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Die Apokatastasis pantōn, das Ziel der Werke Gottes
bei Friedrich Christoph Oetinger (1702 -1782)1
Dieser Aufsatz liegt in einer im August 2014 angefertigter
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Dass nach Oetinger
Leiblichkeit das Ende der Werke Gottes ist2, ist inzwischen theologisches
Allgemeingut geworden. Dass dieser berühmte und vielzitierte Oetinger-Satz
seinen Ort hat im Rahmen der eschatologisch-universalen Gedankenwelt Oetingers
und dass man ihm den andern Satz von der Apokatastasis als dem Ende oder dem
Ziel der Werke Gottes an die Seite stellen könnte, ist weniger bekannt.
Die verdienstvollen
neuerer Oetinger-Darstellungen – ich denke an die von Elisabeth Zinn, Rainer
Piepmeier und Sigrid Großmann – lassen nicht deutlich erkennen, was es heißt,
dass bei Oetinger die Apokatastasis pantōn, die Wiederbringung aller Dinge,
das Ziel der Werke Gottes ist. Zinn und Großmann kommen nur ganz beiläufig auf
das Apokatastasismotiv zu sprechen3, bei Piepmeier fehlt es ganz.
Zwar nimmt bei Piepmeier die Auseinandersetzung mit Oetingers Chiliasmus, also
die Auseinandersetzung mit der universalen Zukunftshoffnung in der ‚Güldenen
Zeit’ des Tausendjährigen Reichs, großen Raum ein4, doch entsteht
in seiner Arbeit der irreführende Eindruck, als komme nach Oetingers Erwartung
das vollkommene, unentfremdete Leben, die Harmonie der Lebenskräfte, bereits in
jenen 1000 Jahren auf der Erde vollends zur Erfüllung, wohingegen bei Oetinger
selbst das Millennium nur eine wichtige Durchgangsetappe ist auf dem Weg zur
universalen Harmonie aller Dinge.
Theologen, die sich
im vorigen Jahrhundert mit Oetingers Theologie beschäftigt haben, haben dem Apokatastasismotiv wesentlich mehr Gewicht zugeschrieben. Nur zwei Stimmen
seien hier genannt, die von Carl August Auberlen und von Carl Schmid.
Auberlen beschreibt
in seinem Oetinger-Buch von 1847 viele Seiten lang die Bedeutung des
Apokatastasisgedankens im Gesamtrahmen Oetingerscher Theologie und erhebt zum
Zusammenhang der Idee des Lebens mit Oetingers universaler Eschatologie hervor,
die Apokatastasis sei „die Consequenz der ganzen Oetingerschen Auffassung des
Christenthums: der Lebefürst muß alle Creatur aus dem Tod. auch aus dem andern
Tod zum Leben führen“5. Resümierend sagt Auberlen: „So leitet also
Oetinger selbst die Wiederbringung aller Dinge. die Zerstörung aller Teufelswerke
als die Oberwindung des Todes und Verschlingung desselben in’s Leben aus der
Idee Gottes und Christi ab; und so ist auch der letzte Schlußstein des Systems
aus der Idee des Lebens deducirt; das Ende kehrt in den Anfang zurück. ‚Alles
ist in Jedem und Jedes in Allem’ “6.
1870 hat der
württembergische Pfarrer C. Schmid in einem umfangreichen Aufsatz in den ‚Jahrbüchern für Deutsche
Theologie’ die Apokatastasislehren der schwäbischen Pietistenväter Oetinger und
Michael Hahn unter die Lupe genommen, wobei Schmid zu Oetingers Bedeutung in
dem Zusammenhang ausführt, dass „wir Oetinger als den eigentlichen Vater der
Wiederbringungslehre in der Form anzusehen haben, in welcher sie zu einem
Gemeingut des württembergischen Pietismus und bei einigen seiner Denomationen
fast zu einem Schiboleth geworden ist“7.
