Predigt am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr
(Volkstrauertag), 18.11.2000, in der Deilinghofer Stephanuskirche

Hier kommt man auch zur  heutigen Rede an den drei Mahnmalen in Deilinghofen, Brockhausen und Apricke

Übrigens ist die unten stehende Predigt umgearbeitet aus der guten Predigt eines alten Bekannten aus Marburger Zeiten, Paul-Ulrich Lenz - von dem kann man wenigstens mal ein bisschen "klauen" - der kann es...

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde, am Ende des Kirchenjahrs ein Stück zum Nachdenken aus dem letzten Buch der Bibel, aus der Offenbarung des Johannes. Das schwerstverständliche Buch von allen 27 Schriften des Neuen Testaments, sagen manche: "Das ist für mich ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘, dies apokalyptische Buch mit den Visionen des Johannes, des verbannten Sehers auf der Insel Patmos!" Aber wer ganz vorne in der Offenbarung die sieben Sendschreiben liest und versteht, der hat da schon einen Schlüssel zum Ganzen und weiß, worauf es dem Johannes ankommt dort in der Offenbarung, und worauf es dem erhöhten Jesus ankommt, der da durch den Seher redet. "Sieben Sendschreiben", das heißt: sieben Mutmachbriefe und Mahnbriefe an angefochtene Gemeinden dort in Kleinasien in der Verfolgungszeit, jeweils beginnend mit den Worten: "Dem Engel der Gemeinde von soundso schreibe", wobei dann Engel dann "der Bote" heißen kann, vielleicht auch "der Gemeindevorsteher", oder wirklich "der Engel". Heute ist nach der Ordnung unserer Kirche in unsern Kirchen das zweite der sieben Sendschreiben, das Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna als Predigttext dran, Offenbarung 2,8-11, da heißt es:

Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut - du bist aber reich - und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern sind die Synagoge des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tode.

Liebe Gemeinde, lassen Sie mich heute mit einer kleinen Stadtführung beginnen. Dann wird uns allen – denke ich - umso klarer und plastischer, was unser Text, den ich gerade las, besagt. Stadtführung durch die Stadt Smyrna etwa um das Jahr 90 nach Christi Geburt.

An der Westküste der heutigen Türkei lag die Stadt Smyrna. Heute ist auf gleichem Gebiet Izmir zu finden, eine der großen türkischen Städte. Smyrna, um das Jahr 90 n. Chr. eine bedeutende Handelsstadt mit einem Gerichtsplatz des römischen Staates, war eine junge, moderne Stadt. Sie war in diesen Jahren prächtig wiederaufgebaut worden, nachdem sie jahrhundertelang zerstört gelegen hatte. Zentrum aber und Hauptattraktion von Smyrna, auf die die Bewohner sehr stolz waren, aber war unzweifelhaft der Tempel. Dieser jungen Stadt war ein Kaisertempel für den römischen Kaiser gestiftet worden, eine Auszeichnung, um die sich viele Städte bemühten und die doch nur wenigen Städten zuteil wurde.

Wenn wir uns die Stadt und das Leben und Treiben da vorstellen, dann ist es da richtig "multikulti", damals in jener Zeit, multikuturell im wahrsten Sinne des Wortes, auch in dem Sinne: dass es da Kulte zuhauf gab. Und in dieser Stadt Smyrna gab es eine kleine Christengemeinde. Diese Gemeinde hatte es schwer. Die Christen waren wirtschaftlich arm und lebten am Rande der Gesellschaft. Sie hatten es besonders schwer mit dem Staat und seinem Kaiserkult. Sie hatten es genauso schwer mit anderen Religionen, die es dort eben reichlich gab. Man kann sagen: sie saßen zwischen allen Stühlen, und sie drohten, unter die Räder zu kommen. Manche zählten sie einfach zu den Juden, weil einige auch einmal Juden gewesen waren. Aber sowohl die Juden als auch die Christen wussten: trotz der gemeinsamen Wurzel in der Geschichte Israels gehörten sie doch nicht mehr zusammen, weil der Glaube an Jesus sie trennte. Das aber war für manche - Juden und andere - Anlass genug, auf sie Druck auszuüben: sie sollten sich dem Kaiserkult beugen. Wenn sie schon keine Juden waren, dann sollten sie vor dem Standbild des Kaisers opfern und so ihre Solidarität mit dem römischen Staat zum Ausdruck bringen

Das stellte der Gemeinde die Frage, die bis heute immer wieder Christen beschäftigt: Wieweit müssen wir uns abgrenzen? Wann müssen wir sagen: Wir können nicht mittun in dem, was die Gesellschaft um uns lebt und erwartet? Wieweit können und müssen und dürfen wir uns anpassen an das, wie um uns herum gelebt wird und was der Staat von uns erwartet?

