Gottesdienst am 31.10.1996 Reformations-Gottesdienst im Lutherjahr

Predigt Remake vom Reformationstag vor 9 Jahren

Joh.8, 3-11

Vorbemerkung: Im Lutherjahr ‘96 - 450 Jahre genau nach dem Tod des Reformators - grüße ich Sie alle, liebe Gemeinde, aufs herzlichste zum heutigen Reformationstags-Gottesdienst mit Beichte und Feier des Heiligen Abendmahles. Ich wünsche uns einen guten Abend und einen gesegneten Gottesdienst. Dem Gottesdienst haben wir aus aktuellem Anlass eine Überschrift gegeben: "Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang".

"Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang". Von Freitag bis Sonntag haben wir mit unserem Presbyterium an der Ostsee drei Tage über dieses Thema geredet: über unser Gemeindesituation und über das Thema Martin Luther, und auch das fließt indirekt in diesen Gottesdienst ein.

"Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang". Direkt davor waren wir eine Woche mit 31 Nachkonfirmanden in Brandenburg, und da ging’s für Jugendliche zwischen 14 und 18 um das gleiche Thema: Wie werde ich frei und wie lebe ich frei als Christ, wie kann ich neu anfangen mit Jesus, wo doch alle sagen, Christen wären nicht frei und die Konfirmation sei ein Schlusspunkt... Viele von uns machten da einen Neuanfang, der sich in einer abschließenden Taufe einer 18jährigen auch zeigte. ---

"Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang". Ein Traugespräch vorgestern abend von Zweien, die sich "freien" (wie man sagt) und morgen hier getraut werden, drehte sich um den gleichen entscheidenden Punkt: wie gehört Kirche und Freisein zusammen, wie führt Glaube mitten im Leben in die Freiheit.

 

Reformationstagspredigt 1997 Deilinghofen, Text: Joh. 8, 3-11

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

"Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang". Liebe Gemeinde, eingangs deutete ich an, dass zwei hinter und liegende Freizeiten und ein Traugespräch in dieser Gemeinde aktuell eine ganze Menge mit dieser Kernfrage des Glaubens zu tun hatte: wie heute Leute einen "gnädigen Gott kriegen" und befreit werden zu jener herrlichen "Freiheit der Kinder Gottes", die einen Luther so bestimmt hatte. Und sehr mit Bedacht wählen wir zum Nachdenken über das reformatorische Zentrum des Glaubens in dieser Predigt einen Text, der in diese Richtung führt und über den ich ganz ähnlich auf dieser Kanzel vor neun Jahren - am 31.10.1987 - gepredigt hatte. Ich predige das hier in sehr ähnlicher Weise noch einmal und weiß dabei sehr wohl, was Sie vielleicht auch merken: daß das keine "ollen Kamellen" sind. Hören wir zum Thema "Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang" Johannes 8, 3-11:

Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Liebe Gemeinde, Petersburg in Russland. Man schreibt den 22. Dezember 1849. Ort des Geschehens: ein Kerker, in den der Zar Nikolaus der I. zehn Oppositionelle und angebliche Aufrührer eingelocht hatte. Zehn schlotternde, angstbebende Leute, die das Weihnachtsfest kurz drauf nicht mehr erleben würden. Unter ihnen ist ein Mann, der bis heute weltberühmt ist, der größte Dichter Russlands aller Zeiten, der tiefsinnige Gottsucher und Christ Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Jener 22. Dezember ist der Tag ihrer Hinrichtung. Abgründe, Einsamkeiten, nie gekannte Verzweiflungen tun sich in ihnen auf, als sie frühmorgens aus dem Kerker geholt werden und gebunden auf den Semenosk-Platz in Petersburg geführt werden, wo die Masse ihre Hinrichtung schaudernd und sensationslüstern begaffen will.

Es ist soweit. Der Henkersknecht legt Dostojewski die Augenbinde um. Noch wenige Sekunden; dann ist alles vorbei. Das ganze Leben rollt jäh wie ein Film vor seinem inneren Auge ab - in Sekundenschnelle. Doch, was ist das? In letzter Sekunde ist Pferdegetrappel zu hören, das lauter wird. Der Bote des Zaren bringt eine Urkunde: "Im Namen des Zaren Nikolaus des I.: Freispruch, Begnadigung, Neuanfang!"

Liebe Gemeinde, dieser Dostojewski hat in einem seiner Romane dieses eigene Erlebnis vom 22. Dezember 1849 in ganz erschütternder Weise beschrieben und verarbeitet. Das, was er an diesem Tag erlebt hat, war ihm lebenslang ein Schlüsselerlebnis, ein Schlüsselerlebnis für Gottes Begnadigung, die ihm Neuanfang gewährte.

Szenenwechsel, ein anderer Ort: Jerusalem, im Jahr 28 oder 30 nach Christus. Eine Szene, die der anderen in Petersburg auf innigste gleicht. Kein bisschen weniger erschütternd. Man hat sich eine Frau vorgeknöpft, eine Frau, der man aus guten Gründen einiges am Zeug flicken kann - eine Frau mit Vergangenheit. Man hat die Steine schon bereit, um ihr und ihrem Tun den Garaus zu machen. "Diese Frau ist ergriffen auf frischer Tat beim Ehebruch", so lesen wir da in Johannes 8 und hörten’s eben. "Was sagst du, Jesus, da ist es doch rechtens, sie zu verurteilen, zum Tod durch Steinwurf, wie’s in der Schrift bei Mose steht!!?"

