Gottesdienst am Sonntag Judica, 28.3.2004

in der Ev. Kreuzkirche zu Brilon
Einführung der neuen Presbyteriumsmitglieder

 

Lied vor der Predigt: Herr, stärke uns dein Leiden zu bedenken, EG 91, 1-5:

1. Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, / mich in das Meer der Liebe zu versenken, / die dich bewog, von aller Schuld des Bösen / uns zu erlösen.

2. Vereint mit Gott, ein Mensch gleich uns auf Erden / und bis zum Tod am Kreuz gehorsam werden, / an unsrer Statt gemartert und zerschlagen, / die Sünde tragen:

3. welch wundervoll hochheiliges Geschäfte! / Sinn ich ihm nach, so zagen meine Kräfte, / mein Herz erbebt; ich seh und ich empfinde / den Fluch der Sünde.

4. Gott ist gerecht, ein Rächer alles Bösen; / Gott ist die Lieb und läßt die Welt erlösen. / Dies kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken / am Kreuz erblicken.

5. Seh ich dein Kreuz den Klugen dieser Erden / ein Ärgernis und eine Torheit werden: / so sei's doch mir, trotz allen frechen Spottes, / die Weisheit Gottes. [Auf diese Strophe wird in der Predigt Bezug genommen.]

 

 

Predigt  Hebräer 5, 5-7
vgl. dazu auch die vor genau 6 Jahren in Deilinghofen über diesen Text gehaltene Predigt hier

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Eben schon in der Epistellesung hörten wir den für den heutigen Sonntag Judica zum Predigen vorgeschriebenen Text. Er ist Ihnen vor Augen auf den ausgegebenen Textblättern, und sie können ihn verfolgen, wenn ich diese drei Verse hier noch einmal lese, Hebr. 5, 5-7:

Und er [Jesus] hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden

Liebe Gemeinde in Bestwig an diesem besonderen Sonntag mit der Einführung der Presbyteriumsmitglieder! Elf Tage sind’s bis zum Tiefpunkt der Passionszeit, bis zum Karfreitag, und der Text, den wir eben hörten, hat so viel vom Karfreitag in sich! Er handelt von Tränen, von Bitten und Flehen, und alles zusammengefasst handelt er vom Schreien, er handelt damit auch von jenem großen Schrei, von dem es heißt: „Und er schrie laut und verschied...“.

Ich habe auf den ausgegebenen Blättern Ihnen ein Bild mitgebracht, das Ihnen da auf dem Blatt vor Augen steht. Es ist die berühmte Lithographie „Der Schrei“. Dieses Bild mit dem Titel „Der Schrei“ stammt vom norwegischen expressionistischen Maler und Graphiker Edvard Munch, geboren 1863, gestorben 1944, die Munch als fast 30jähriger schuf. Es ist für mich zwar ein Angst machendes und dabei doch faszinierendes Bild, das - wie ich finde - über menschlichen Schmerz mehr aussagt als viele Worte.

Was sehen wir da? In einer kalten nordischen Küstenlandschaft, in einer unruhigen und furchterregenden Atmosphäre, steht da die Frau im Vordergrund, die Frau, aus der es heraus schreit. Schiffe mit Masten wie Kreuze im Hintergrund, und anscheinend ganz unbesorgte Spaziergänger da am Rande des Bildes... Mit langen bleichen Fingern hält die Frau ihren Kopf. Weit aufgerissen ist ihr Mund: sie schreit. Ja: sie ist ganz Schrei! Man hört es förmlich aus dem Bild heraus, wie sie schreit. Ein Schrei, der die Welt nicht mehr erträgt; ein Schrei - ins Leere anscheinend, oder!??

Liebe Gemeinde, Leute, die von Kunst was verstehen, haben gesagt, dieses Bild von Munch sei ein Symbol, ein ausdrucksstarkes Sinnbild für den modernen Menschen und darum, wie es um ihn steht. Und ich denke, das gilt auch heute noch am Anfang des 21. Jahrhundert, und wie!

Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, wenn Sie mit dem Bild von Munch nicht so viel anfangen können. Um Lehrreiches geht es jetzt nicht, und auch nicht um Kultur und Kunstgenuss am Sonntagvormittag.

Es geht viel mehr darum, und wie!, dass wir im Horizont des heutigen Predigttextes wahrnehmen, wie viel Schrei da ist in unserer Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Da ist das herzerschütternde Geschrei von Müttern, die in den Krisengebieten des Nahen Ostens da mit ansehen müssen, wie ihre Kinder und andere von Bomben zerfetzt werden. Da ist der stumme Schrei einer ganz alten sehr Witwe aus meiner alten Gemeinde in Deilinghofen, die nicht mehr konnte und die ich vorgestern abend dringend besuchen musste: „Herr Pastor, kommen Sie, auch wenn Sie die Deilinghofer Gemeinde nicht mehr haben, bitte besuchen Sie mich, ich bin so verzweifelt und depressiv!“

Da ist der Schrei von Leuten, die aufgrund von Unrecht, das Menschen angerichteten , von geradezu „himmelschreiendem“ Unrecht, in der 3. Welt Hunger und Folter zu ertragen haben - genauso wie der leise, fast lautlose Schrei zahlloser junger Leute unter uns, die kaum Aussicht haben, ein Leben mit Zukunftsperspektiven zu führen, und deren fast lautloser Schrei heißt: „Wo ist für mich ein Leben mit Sinn, ein Leben, für das es sich zu leben lohnt?“

Vor lauter solchem Schreien, vor lauter menschlichen Passionsgeschichten und Leidensgeschichten in unserer Zeit möchte man sich am liebsten die Ohren zuhalten - oder den Schreienden den Rücken zuwenden, wie die Spaziergänger da auf Munchs Bild.