So haben wir eine Gemeinde vor Augen, die innerlich und äußerlich belastet ist. 90 nach Christus, das heißt, das war da in Kleinasien im Römischen Reich die Zeit der heranbrandenden Wellen von Christenverfolgungen, und ein Schicksal eines besonderen Mannes aus dieser Stadt Smyrna kennt man genauer: der Mann, der später als Polykarp von Smyrna einer der berühmtesten und bedeutendsten Bischöfe und Kirchenlehrer der Alten Kirche war, mag einigen von Ihnen sogar bekannt sein, Polykarp von Smyrna, geb. um 70 nach Christus und umgebracht im Jahr 156 oder 167. Die Forscher sagen, Polykarp von Smyrna, das war so die Brücke zwischen der Generation der Jünger und Apostel, von denen er Johannes noch persönlich gekannt haben soll, und der Alten Kirche.

Und dieser spätere Bischof Polykarp, liebe Gemeinde, der war als Mitglied der Smyrna-Gemeinde vermutlich etwa 20 Jahre alt, als dieses Sendschreiben verfasst wurde, in dem die Christengemeinde in Smyrna zum Aushalten in der Zeit der Verfolgung aufgefordert und ermutigt wurde, und als sie da durch den Seher Johannes im Namen von Jesus Christus, dem erhöhten Herrn, den Auftrag erhielt, fest zu bleiben, auch im Blick auf die Sekten, in dem Fall im Blick auf die Lästerungen vonseiten der falschen Juden, einer jüdische Sekte da in Smyrna, von der es heißt, dass sie zu Unrecht und lügenhaft auf die jüdischen Wurzeln sich bezog.

Wenn man die Lebensgeschichte jenes Polykarp aus Smyrna etwas genauer dazunimmt, die man ja etwas ausführlicher kennt, dann spiegelt sich da fortan ganz viel wieder von dem, was auch im heutigen Predigttext aus Offb. 2 vorkommt: der hatte gegen Irrlehrer und gegen gnostische und andere Sekten zu kämpfen und wie, und der endete schließlich – als ganz greiser Mann von 86 Jahren - nach Zeiten, die er auch in Rom verlebte, wieder in seiner Heimatstadt Smyrna auf der dortigen Rennbahn, das heißt im Amphittheater, und in seiner Märtyrerakte, der ältesten überhaupt, wird erzählt, dass da bei dem Betreten des Hinrichtungsortes die Worte vom Himmel gehört worden seien: "Mut, Polykarp, halte dich mannhaft, dass dann Polykarp nicht auf den Prokonsul einging, der ihm sagte: "Polykarp, bedenke dein hohes Alter," und ihn bedrängte, von Jesus Christus Abstand zu nehmen, und dann sollte erst ein Löwe auf ihn losgelassen werden, und viele im Amphittheater wollten, dass Polykarp bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, und schließlich hat man ihm auch noch den Dolch in die Brust gestoßen.

Unser Text heute etwa sechzig Jahre früher – in einer Zerreißprobe ganz ähnlicher Art dort in der gleichen Stadt Smyrna! Da hören Christen von DEM, dem sie durch dick und dünn gehören: "Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig ist". Indem Jesus sie durch den Seher so anspricht, sagt er zugleich: Schaut her, was ihr erlebt, das ist ganz nahe an dem, was ihr an mir seht: Ihr kommt euch manchmal wie tot vor - ich war tot! Ihr könnt manchmal kaum noch die Hoffnung auf Leben durchhalten - ich bin lebendig, obwohl ich in den Tod gegeben worden bin. So sagt Jesus seiner bedrängten Gemeinde damals: Ich bin nicht unbedrängt durch das Leben gegangen, ich bin im Tod zerbrochen worden. Aber das war nicht das letzte Wort: ich bin nicht vom Tod besiegt für immer - ich habe den Tod überwunden. Ich habe den Weg, der euch jetzt so schwer fällt, auch durchschritten, längst vor euch - und ich bin auf diesem Weg ins Leben gegangen. So liegt in den Worten Jesu von allem Anfang an ein Versprechen an die Gemeinde: Weil ihr zu mir gehört, darum ist auch der schwere Weg ein Weg ins Leben.

