Gottesdienst am 19. Sonntag nach Trinitatis, 29.10.2000 in Deilinghofen
Markus 2, 1-12
 

Der Wochenspruch ist auch die Überschrift des heutigen Gottesdienstes: Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen. (Jeremia 17,14)

Vorgeschriebene Evangeliumslesung Markus 2, 1-12 (als heutigen Predigttext ausgewählt, es liest die Konfirmandin Linda Tekuttis):
Und nach einigen Tagen ging er, Jesus, wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Das Lied vor der Predigt (genau zum obigen Predigttext passend) ist das Wochenlied EG 320: "Nun lasst uns Gott dem Herren..."
1. Nun lasst uns Gott dem Herren
Dank sagen und ihn ehren
für alle seine Gaben,
die wir empfangen haben.
2. Den Leib, die Seel, das Leben
hat er allein uns geben;
dieselben zu bewahren,
tut er nie etwas sparen.
3. Nahrung gibt er dem Leibe;
die Seele muss auch bleiben,
wiewohl tödliche Wunden
sind kommen von der Sünden.
4. Ein Arzt ist uns gegeben,
der selber ist das Leben;
Christus, für uns gestorben,
der hat das Heil erworben.
5. Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl
dient wider alles Unheil;
der Heilig Geist im Glauben
lehrt uns darauf vertrauen.
6. Durch ihn ist uns vergeben
die Sünd, geschenkt das Leben.
Im Himmel solln wir haben,
o Gott, wie große Gaben.


Predigt am 19. So. nach Trinitatis, 29.10.2000 über Markus 2, 1-12

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde, es ist eine Marotte bei mir, ein kleiner Tick, glaube ich, dass ich so in Predigten hier ziemlich oft auf meine alte Kinderbibel zu sprechen komme, und ich habe mal nachgedacht, warum das so ist. Und beim näheren Nachdenken über das mit der Kinderbibel, da dachte ich: Das müsste doch eigentlich vielen so gehen und ist - recht bedacht - viel wichtiger, als man zuerst vermutet! Das, was wir als kleine Kinder in der Kinderbibel lasen oder vorgelesen und erzählt bekamen, diese Geschichten, diese Bilder von damals, die werden doch eigentlich von uns, wenn wir einen Glauben haben, ein ganzes Leben bearbeitet innerlich. Und wenn wir keinen Glauben haben – ja, dann ist das wohl nicht viel anders, dann hat das auch was mit der Kinderbibel-Stufe zu tun, dann wird das alles mit Jesus auf der kleinkindlichen Stufe des Bilderbibel-Lesens "festgefroren" – und so ist dann Glauben für Leute, die damit fertig sind: das Märchenhafte von damals aus alten Kindertagen, in der Bilderbibel noch schön farbig, damals in Kindertagen – und heute für den Alltag unbrauchbar, für mündige Erwachsene ungenießbar. "Weg mit dem Kinderkram", so sagen dann diese Glaubenslosen, die so oft noch auf der Stufe der Kinderbibel innerlich stehen geblieben sind in Wahrheit!
Was ich hier meine, das haben wir noch neulich in der Reihe zur Schöpfung mit Euch, mit Linda, die eben las und mit den andern Konfirmanden, besprochen: "der Mensch aus einem Erdenkloß geschaffen", wie stellte ich mir das vor als Kindergartenkind – und wie stell‘ ich mir das heute vor, wenn es heißt: von Erde bist du gemacht und zu Erde sollst du wieder werden? Kurzum: Kindervorstellungen und Kinderbibeln sind viel wichtiger, als wir meinen: da kann ich mir klar dran machen, wo ich heute stehe und welches Bild ich davon habe.
Und genau deshalb habe ich heute mit Bedacht meine alte zerfledderte Kinderbibel hier mitgebracht, diese zerfledderte und zerlesene hier: "Die heilige Schrift in 64 Bilder von Schnorr von Carolsfeld" steht vorne drauf in diesem mir sehr wichtigen Buch. Und die von Linda eben gelesene Geschichte des heutigen Sonntagsevangeliums aus Markus 2, die lese ich hier noch einmal, diesmal nach dieser meiner alten Kinderbibel als Predigttext für heute.
Hier steht zu dem dazugehörigen Bild:

Als Jesus in einem Haus lehrte, wollten einige Männer einen Gichtkranken zu ihm bringen. Vor der großen Menge von Menschen konnten sie aber nicht zur Tür herein. Da stiegen sie auf das flache Dach, deckten einige Ziegel ab und ließen den Kranken herunter vor Jesu Füße. Der Herr sprach zu dem Kranken: "Dir sind deine Sünden vergeben! Stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim!" Und er stand auf und nahm sein Bett und ging heim.