Und genau das ist die Falle, diese Steinewerfer haben nicht ein Opfer im Visier, sondern zwei, die Frau und den, den sie später kreuzigten.

Denn wenn er sich in seiner Liebe von Mose distanziert und sich auf die Seite der Sünderin stellt, dann ist der Skandal perfekt, dann haben sie Munition gegen ihn, ein paar weitere Nägel, mit denen sie ihn kreuzigen können.

"Vorsicht, Falle, Jesus!", will man da förmlich ihm zurufen, in die Geschichte hinein. Aber da kommt’s ganz anders, als jeder glaubt. Denn was tut Jesus: gar nichts... Er bückt sich bloß, seelenruhig, und schreibt mit dem Finger in den Sand, nachdem er einen einzigen Satz gesagt hatte: "Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie." Ein Satz, randvoll von Menschenkenntnis, Geistesgegenwart und Gottvertrauen. Ein Jesus-Satz, der die Situation klärt, der unter die haut geht wie kein anderer. Das ist die Wende. Steinewerfen findet heute nicht statt. "Da sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst", lesen wir da in Johannes 8.

Doch diese überraschende Wende, diese vollmächtige Klärung der Situation ist nicht einmal der Höhepunkt.

Denn der liegt am Schluß, als da einer jungen Frau, gequält von Schuld und Todesnot, in Angst wie Dostojewski an jenem Morgen in Petersburg, ihre Vergangenheit durchgestrichen wird, ihr Neuanfang ermöglicht wird, als dieser Jesus, der die Sünde genauso hasst wie er den Sünder liebt, auf den Kopf zusagt: "Du, wenn dich niemand verdammt hat, so verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr!"

Liebe Gemeinde, ich glaube, Jesus hat gelächelt dabei, und die Frau hat auch gelächelt, als sie dort von Zentnerlasten ihrer Existenz befreit wurde. Nun bin ich kein Todeskandidat wie Dostojewski in Petersburg 1849 oder wie diese Frau in Jerusalem, gottseidank. Aber das eine habe ich genauso nötig, gerade ich, dass ich an diesem Lächeln Jesu teilhabe, der mich freispricht und mir sagt: "Mensch, du darfst neu anfangen. Du brauchst keine Stein zu fürchten; du brauchst erst recht keine zu werfen. Geh hin ohne Sünde und fang neu an. Nicht einmal die alten Gesetze des Mose dürfen dich bedrohen. Das Alte ist vergangen; es ist alles neu geworden!"

Ja, liebe Gemeinde, wo so etwas passiert, wo wir in dieser Weise am Lächeln Jesu teilhaben, da sind wir dicht dran an Luther, denn um nichts andres ging‘s dem: um diesen Freispruch, um diese Sündenvergebung, die den Menschen freimacht. Wo dieses Freiwerden geschieht, da ist das Wichtigste der Reformation im Gange: Reformation heute - Freiwerden durch Sündenvergebung und Neuanfang! Oder dasselbe mit Martin Luthers Worten gesagt: Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben.

Und eben der lange Luther-Text, den wir bei der Lesung vom Lesepult her hörten, der bringt das Entscheidende aufs allerklarste heraus: Das ganze Glaubensbekenntnis - so Luther - können wir getrost vergessen, das gesamte Glaubensbekenntnis können wir noch so oft rauf und runter auswendig daherplappern, es bleibt sinnlos, wenn wir bei drei entscheidenden Worten persönlich nicht dabei sind, die im Glaubensbekenntnis am Ende stehen: "Vergebung der Sünden". Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Luther sagt, in diesen drei Worten, als Bekenntnis ausgesprochen, kommt alles zusammen "wie in einem Zirkel", und er meint, dass meine und unsere Erfahrung von Vergebung der Sünden die Mitte sei, um die sich alles dreht. Oder mit unserem Predigttext gesagt, dreht sich alles darum: dass wir uns einfach freisprechen lassen und Neuanfang wagen, und dass wir teilhaben an Jesu Lächeln, dass wir keine Angst haben vor spitzen Steinen (und erst recht das Steinewerfe lassen!). Daß wir uns auf den Kopf zusagen lassen, was Jesus der Frau sagt: "Ich verdamme dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!"

Wer’s fassen kann, der fasse es: Was da in Jerusalem passiert ist, kann heute hier passieren. Es passiert in Beichte in Abendmahl hier am Altar zumal! Freispruch passiert, Vergebung der Sünden, Neu-Anfang!

Und der, der solche Chance nicht meint nötig zu haben, weil er sich zu gut fühlt und OK, der lasse sich von Luther mit der ersten der 95 Thesen sagen, dass es nottut, auch in Deilinghofen, "dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei".

Also jeden Tag neu: Steine weg, und bitten, wie ich und du es bitter nötig haben, bitten, wie Jesus bat: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Das ist die Quelle von Neuanfang und Reformation heute. Wo du und ich was vom Lächeln Jesu spüren. Und andere spüren lassen. Amen.

Weiter:

www.stephanus-kirche.de und www.pastoerchen.de und www.mlhweb.de