Und das zweite, was Jesus der Gemeinde und den Menschen in ihr sagt dort in unserm Predigttext Offenbarung 2: Ich weiß um deine Trübsal und Angst. Ich weiß, wie es bei euch aussieht. Ich weiß, wie es in euch aussieht. Ich weiß, was euch zu schaffen macht. Seit diesem Wort können die Leute der Gemeinde in Smyrna sagen: Unser Herr hat uns nicht vergessen. Der auferstandene, erhöhte Christus hat uns, diese kleine Gemeinde in Smyrna im Blick. Und er wird es nicht über unsere Kräfte gehen lassen.

Er, der von sich selbst sagt: "Ich bin der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig geworden ist" - er sagt: Ich weiß um deine Trübsal und deine Armut! In diesen Worten: "Ich weiß um deine Trübsal und um deine Armut" liegt der ganze Trost des Evangeliums. Der auferstandene Herr macht nicht die Augen zu vor dem Schicksal der Gemeinde und des Einzelnen. Nein, bei ihm, der die Schrecken des Todes am eigenen Leib gespürt hat, kommen wir vor - du und ich - mit dem, was uns ängstet und bedrängt, was uns fertig macht und uns verzagen lässt.

Wissen Sie, wenn ich das nicht glauben könnte - ich weiß nicht, wie ich mit meinem eignen Elend fertig würde und wie ich fertig würde mit den Bildern des Schreckens, wie sie Tag um Tag zu uns ins Haus kommen und wie wir sie auch besonders am heutigen Volkstrauertag vor Augen haben, wie ich damit umgehen sollte, ohne zynisch oder hart oder eiskalt zu werden. Wenn ich das nicht glauben könnte: "Ich weiß um deine Trübsal und Angst" - ich weiß nicht, wie ich dann noch auf eine gute Zukunft der Welt hoffen könnte.

Wissen Sie, wenn ich das nicht glauben könnte, dann würde mir manchmal um den Weg unserer Kirche angst und bange werden. Dann würde ich auch manchmal um den Weg dieser Gemeinde in unserem Ort nicht mehr ruhig sein können. Wie viele Gefahren gibt es heute - sich anzupassen oder zu erstarren, sich zu verweigern oder sich nach allen Seiten hin zu verlieren. Wie hilflos kommt mir unsere Kirche oft vor in den großen Herausforderungen unserer Zeit. Sie haben ja recht, die Leute, die manchmal sagen: Was die Christen zu den Problemen unserer Zeit so sagen, ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Und: wie wenig kann eine Kirchengemeinde doch konkret in den Nöten und Problemen ihres Ortes wirklich bewegen. Da ist das Verzagen und die Resignation nicht weit. Aber: der erhöhte Herr weiß um diese schwache Kirche und er trägt sie - und das genügt! Der erhöhte Herr weiß um die Anfechtungen seiner Gemeinde - auch hier bei uns - und er lässt sie nicht über die Kräfte gehen - und daran dürfen wir uns genügen lassen.

