen Gottesdienst. Und das heißt, wie man aus dem Kontext entnimmt, das heißt aus den Kapiteln bei Jeremia ringsum: Sie wollen Gott so als Süßspeise, so als einen traditionellen Sahneklecks oben drauf, das gerne! Aber einen Gott, der einem an die Wäsche geht, der bei einem ans Eingemachte geht, ein Gott, der zurecht ruft und maßgeblich Richtung angibt, den wollen sie nicht, und entsprechende Führer haben sie, die immer „Friede, Friede“ rufen, auch wenn gar kein Frieden da ist, wie ganz kurz hinter unserm Text steht, die lieber Gott als Zuckerguss anbieten. Ja, einen Gott zum Spaß, der einem nicht wehtut, den haben sie zwar ganz gerne, aber einen lebendigen Gott, einen Gott nicht nur zum Spaß, einen Gott, dem im Ernst zu folgen ist, einen Gott, der wehtut, ja der sogar zornig werden kann, der ist aus ihrem Horizont entschwunden.

Jeremia, der Prophet, wird da Sprachrohr des lebendigen Gottes, dass es die hören, die ihre Antennen nicht mehr ausgerichtet haben auf Gott hin, denen die Navigation abgeht. Und er, Jeremia, ruft da wie ein einsamer Rufer in der Wüste in die Situation rein: dass es der lebendige Gott ist, der seinen Volkstrauertag hält, Gott trauert um sein Volk! Gott leidet an der Schuld, die man dort auf sich lädt.

Und mit bitterbösen fast zynisch klingenden Worten hält Jeremia da seine Klagepredigt zu Gottes Volkstrauertag: „Wer hört mir denn schon zu?  Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber  mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.“

Ja, liebe Gemeinde, auch da wieder die Sache mit der Navigation: der Kranich und der Storch, die Turteltaube und die Schwalbe, sie wissen ihren Weg, sie wissen ihre Zeit, ja, die Zugvögel, die fliegen – von ihren Instinkten gesteuert – in den Süden und kommen wieder! Aber den Menschen, die Gott erwählt hat, denen geht dieser natürliche innere Kompass ab, sie gleichen eher den Lemmingen, die als Herdentiere in den Abgrund stürzen, sie ziehen in die Irre, ohne irgendwie zu merken und wahrzunehmen, dass die Richtung falsch ist, was der Ort ist, wohin und was die Stunde geschlagen hat.

Viel, sehr viel, hat’s mit der Kirche unserer Tage zu tun, was ich bisher ausführte, und mit dir und mit mir. Denn die ganze Zeit war nicht nur die Rede von Irgendwas weit in der Ferne. Ich möchte es an einer Geschichte belegen, die jetzt zwar 80 Jahre her ist, aber immer noch brennend aktuell.

Da ist ein noch nicht sehr alter Dorfpfarrer, dem hat’s fast die Sprache verschlagen – damals in jener Krisen- und Umbruchszeit 1919, direkt nach dem 1. Weltkrieg. Er kann normalerweise predigen und wie, und dieser Dorfpfarrer ist auch in seinem Amt wacker, rege und engagiert. Aber er ist in eine Krise, in eine große Predigtnot geraten: dass es ihm die Kehle zuschnürt, wenn er auf der Kanzel etwas sagen soll. Nicht daß ihm die Themen ausgegangen sind. Nein, er ist umgekehrt übervoll von einer Entdeckung aufgrund einer ganz neuen und lebendigen Zuwendung zum Bibellesen: wie da Paulus im Römerbrief von Gott spricht und wie Jeremia, der Prophet, von Gott spricht. Und dieser Dorfpfarrer fragt sich bohrend: Ist da nicht etwas verlorengegangen? Muss man nicht ganz anders von Gott sprechen? Das ist seine Predigtnot, das sind die bohrenden Fragen, die sich ihm da stellen im Jahr 1919 direkt nach Kriegsende im Schweizer Dörfchen Safenwil im Kanton Aargau, diesem Dorfpfarrer mit Namen Karl Barth, den einige von einer Deilinghofer Studienfahrt in die Schweiz gut kennen, ja, das sind die Fragen, für die er, Barth, von der Mehrheit seiner Amtsbrüder zunächst keine offenen Ohren findet, wo er langsam erst aufgerüttelte Gesinnungsgenossen findet, allen voran im Nachbardorf seinen Freund, den Pfarrer Eduard Thurneysen, der Karl Barths Weggefährte wurde in diesem Kampf der Erneuerung, nach der Schuld und der Katastrophe des 1. Weltkriegs. Ja, aus der Sicht des Dorfpfarrers Karl Barth waren sie wirklich den Lemmingen ähnlich, die kompasslos ins Verderben rannten: seine zuvor verehrten theologischen Lehrer und Theologieprofessoren, all die angesehenen Kirchenführer, die unentwegt hochtrabend von Kultur und hohen Werten, von Frieden, Gott und Vaterland und andern hehren Idealen sprachen und - gottverloren - alles treiben gelassen hatten: in den verheerenden Krieg, im Namen Gottes dort die Waffen gesegnet hatten und z.B. das normal fanden, dass auf den Koppelschlössern an den Gürteln der Soldaten eingeprägt stand: „Mit Gott“, wie ja immer die Devise gelautet hatte: „Mit Gott für Kaiser und Vaterland“.