Liebe Gemeinde, das kurze Stück hier, das ist zwar nicht alles, was in der "richtigen" Bibel steht, wie es Linda eben las, aber es ist das Wichtigste. Und alles andere konnte man als Kind sich hier auf dem Bild von Schnorr von Carolsfeld zusätzlich wunderbar klar machen! So’n Bild angucken, das war besser als Fernsehen. Da sieht man hier rechts die Pharisäer und Schriftgelehrten, so richtig typisch, mit strengen Gesichtern und langen Bärten, die heben schimpfend die Hände hoch - man sieht förmlich, wie die mit erhobenem Zeigefinger lamentieren: "So’n Gotteslästerer, Sünden vergeben, das kann doch allein Gott!!!"
Und dann das nach oben aufgedeckte Dach. Ich weiß noch gut, das fand ich am spannendsten! Dach aufdecken, weil alles rappelvoll ist mit Leuten – vier seiner Kumpel decken für den Kranken das Dach auf und lassen ihn runter, auf dem Bett auf der Bahre, hier mit den langen und starken Seilen, runtergeseilt zu Jesus! Ja, das weiß ich noch genau, das fand ich damals, als ich klein war, immer ein bisschen ähnlich wie bei einem andern schönen Bild aus einem Buch zu Kinderzeiten: in "Max und Moritz", als diese beiden Streichespieler der Witwe Bolte auch von oben durch den Schornstein bis in Haus kommen mit ihrer Angel und da die bratenden Hähnchen klauen – aber hier bei Jesus, das fand ich noch besser! Da war es eine Glaubensgeschichte, kein lustiger Streich nur: Sie machen sich Mühe, hieven den da hoch, lassen ihn von langen Seien runter, und Jesus hat da auf einmal welche über sich, mit ihrer großen Bitte: "Unser kranker bettlägeriger Kumpel soll auf eignen Füßen stehen". Und dann im Kindergottesdienst, in der Schwerter Sonntagsschule, da habe ich es gehört, dass das so ungewöhnlich gar nicht war, wegen der Häuserbauart dort in Palästina, dass da in Kapernaum, wo Jesus da lebte, die Häuser flach, einstöckig und in Leichtbauweise konstruiert waren, wie’s uns die Tante Saamann da erzählte, sonntags in der Kinderstunde: die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen.
Können Sie das nachvollziehen, war’s bei Ihnen ähnlich? Eine wunderbare Geschichte, mir da als kleinem Kind unendlich intensiv nahegebracht mit diesem recht romantischen Bild von Schnorr von Carolsfeld, an dem ich mich übrigens damals schon daran stieß, dass Jesus immer einen Heiligenschein auf hat, das fand ich blöd. Und manchmal wie hier bei der Tempelreinigung, da hat er so wie einen gelblich-strahlenden Teller als Heiligenschein, das fand ich noch blöder. Jedenfalls das andere alles wunderbar, wunderbare Geschichte, wunderbarer Jesus, mein Jesus, der Jesus aus Kindertagen, der Wunder tut. Und dann kam’s, liebe Gemeinde, dann kam es knüppeldick! Und ganz viel hatte das mit dieser Geschichte zu tun und mit diesem Bild von Schnorr von Carolsfeld aus dieser Bibel...
Friedhelm Groth, damals sechs Jahre, wurde für knapp zwei Jahre von den Eltern getrennt, kam weg, über 500 km weg von zu Hause, da in die Klinik, bewegungslos dort ins Gipsbett, nur 1x im Monat Besuch für 90 Minuten, Wirbeltuberkulose und Hirnhautentzündung, Ende der Kindheit, schon mit sechs und mit sieben Jahren. Und gerade mit dem Bild von dem geöffneten Dach hatte das eine Menge zu tun. Wohl hundert Mal, wohl tausend Mal habe ich mir das angeguckt, genau dieses Bild. Der Kranke, der da jammert auf der Bahre und betend die Hände zu Jesus hochhebt, und Jesus da über ihm, Jesus mit seinem bei mir Anstoß erregenden Heiligenschein, und