Ein Drittes erwächst daraus: Jesus ruft seine Gemeinde zur beständigen Treue, und das hat ganz viel mit Deilinghofen zu tun – wie wir sehen werden: "Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben." Das steht nämlich, wenn man zur Kirche reinkommt oben über dem Eingang zu lesen: wir alle sind unter diesem Satz hier in die Stephanuskirche reingekommen, und im griechischen Urtext steht da "stephanon täs zoäs", denn Krone, Kranz, aber auch Märtyrerkranz, das ist griechisch "stephanos"! "Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben, stephanon täs zoäs: die Krone bekommt ihr, stephanon, auch wenn es der Märtyrerkranz sein sollte! Das ist ein Wort, das für mehrere Deilinghofer, die ich in den vergangenen Monaten beerdigte, auch der Konfirmationdenkspruch war, über den ich drüben in der Kapelle predigte. Hier wird er bezogen auf uns als "Stephanusgemeinde", bezogen auf alle, die hier in die Kirche kommen, als unser Mutmachwort, als persönliche Einladung, ihm treu zu bleiben durch dick und dünn. Den Satz mit der Krone des Lebens kann das auch so übersetzen: "Halte am Glauben fest bis ans Äußerste". Es geht in diesem Wort nicht um irgendeine Nibelungentreue bis zum Untergang. Es geht nicht um die Treue zum Staat oder zum Volk, wie dies Wort vor 50 Jahren manchmal ausgelegt und dabei schändlich missbraucht worden ist. Es geht um die Treue zu Jesus. Weil er um uns weiß und uns hält, deshalb können und sollen wir am Glauben festhalten. Weil er zu uns steht, deshalb ist unser Platz in dieser Welt bei ihm, in seiner Gemeinde. Weil er uns nicht loslässt und uns nicht unserem Schicksal überlässt, deshalb können wir gelassen bleiben, auch wenn die Wellen manchmal hoch über uns zusammen schlagen.

Wie das aussehen kann, das kann man an Menschen sehen, die den Glauben durchgehalten haben. Wilde Tiere gibt’s hier nicht so wie in Smyrna, Gott sei Dank, aber die Grundfrage wie bei Polykarp damals in Smyrna, die gibt es auch:: "Sage Jesus ab und du gewinnst die Freiheit." Und Polykarp antwortete vor der Hinrichtung: "86 Jahre diene ich Christus und er hat mir nichts zuleide getan. Wie kann ich meinen König lästern, der mich erlöst hat?" Und so geht er lieber in den Tod, als von Christus zu lassen.

Eine ganz ähnliche Haltung wird uns von vielen bezeugt, die im Dritten Reich vor dem Volksgerichtshof standen. Von den Geschwistern Scholl, von Bonhoeffer, von Hellmut von Moltke und von Paul Schneider z.B. wissen wir: Sie konnten deshalb auf dem Weg durch Unrecht und schlimme Verletzungen ihrer Persönlichkeit bis zum Tod gelassen bleiben, weil sie fest verankert waren im Glauben an Jesus. Was für sie gilt, das ist nicht Ausnahme, das ist die Zusage Jesu Christi auch über uns: Ich lasse keinen los, der sich von mir halten lässt. Ich lasse keinen ins Nichts fallen, der sein Vertrauen auf mich gesetzt hat. Ich bringe durch den Tod ans Ziel, und niemand kann euch aus meiner Hand reißen.

An dieses Versprechen dürfen wir uns halten – die Stephanusgemeinde Deilinghofen und alle hier, so wie die Gemeinde in Smyrna, und so wie seitdem ungezählte, namhafte Christen und solche, deren Namen Gott alleine kennt: kein Leid der Welt kann uns aus der Verbundenheit mit Jesus reißen, weil er uns festhält und er ist der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig ist und der aus dem Tod ins Leben bringen kann und bringen wird. Darauf lasst uns trauen und aus diesem Vertrauen lasst uns leben. Amen.

 

 

Rede am Mahnmal in Deilinghofen (11.15 Uhr)
und am Mahnmal in Apricke und Brockhausen
am Volkstrauertag, 19. November 2000

Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger dieses Ortes heute am Volkstrauertag des Jahres 2000! Am Donnerstag las man in IKZ und WR gute und sehr zutreffende Worte – aufgesetzt von den Aprickern –, als Einladung, sich am Gedenken beim Volkstrauertag zu beteiligen! Sinngemäß hieß es da, mit diesem neuen Jahrhundert gebe es zwangsläufig immer weniger direkt Beteiligte und Zeitzeugen, die den 2. Weltkrieg bewusst miterlebt und –erlitten haben und zum Mahnmal kommen könnten, aber umso wichtiger sei es für die Jüngeren, nicht zu vergessen, was Soldaten erlebt, gekämpft und erlitten haben, umso wichtiger sei es, hier am Mahnmal dabei zu sein, der Gefallenen, der Überlebenden und der Opfer in der Zivilbevölkerung zu gedenken.