„Volk Gottes wach auf, Theologen, Kirchenleute, wacht auf und kehrt um, denn Gott will endlich wieder Gott sein!“, das war die Botschaft, die von Paulus, Jeremia und den Propheten her sich für Barth aus der Bibel erschloss - und was da wach wurde, das brachte eine wahrhafte Wende und Erneuerung, durchaus eine Reformation, die da Platz griff: eine Reformation, die Gott - im Sinne des 1. Gebotes - neu auf den Thron hob und die unheilige Allianz von Thron und Altar zerstörte.

Die Kirche in einem deutlichen Weckruf neu zur Sache rufen, sie ganz zu Christus rufen und sie damit sensibel machen für das was die Welt von den Christen erwartet, das war der prophetische Weckruf damals des Karl Barth, eine neue Reformation der Kirche, um so etwas ging es dem Barth, der mit diesem Programm Theologieprofessor wurde. Ja, und dass dann die Bekennende Kirche in der Nazizeit dem Ungeist der Zeit massiv etwas entgegensetzen konnte, das war der Verdienst von solchen verantwortlichen Lehrern des Wortes Gottes wie es in jener schweren Zeit ein Karl Barth und ein Dietrich Bonhoeffer und ein Martin Niemöller gewesen ist.

Ich glaube, dass Gott gerade in den verheerenden Katastrophen von heute neu nach seinen Leuten fragt, haargenauso wie damals bei Jeremia und genau wie damals nach dem 1. Weltkrieg bei Barth. Und sein Volkstrauertag, der ist noch, und der betrifft dich und mich: Am Ende ist’s so womöglich, daß am allermeisten Gott über mich seinen Volkstrauertag hält und mir oder dir in Jer. 8 seinen Spiegel vorhält, wo dann mir oder dir vielleicht das Gesicht nicht passt, das da aus dem Spiegel heraussieht: unser Gesicht, wo es geprägt ist von unserer Verblendung, Bußunfähigkeit und irrenden Gottvergessenheit, und wo wir dann lieber den Spiegel dieses Wortes nehmen, um reflektierend andre zu blenden und in diesem Spiegel zu betrachten.

Damit es wirklich Buße gibt, und Neuanfang, der Früchte trägt, muß man weit über unsern Text hinausschauen - bis hinten nach Jeremia Kapitel 31, wo Gott durch den Propheten seinen neuen Bund ankündigt und wo er vernehmen läßt, er hätte sein Volk und seine Leute zu sich gezogen aus lauter Güte, weil er uns je und je geliebt hätte, und ähnlich, wie am Anfang vernommen kündigt uns der Prophet in Jer. 19 an, das Suchen von ganzem Herzen dann Finden nach sich zieht. - - - Damit es wirklich Buße gibt und Neuanfang, der Früchte trägt, muss Gott erst wieder Gott werden für uns - als Kirche und als Einzelne - indem wir in seinem Spiegel uns selbst ansehen in unsrer Verlorenheit und er sich dann finden lässt und und wiederfinden als das eine verlorenen Schaf, das der Gute Hirte des neuen Bundes Jesus sucht und auf die Arme nimmt und nach Hause trägt in den Stall. Als er das Volk sah, jammerte ihn, denn sie waren verschmachtet wie eine Herde, die keinen Hirten hat, heißt es im Neuen Testament. Gott sei Dank gehört das bis heute zu Gottes Volkstrauertag hinzu, dies Erbarmen des Guten Hirten mit seiner Herde, die er mit Schmerzen heimsucht, damit sie bei ihm die Heimat findet. Und wohl dem von uns, der sich da als verlorenes Schaf wiederfindet und um den Hüter weiß, der den Kompass hat. Und ohne ihn, in der Tat, glichen wir dem Busfahrer vom Anfang, der sich die Ohren zuhielt und in die Irre fuhr. Wollen wir beten in der Stille und betend Gott suchen und finden, dass er neu uns leitet und navigiert [Gebetsstille]. AMEN

Fürbittengebet (nach jeder Fürbitte: Herr, erbarme dich unser!)

Herr, ohne dich gehen wir in die Irre wie Schafe, die keinen Hirten haben. Du weißt um den Zustand deiner Gemeinde, deiner Kirche und deiner Welt. Schenk, dass du neu gesucht und gefunden wirst, und fang bei mir damit an. Das bitten wir gemeinsam, wenn wir beten: Herr, erbarme dich unser!