noch eine Stufe höher auf Dachebene, die vier Kumpel, noch nie habe ich in meinem ganzen Leben über eine Geschichte so viel nachgedacht und auch geweint, wie da über diese, die mich geradezu teuflisch provoziert hat: "Jesus meiner Kindheit, wo bist du? Warum kannst Du heute keine Wunder mehr, oder doch? Warum gibt es keine Kumpel mehr, die auf einer Bahre auf Stricken einen dir zu Füßen legen und du sagst dann einfach: Dir sind deine Sünden vergeben, stehe auf und geh, nimm dein Bett und gehe heim!" Ja, liebe Gemeinde, Spuren hat diese Geschichte hinterlassen, wer weiß wie! Und diese Spuren, von denen hat die alte Bilderbibel etwas mitgekriegt, denn eines Tages konnte ich dieses Bild absolut nicht mehr sehen, und ich habe da, das muss im Sommer 1955 gewesen sein, da war ich 7, dort im Bett der Klinik einen Blaustift genommen und habe dieses Bild zugekrickelt, den Kranken da mit dem Stift (wie hier zu sehen ist) durchgestrichen und den Jesus auch. Auch ein Kommentar, ein durchaus theologischer Kommentar zur Frage nach Jesus, wie wunderbar der ist, der wundertuende Jesus der Kindertage. Ich lass hier vieles aus von dem, was damals war, und nehm den Tag, wo diese Geschichte ganz neu mir auf die Pelle rückte. Da kann man ein genaues Datum für angeben, denn das war morgen vor 45 Jahren, am 30.10.55, haargenau an dem Tag, als ich 8 wurde... Als nach allem Schweren der mit Blaustift durchgekrickelte Jesus da noch anders zu mir gekommen war und mir gesagt hatte: "Aufstehen, das Bett brauchst du nicht zu nehmen, aber du bist wieder gesund und kannst gehen, wo ich die allerersten Schritte nach zwei Jahren an genau jenem 30.10.55 machte, "stehe auf, und sieh, wie ich heute nicht mehr für möglich geglaubte Wunder tue!"
Wie war das, liebe Gemeinde? Ein Leben lang bearbeitet man Grundfragen der Kindheit, und ein wirklich gereifter Glaube weiß von solchen Jesus-Fragen, wie die in einem wühlten und wühlen, das ist ganz sicher bei mir nicht allein so, das ist bei allen so, die glaubend reifen. Da ist die Frau, die nach dem schweren Trennungsschmerz als Witwe vieles nicht verarbeitete und vor allem nicht mehr: "Stern, auf den ich schaue", hören kann, ohne in Tränen auszubrechen, bis sie’s dann neu singt und singen kann. Ja, da sind welche, denen geht es wie ein Stich durch’s Herz, wenn sie nur den heutigen Wochenspruch hören: "Heile mich, so werde ich heil, hilf mir, so ist mir geholfen!", und die in eigenen tiefen Krankheitsanfechtungen es schwer haben, die eben gesungene Zeile mitzusingen: "Ein Arzt ist uns gegeben, der selber ist das Leben!"
Ja, und wenn wir in Deilinghofen  jetzt
Evangelisation haben ab heute Abend, und der Dr. Stricker aus "Bethanien", selber Arzt, bringt morgen Abend als Arzt und Christ das Thema: "Jesus Christus – Einladung zum Heilwerden" – dann geht’s eigentlich um die gleiche Geschichte: dass Du und dass ich eingeladen werden in all unsern zerwühlten Erfahrungen, bei Jesus neu Heil und Heilung zu finden. Dass da der ganze Mensch, bis ins Leibliche rein und bis in seine Lebenswunden und Lebensnarben rein, etwas von der heilenden Kraft dieses Jesus erfährt, die er bis heute besitzt, Gott sei Dank! Und ich habe gedacht: Wie komisch, ausgerechnet morgen, also 45 Jahre später dann hier in Deilinghofen, noch einmal: Einladung zum Heilwerden, an mich und an uns alle.