Genau in der gleichen Linie wie in jenem Zeitungsartikel von den "Zeitzeugen" liegt meine heutige Gedenkrede hier! Zeitzeugen in ihren Lebensgeschichten sagen mehr aus als Statistiken, wo wir auch in großen Zahlen ja in keiner Weise fassen können, was das Grauen von 120 Millionen Menschen bedeutet, die – wie auch gestern in der Lokalzeitung stand - das, was zwei Kriege mit sich brachten, mit Leben und Gesundheit bezahlten, wie wir es in keiner Weise fassen können, was die Zahl von über sechs Mio. Juden bedeutet, die in Hitler-Deutschland vernichtet wurden. Da war mir damals als zwölfjährigen Schüler schon der Film Anne Frank mit der Lebensgeschichte eines jüdischen Mädchens ein ganz grundwichtiger Schlüssel, überhaupt etwas von dem zu wahrzunehmen, was in der Zeit des Zweiten Weltkrieges Krieg und Barbarei schuldhaft anrichtete.

Eine einzelne Geschichte erzählt da mehr als alle großen Zahlen, sagt mehr als alle theoretischen und statistischen Erörterungen. Gestatten Sie mir, hier zwei einzelne Geschichten von Menschen unter uns hier in dieser Gedenkrede zu schildern oder wenigstens anzudeuten, wobei ich in beiden Fällen von den Betroffenen und Verwandten die ausdrückliche Erlaubnis habe, das hier öffentlich zu nennen, das was zu einem großen Teil auch privat ist. Ich möchte – erstens – von einer Frau erzählen, die wohl wie keine andere unter uns das 20. Jahrhundert erlebt und durchlitten hat, den ersten wie den zweiten Krieg; ich meine Anna Schüler, die einzige mit über 100 Jahren Beerdigte im Gebiet Deilinghofen, Anna Schüler, geboren in Sachsen Anhalt im März 1899 und gestorben in Deilinghofen im Juni dieses Jahres 2000, eine tapfere Frau, eine Frau mit ganz vielen Kriegswunden, die nicht äußerlicher Art waren. Sie selbst und ihre Verwandten haben es mir oft geschildert, wie sie schon ein Opfer des ersten Kriegs wurde und dann des zweiten, wie sie dabei dreimal mindestens komplett neu anfangen musste, erst, als sie, Bäuerin und aus einer Bauernfamilie stammend, in ihrer Jugend im Zusammenhang des 1. Weltkrieges nach Krakau ausgewiesen wurde, wo da ein Bauernhof der Familie entstand, der dann auch aus politischen Gründen wieder verlassen werden musste, wo dann Pommern ein neuer Hof gegründet wurde, aus dem sie und ihr Ehemann vertrieben wurde von den Russen im zweiten Weltkrieg, eine Tochter von Russen zeitweilig verschleppt, der Mann dann auch verschleppt und getötet, eine Tochter aus russischer Gefangenschaft entkommen und direkt danach sehr jung an den Folgen der Behandlung im Lager gestorben, und dann die Flucht der Familie von Pommern aus, zunächst nach Berlin und ins Land Brandenburg, mit fürchterlichsten und grausamsten Erlebnissen, wo diese Frau Anna Schüler es z.B. mit ansehen musste, wie ihre eigenen alten Schwiegereltern auf der Flucht beide erfroren sind und mit der Schippe buchstäblich im Straßengraben beerdigt wurden, verscharrt in jener Not, wie man noch nicht mal einen Hund verscharrt. Alles Ereignisse, wie ich sie von meiner eigenen Großmutter Selma Groth, auch einer Pommerin, die genauso alt war wie Frau Schüler, völlig entsprechend kenne: die tapferen Frauen, die keiner kennt, die nie einen Orden kriegten, z.T. noch nicht einmal ein Care-Paket, und die trotzdem von dem Grauen jener Kriege unsere 20. Jahrhunderts mehr wissen als alle Professoren der Zeitgeschichte mit ihren klugen Analysen und Statistiken. Auch solcher Frauen gedenken wir hier am Mahnmal beim Volkstrauertag 2000.