Angesichts von Gewalt und Terror und all der himmelschreienden Friedlosigkeit in unserer Welt bitten wir dich an diesem Tag um Frieden. Schenke, dass der Wahnsinn des Terrors aufhört, schenke aber auch, dass die Waffen nicht mehr Unschuldige treffen und Menschen verzweifeln lassen. Schenke, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter Menschen in Katastrophen stürzt und zeige den verantwortlichen begehbare Schritte zum Frieden hin. Das bitten wir gemeinsam, wenn wir beten: Herr, erbarme dich unser!

Schenke, dass dein Friede auch hier in der Gemeinde anfängt und bei uns persönlich, lass uns Frieden finden mit dir und Friedensstifter werden. Das bitten wir gemeinsam, wenn wir beten: Herr, erbarme dich unser!

Bewahre uns, Herr, vor falschem und verheucheltem Gottesdienst, lass uns das, was wir sonntags hören, im Alltag leben. Lass den Frieden und den Trost, der sonntags verkündet wird, hineinreichen bis in die Abgründe von Menschenleben, und sei da besonders bei denen, die trauern und in verzweifelten Lagen sind, auch bei denen in dieser Gemeinde, die den Tod vor Augen haben. Das bitten wir gemeinsam, wenn wir beten: Herr, erbarme dich unser!

Alles, was wir dir sonst noch zu sagen haben, fassen wir zusammen in dem Gebet, das du, Herr Jesus Christus, uns zu beten gelehrt hast, wenn wir gemeinsam beten:

Vater unser...

Verleih uns Frieden gnädiglich...

Segenslied: Bewahre uns Gott (eg 171, 1 und 2)

Segen

Bewahre uns Gott (eg 171, 3)

Orgelnachspiel

 


Volkstrauertagsrede am 18.11.2001
in Deilinghofen 11.15 Uhr und in Brockhausen 14.00 Uhr

Besser wär’s, meine Damen und Herren, der Volkstrauertag und die Sache, um die es hier sich zu besinnen gilt, wäre nicht so aktuell. Besser wäre es, die Kritiker von früher hätten recht behalten, die seinerzeit sagten, Volkstrauertag, das wäre so ein „auslaufendes Modell“, ein das wäre nur noch eine pflichtgemäße Formsache, es hätte sich doch langsam „ausgetrauert“, nach den vielen Jahrzehnten, die der Krieg vorbei ist und jedenfalls mit uns in unserm Land nichts mehr zu schaffen hat.

Die Wirklichkeit hat uns da auf eine erschütternde Weise eingeholt und korrigiert: leider Gottes, der Volkstrauertag ist in diesem Jahr viel viel aktueller, als uns allen lieb sein kann. Und oft gesagt worden ist der Satz: „Nach dem 11. September ist nichts mehr wie es vorher war“ - ein Satz, der hier an dieser Stelle am Mahnmal bei dieser Kundgebung und Besinnung zum Volkstrauertag auch von innen heraus allen präsent und gegenwärtig ist in dem, was wir fühlen und empfinden, wenn wir an das teuflische Grauen von Terrorismus und Fanatismus an jenem Datum denken und an so viel Furcht seitdem, wenn wir denken an die unschuldigen Kinder, die im Gegenzug in Afghanistan sterben mussten, wenn wir denken an die Leute in einem der ärmsten Länder der Welt, die da Furcht haben mussten und müssen vor Bomben, die auf der Flucht sind.

Ja, dass man sogar sagen und konstatieren muss, dass ein Krieg sein "Gutes" dort hatte, dass die schlimmen Machthaber, die Taliban, weitgehend entmachtet sind und da neue Entwicklungen alles jetzt in einem etwas positiveren Licht erscheinen lassen: Ich hätte es mir vor Jahren nie träumen lassen, dass man an dieser Stelle etwas "Gutes" von einem Krieg sagen kann; so komplex und so verdreht ist die Welt geworden, dass statt „Frieden schaffen ohne Waffen“ jetzt auch das Frieden schaffen mit militärischen Mitteln etwas ist, was man irgendwie hat verstehen lernen müssen.

Ich glaube, Ihnen allen geht es da ähnlich: dass kaum einer mehr das waffenlose und wehrlose Hinnehmen der grausamen Herausforderung vertreten würde, auch dann, wenn es weiter bestehen bleibt, dass Krieg schreckliche Schuld und fürchterliche Folgen mit sich bringt und dass man um Gottes willen niemals für den Krieg sein kann, dass um Gottes willen niemals so ein Hurrapatriotismus den Krieg bejubeln darf.

Nein, auch zum vorschnellen Bejubeln der neuen Situation in Afghanistan, die jetzt ja etwas positiver aussieht als vor kurzem noch, besteht kein Grund.