Ja, vielleicht sollten wir uns da noch mal in die Geschichte mit dem offenen Dach dort in Kapernaum reinversetzen. Denn das, worüber die Schriftgelehrten mit erhobenen Zeigefinger da sich fürchterlich aufregen, das ist ja gerade das Allerinteressanteste und Wichtigste, der Clou und Knackpunkt an der ganzen Geschichte. Wie sagt Jesus da? "Dir sind deine Sünden vergeben!" Und das kriegen die nicht in den Kopf: Wie kann das jemand sagen??? Und Jesus, selbst als Heilender noch provozierend, setzt da einen drauf und sagt zu den Gegnern und der Menge dort im Haus in Kapernaum: "Damit ihr aber wisst, daß der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!" Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen.
Sündenvergebung und leibliche Gesundung, Seele und Leib, beides kriegt da untrennbar bei Jesus eine neue Hoffnung: als er den wieder auf die eigenen Füße stellte, der hoffnungslos unten war. Und manche kapieren es, dass es bei diesem Jesus bis heute so ist, dass er die, die hoffnungslos unten sind, sündenvergebend und heilend wieder auf eigne Füße stellt, so dass heute Menschen diese Wundermacht – ähnlich wie eben erzählt - in ihrem eigenen Leben wiederfinden.
Und nachdem bis hierhin die Geschichte und die Predigt, denke ich, kindereinfach zu verstehen war, "kinderbibeleinfach" sozusagen, will ich am Ende der Predigt "schwerer" werden und zwei Tage vor dem Reformationstag an einen wichtigen Gedanken von Martin Luther erinnern, der direkt dazu gehört: In einer Predigt äußerte sich Luther, der Reformator, auf seine eigene hintersinnige Weise dazu, was vom ganzen Glaubensbekenntnis der schwerste Satz zu glauben wäre, und er meinte: der schwerste Satz ist zugleich der zentrale und wichtigste Satz, mit dem alles steht und fällt. "Ich glaube an Gott, den Schöpfer", so dahinzusagen, ist leicht zu glauben, meinte Luther, "dann meinen die Leute, das hätte mit Vorzeiten zu tun, mit Adam und Eva, und das sagen sie dann eben so: als Satz, der einen nicht viel angeht und in dem es nicht um viel zu glauben geht, und genauso bei "Jesus Christus und gelitten unter Pontius Pilatus" usw.: das sagt man so, und meint dann (so Luther): Das geht den Petrus an und den Paulus, was geht das mich an, aber das Glaubensbekenntnis geht dann weiter, meinte Luther in jener Predigt damals, geht weiter bis zu einem kleinen Ausdruck, der in Wirklichkeit das Wichtigste ist: Ich glaube "Vergebung der Sünden", da, genau an dem Punkt vollends, stellt das Glaubensbekenntnis eine Frage an dich und mich persönlich, und da wird’s existenziell und rückt dir auf die Pelle: Glaubst du, dass deine Sünden vergeben werden müssen und können? Und wenn du da "Ja" sagst und persönlich die Vergebung der Sünden glaubst und dich drauf einlässt, dann hast du die Mitte, woher alle andern Sätze des Glaubensbekenntnisses, Gott, der Schöpfer, und Jesus, gekreuzigt, gestorben und begraben usw., ihren Sinn kriegen; dann nämlich geht das nicht mehr nur Petrus und Paulus an, sondern dich und mich, dass du dir von Jesus sagen lässt undich mir: Dir sind deine Sünden vergeben, stehe auf zu einem neuen Leben! So weit Martin Luther zur Vergebung der Sünden.
Solches Bekenntnis zum Glauben und solches neue Leben schenke in seiner Wundermacht der Jesus, der bis heut dich und mich heil machen und auf die Füße stellen kann, der damals in Kapernaum sagte und heute hier in Deilinghofen sagt: "Stehe auf, deine Sünden sind dir vergeben." Amen.

Weiter geht es hier:  www.pastoerchen.de 

Zu anderen Deilinghofer Predigten unter: www.kanzel.de.vu