Und meine zweite Geschichte darf ich kurz anschließen: Eine Geschichte, die ich ganz kürzlich erlebte bei einem 75. Geburtstag am Mittagstisch, als wir da "Lobe den Herrn sangen", und auch die Strophe: "In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über mir Flügel gebreitet". Mit Tränen in den Augen stand der Jubilar, sonst ein ziemlich nüchterner und sachlicher Mensch, auf und er, wahrlich kein Kirchgänger!, meinte wie in einem Bekenntnis: "Das stimmt, dieser Herr ist mir ein treuer Herr gewesen, wie oft hat er über mir Flügel gebreitet!" Und dann erzählt und schilderte er der ganzen Festgesellschaft, wie es damals einem blutjungen Marinesoldaten von innen her zumute war, ganz anders als es Veteranen manchmal protzend und stolz zu sagen pflegen. "Wir waren wirklich Marine, wir waren die Exoten im Schnellboot - im Kanal vor England", so sagte er, und er schilderte auf ganz erschütternde Weise, was das hieß, 13 Feindfahrten zu durchstehen, da 2x verwundet worden zu sein, von den Engländern dort "im Kreis" gejagt zu werden im Kanal und es zu erleben, wie neben ihm viele erschossen wurden, wie Kameraden das Gehirn buchstäblich rausgeschossen zu werden, und wie da in seinem Herzen gar nichts war von dem Pathos für "Führer, Volk und Vaterland", wie es da für die seinen auf dem Boot nur noch ums Durchkommen ging, und statt "Führer, Volk und Vaterland" um "Mutter, Frau und Familie", sonst nichts. Und eben, durchaus, wie dieser schwer geprüfte Mann bekannte, um den, von dem er zu seinem 75. aus tiefstem Herzen sagen konnte aus der Rückschau, der habe "in wieviel Not über ihm Flügel gebreitet".

Zeitzeugen – solche (denke ich) brauchen wir, mit de wirklichen Tapferkeit des Herzens, wie die hier genannten, die einem auch Mut machen, heute jene Zeit mit den richtigen Augen anzusehen und aus Lebensgeschichten zu lernen, gerade zumal in Teilen der Jugend der neue Hass leider Gottes wieder aufbricht, und die Rückkehr zum Ewiggestrigen, wo Ausländer zu Tode gejagt, Synagogen angezündet und Juden und andere in Angst und Schrecken versetzt werden. Auf der Synode der ev. Kirche von Deutschland wurde vor paar Tagen noch massiv betont, es sei hohe Zeit, aufzustehen für Toleranz und Menschlichkeit, und auch die Synode rufe die Christen auf zu Schritten «gegen die klammheimliche Sympathie für fremdenfeindliche Sprüche und gegen stillschweigende Duldung rassistischer Übergriffe».

So gedenken wir auf diesem Hintergrund hier an diesem Mahnmal der Opfer in diesem Jahrhundert in zwei höllischen Kriegen, der gefallenen Soldaten, der Vertriebenen und Verschleppten, der Vergewaltigten und Gefolterten, der Menschen, die in Lagern umkamen und die im Teufelssystem von braunen und roten Terrorregimes falschem Gehorsam unterworfen wurden und besonders derer, die deren Opfer wurden. Wir gedenken der Opfer, besonders der massenweise vergewaltigten Frauen und der zusammengeschossenen Kinder. Wir gedenken der Männer und Frauen hier unter uns, die selbst ganz ähnliche Geschichten, wie die, die ich nannte, schildern könnten aus ihrem Leben, oder noch schlimmere. Wir denken an uns selbst, an unsere Friedlosigkeit, wir denken in unserm Verantwortungsbereich an unsere gefährdeten Jugendlichen, die neu mit Teufeleien zu flirten können meinen. Und wir beten, dass Menschen mit Zivilcourage und Selbstkritik weiter für ein Leben kämpfen, das dem Frieden dient. Der wirkliche Friede freilich kommt nicht aus uns selbst: dass wir in Ordnung kommen mit uns selbst, mit Gott und unserer Umwelt, das kommt von woanders her. So darf ich hier beten, was in der Stephanuskirche am Ende jedes Gottesdienstes betend gesungen wird: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten, es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, den du, du unser Gott alleine! Amen. Ich danke Ihnen.

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