Ich möchte es an einem Einzelfall schildern, den ich über die Nachrichtenagentur dpa aus Afghanistan habe und den ich ihnen mitgebracht habe: Da wurde aus Dust-Mohammad in Afghanistan von dem 46-jährigen  Kriegsflüchtling Mohammad Naaim berichtet. Dieser Mohammed Naaim überlegt, ob er angesichts der Siege der Nordallianz die Rückkehr ins heimische Kandahar ins Auge fassen soll. „Ich habe in den letzten 20 Jahren zumindest drei Mal mein gesamtes Hab und Gut verkauft. Ich habe keine Kraft mehr“, sagte der afghanische Kleinbauer aus einem Vorort der Stadt Kandahar resignierend.

Und da heißt es weiter in dieser Meldung: Naim gehört zu den mehr als 20 000 Afghanen in einem Lager in Dust-Mohammad in der afghanischen Nimrus-Provinz. Dessen Kapazität reicht eigentlich nur für 6 000 Menschen, so dass viele Flüchtlinge unter freiem Himmel leben müssen. Und obwohl die Eroberungen der Nordallianz in den letzten Tagen bei den Flüchtlingen zwar in aller Munde sind, kommen Begeisterung und Hoffnung kaum auf. „Können die Machthaber jetzt uns allen versichern, dass es nicht noch mal zu einem Bürgerkrieg kommt?“, fragt Naim skeptisch. Und keiner der Umstehenden weiß eine Antwort.

Der Bauer hat knapp zwei Wochen mit seiner hochschwangeren Frau, sechs Kindern und beider Eltern gebraucht, um aus Angst vor amerikanischen Luftangriffen nach Dust-Mohammad in die von Iran geführten Lager zu gelangen. Kaum angekommen, gebar seine Frau eine Tochter, die mit Hilfe ausländischer Ärzte zur Welt kam. «Ich bin so ausgehungert, dass ich nicht mal Milch für mein Baby habe», klagt die 36-jährige Sahra. In schierer Verzweiflung zeigt die gläubige Moslemin ihre ausgetrockneten Brüste. Sie will möglichst bald zurück. «Ich möchte kein Flüchtlingsleben ... Elend mit Ehre ist besser als dieses ewige Hin und Her», sagte sie. Aber Hoffnung auf bessere Zeiten nach den Taliban hat auch sie nicht.“

Zitat Ende - hier uns vorgestellt als bloß ein Fall von Tausenden und Abertausenden von Fällen - dort in einem der ärmsten Land der Erde, dem so stark gebeutelten Afghanistan.

Meine Damen und Herren, ich denke da an die schrecklichen Ereignisse von damals, die zwei Jahre vor meiner Geburt endeten, die Ereignisse, die z.T. ganz parallel waren und innerlich mit dem Gesagten verbunden: so wie es mir meine Eltern schilderten, die 1945 und davor als Vertriebene auf der Flucht waren aus Pommern in den Westen, damals als mein Opa im Krieg verschleppt und getötet wurde, als in unserer Familie und Verwandtschaft Frauen von feindlichen Soldaten vergewaltigt wurden, wo ich dann als ganz kleines Kind selbst noch eine Menge davon mitgekriegt habe, was es heißt: die Schrecken des Krieges und dessen Folgen zu erleben und als Teil der eigenen Biographie zu haben. Es gibt auch heute noch mehr Menschen, als wir ahnen unter uns, die Ähnliches noch viel massiver fühlen. Der Volkstrauertag ein alter Hut: keineswegs.

Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt, das geht nie vorbei; so sieht es aus - nicht nur im Blick auf 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945, sondern auch im Blick auf den Herbst des Jahres 2001, und da noch mit verstärkten Ängsten und ganz viel Ratlosigkeit.    

Gerade in dieser Furcht und Ratlosigkeit haben viele, das weiß ich aus Gesprächen in der Seelsorge, neu angefangen, nach Gott zu fragen und neu angefangen zu beten: beten, dass Gott es zum Frieden kommen lässt bei uns selbst und zum Frieden mit ihm, beten, dass er es zum Frieden kommen lässt in seiner irregeleiteten Welt, die dennoch seine Welt bleibt.

So denken wir an dieser Stelle an die Soldaten, die in den beiden Weltkriegen das Leben verloren, an all die Opfer in der Zivilbevölkerung, an die Kriege seitdem und ihre Opfer in Afghanistan und anderswo, an die Toten des Terroranschlags von New York und Washington, an alle die, die von daher innere und äußere Wunden haben, auch an alle Feuerwehrleute und Helfer, die da ihr Leben im Einsatz für den Nächsten verloren haben.

Wir verharren und werden einige Augenblicke still, und wer zu beten vermag, mag in der Stille beten: [Stille] Ich danke Ihnen.     

 

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