Und wenn du selbst in deinem Leben schon einmal vor Angst geschrien hast, herzzerreißend geschrien, dann wirst du es mitfühlen, bei diesem Bild und vielleicht sagen: Diese Frau da ist ein Stück von mir und der Wirklichkeit, die mich umgibt. Ein Schrei ins Leere, oder?

Ich werde da erinnert, was mir vor einiger Zeit ein Bekannter erzählte: Er war in einen Autounfall verwickelt - und da war jener junge Mann, der - über seine schwer verletzte Freundin gebeugt - schrie und schrie und nicht wieder aufhörte, so dass es durch Mark und Bein geht. Mein Bekannter meinte: „Jener Schrei geht mir nie wieder aus den Ohren...“

Ich könnte da auch von meinen eigenen Schreien erzählen, Schreie, die aus mir selbst kamen, wenn ich ehrlich bin, gab’s da mehr, als mir lieb ist. Aber das mögen Sie auch so fühlen: Davon spricht man fast nie, eben deshalb, weil man nicht gern einen andern beim Schreien zuhören lässt. Und so haben wir es ja auch gelernt: Ein Junge, ein Mann weint doch nicht - das macht man tief drinnen mit sich selbst ab. Oder man zieht nach außen eine glatte Oberfläche, eine Fassade drüber: „Indianerherz kennt keinen Schmerz!“ Und im gleichen Maße, wie wir uns in solcher Weise gefühllos und „cool“ geben, in gleicher Weise wird von uns das stumme oder lautere Schreien in unserer Nachbarschaft und in der weiten Welt so oft stumpf und gleichgültig überhört. Und im gleichen Maß wächst unsere Unfähigkeit zu trauern.

Bei all dem sind wir lange schon mitten drin in unserem heutigen Predigttext aus Hebräer 5! Da wird uns gezeigt: Die Passionsgeschichte Jesu wirft an dieser Stelle all das, was „man“ tut und wie „man“ umgeht mit dem Schreien, total über den Haufen! Und unser heutiger Passionstext aus Hebr. 5 zeigt das in zugespitzter, fast anstoßerregender Weise.

Ja, da wird das Schreien, dieses heikle Thema, beim Namen genannt. Ein Mann schreit, ein Mann weint herzzerreißend! Oder wie’s da heißt: Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien Gott dargebracht. Ja, wie der Hebräerbriefschreiber das beschreibt, sieht es für ihn fast so aus, dass ihm von dem irdischen Leben Jesu gar nicht seine großen Worte, seine Machttaten und Heilungen bedeutsam waren, sondern was ganz anderes: seine anstoßerregende Leidenswirklichkeit, Jesu Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen, wie es da steht. Und wer würde da nicht an den Leidenskampf Jesu vor seinem Tod im Garten Gethsemane erinnert, wo Jesus verzweifelnd und angefochten schrie: „Lass diesen Kelch von mir gehen“ - und wo sein Angstschweiß wie Blutstropfen auf den Boden fiel!? Wer würde da nicht an Golgatha erinnert, wo Jesus, der unschuldig zum Schuldigen Gemachte, in den Himmel hinaus schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum...?“

Liebe Gemeinde, ich finde es gar nicht an den Haaren herbeigezogen, dass da auf Ihrem Blatt dieses Bild von Edvard Munch ganz dicht bei diesem Passionstext aus Hebr. 5 steht! Der Mann von Golgatha und Gethsemane - hier in ganz enge Beziehung gesetzt mit dieser Frau da... Beidesmal Menschen, die ganz Schrei sind, beidesmal die bange Frage: Geht der Schrei ins Leere!? Wird der Schrei gehört, erhört!? ER, der von den Christen als „Sohn Gottes“ tituliert und bekannt wird, dieser Mensch wird ganz Schrei.

Das hält man nicht gut aus! Und die Passion Jesu, liebe Gemeinde, ist ja jetzt in diesem Jahr in aller Munde wie nie zuvor in aller Welt durch den großen Jesusfilm von Mel Gibson. Dass Jesus da schreit und blutet, wer weiß wie, waidwund von Schmerz wird wie ein Tier vor dem Verenden, das halten die Klugen dieser Welt, wie wir eben vor der Predigt gesungen haben, nicht aus, die Juden nicht und nicht die Griechen, und viele sagen dann: „Der Film ist unmöglich und skandalös!“

Nein, da muss man etwas tiefer bohren! Hier bei diesem Mensch, der in seiner Passion ganz Schrei ist, geht es im Kern in der Tat um etwas, was die Klugen dieser Welt und die Klugtuenden nie kapieren werden: Es ist  eine skandalöse unerhörte Botschaft rund um das Kreuz, das Herzstück des Glaubens! Es ist eine Revolution in dem Bild, das sich Juden und Griechen und Heiden und wir alle von einem Gott machen und jeder mit gesundem Menschenverstand mag da die Stirn runzeln und die Nase rümpfen, dass dieser einzigartige Mensch Gottes, er, „der Sohn“, da heult und schreit und weint und Tränen in den Augen hat!

Wo das doch schon bei uns schon ganz unstatthaft ist und zutiefst peinlich, wenn Männer weinen oder gar Angstschreie ausstoßen - wie kann man da an solchen anstoßerregenden „heulenden Heiland“ in seiner puren Schwäche glauben?

Aber gerade das, was dem gesunden Menschenverstand nicht in den Kopf geht, dass solche ein Mann der Schwäche, solch ein „heulender Heiland“ mit seinem Blut und mit seinen Kämpfen als Gekreuzigter der Mittelpunkt des Glaubens wird, das ist für jeden von uns heute morgen die alles entscheidende Botschaft unseres Textes:

Nämlich du bist mit deinem Kreuz und mit deinem Schreien nicht allein, wenn du dich an diesen gekreuzigten Jesus klammerst. Denn diese Gehorsamsgeschichte, wie der Hebräerbrief sagt, kriegt ihr Licht von der anderen Seite her. Von Ostern, dem großen Licht aus Gottes Ewigkeit.

So wie Jesu Schrei in Gethsemane und Jesu Schrei auf Golgatha nicht in einen leeren Himmel ging, so gehen deine Schreie und meine Schreie nicht ins Leere! Gebete von Leuten, die in Jesu Gehorsamsgeschichte dabei bleiben, Gebete von Leuten, die Jesus gehorsam nachfolgen, Gebete von Zweifelnden und Verzweifelten, die im Namen des Gekreuzigten vor Gott kommen, wird Gott nicht unbeantwortet, nicht unerhört lassen - genauso konnte ich es in meinem Leben immer wieder nachbuchstabieren und viele andere mit mir! Und das deswegen, weil Gott in diesem Jesus und seinem Schreien unser eigenes Schreien, dein Schreien und mein Schreien, mit ans Kreuz von Golgatha gebracht hat, weil ER die Schreienden „hohenpriesterlich“, wie es der Hebräerbrief sagt, vor Gott vertritt.

ER hat, wie Hebr. 5 das sagt, Bitten und Flehen dem dargebracht, der ihn vom Tod retten könnte, und ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt, eben den Gehorsam der Nachfolge, den Gehorsam der Kreuzesnachfolge.

Diese Nachfolge des Gekreuzigten, darum geht es für die Presbyterinnen und Presbyter in Bestwig heute und anderswo und für uns alle, Kreuzesnachfolge im Gehorsam zu ihm ist viel wichtiger als alle klugen Sitzungen, die wir machen, wo es um Geld geht oder Pläne und Kirchenkram. Es kann, auf diese Kreuzkirche hier bezogen, auch heißen: dass Sie, dass wir "Leute der Kreuzkirche" werden, die IHM dem gekreuzigten, nachfolgen, ihn im Blick behalten als Nr. 1...

Es geht darum, und das ist die Zukunftsfrage der Kirche, das A und das O, das ER, der Urheber unseres Heils, wie es am Ende des Textes heißt, wieder die Nr. 1 wird in der Gemeinde.

Wenn wir sein Leiden ansehen, sein Schreien, sein Kreuz und uns von ihm dann neu ausrichten lassen, dann haben die Depressionen der alten kranken Witwe nicht das letzte Wort, dann kann ich sie besuchen, ihr nah sein und ihr Leiden betend unter Jesu Kreuz bringen. Und ganz viel anderes Kreuz, ganz viel anderes Schreien seh ich dann auch mit anderen Augen, die Trauernden hier, die Jungen ohne Sinn hier, die Gefolterten und Hungernden in der 3. Welt - da kann ich eine Menge tun und vor allem auch Fürbitte leisten. So wie es der Text heute sagt: der, den andere als „heulenden Heiland“ beiseite schieben, ist der Urheber des Heils geworden! Und er lässt mich kraft seiner Leiden meine zur Schau getragene glatte Männerfassade ablegen, die vom Weinen nichts zugibt, und er macht mich und dich zu mitfühlenden, mitschreienden und mitbetenden Menschen, deren Gebete eben nicht in einen leeren Himmel gehen.

Und ein letztes, auch zu dem Bild da auf dem Blatt: Sollte nicht jeder, der Christ ist anders, viel seelsorgerlicher mit dem Schreien in seiner Umgebung umgehen - im Wissen, dass jeder kreatürliche Schrei um uns herum tief innen ein Schrei der geängsteten Seele nach Gott ist, und dass dieser Schrei nur bei Jesus Antwort findet, bei ihm, dem Urheber des ewigen Heils?

Und der Friede... Amen.

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