Über beide in den
Zitaten genannten Aspekte ist in dieser Arbeit nachzudenken: über die Bedeutung
des Apokatastasisgedankens im Gesamtrahmen des Oetingerschen Systems und über
die theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Auswirkungen der Oetingerschen
Apokatastasislehre im 19. und 20. Jahrhundert. Diese beiden Aspekte werden im
II. und III. Abschnitt dieses Aufsatzes in aller Kürze erörtert, während der I.
Teil sich knapp mit den theologiegeschichtlichen Voraussetzungen befasst, die
ein sachgemäßes Verständnis von Oetingers eschatologischem Heilsuniversalismus
ermöglichen (und die u. E. in zeitgenössischen Arbeiten zu Oetinger leider
nicht hinreichend berücksichtigt werden)8.
I.
Bekanntlich haben die Reformatoren und später die
lutherisch-orthodoxen Theologen das Lehrstück von den letzten Dingen mit großer
Vorsicht behandelt. Was Luther selbst betrifft, so liegt in dieser
Zurückhaltung mitnichten ein Mangel an eschatologischer Orientierung, sondern
vielmehr das tiefe Misstrauen gegenüber der Eigendynamik apokalyptischer
Hoffnungen, durch die die reformatorische Grunderkenntnis von der Rechtfertigung
allein aus Glauben verdunkelt werden könnte. Wenn nach Luthers Urteil das letzte
Buch der Bibel, die Johannesapokalypse, nicht in gleicher Weise ‚Christum
treibet’ wie etwa der Römerbrief, so geht es ihm dabei um den Sachverhalt, dass
die Rechtfertigungsbotschaft und das Christusgeschehen als Mitte der Schrift
nicht durch konkurrierende apokalyptische Spekulationen relativiert werden,
dass die theologia crucis nicht durch das Achtergewicht einer eschatologia
gloriae auf der Strecke bleibt. Auf diesem Hintergrund ist auch der XVII.
Artikel der Confessio Augustana zu verstehen, der von Christi Wiederkunft zu
Gericht und Heil handelt und in welchem gewisse chiliastische Lehren und die
Lehre von der Apokatastasis pantōn für unvereinbar mit den gemeinsamen
reformatorischen Grundüberzeugungen erklärt werden. Man muss diesen Artikel
nicht lesen als Plädoyer für eine dualistische Höllenmetaphysik, wohl aber als
Anweisung, bis zum Jüngsten Tag jene theologische Fundamentalunterscheidung von
Gesetz und Evangelium vorzunehmen und in der Weise einzuüben, dass die
lebensvolle Spannung des Christen als simul iustus et peccator nicht durch eine
durch Spekulation gewonnene securitas aufgehoben wird. Wenn in der Reformation
und später in der altprotestantischen Orthodoxie in solcher Weise recht
vorsichtig die christliche Zukunftshoffnung gelehrt worden ist, so steht
dahinter nicht eschatologische Gleichgültigkeit, sondern – und das gilt auch und gerade für die Orthodoxie – das Ziel
christlicher Hoffnung ist der nah bevorstehende ‚liebe Jüngste Tag’.
Diese Deutung der
Rechtfertigungsbotschaft als Mitte christlichen Glaubens im Horizont des
‚lieben Jüngsten Tages’ ist von maßgeblichen Vätern des lutherischen Pietismus
in Württemberg im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunächst vorsichtig und später
immer deutlicher korrigiert worden.
Trotz der in CA XVII . formulierten theologischen Kautelen ist in diesem Jahrhundert bei den wichtigsten pietistischen Theologen Württembergs einerseits die Lehre von dem 1000-jährigen Gnadenreich vor dem Weltende und andererseits die Lehre von der Wiederbringung Aller. der Apokatastasis pantōn nach dem Jüngsten Gericht. als entscheidender Bestandteil christlicher Endzeiterwartung verteidigt worden - allen orthodoxen Anfeindungen zum Trotz. Ein Nicht-Württemberger ist es gewesen, der den schwäbischen Vätern die Weichen gestellt hat für diese eschatologische Kurskorrektur, nämlich der Begründer des Pietismus auf dem Boden der lutherischen Kirche, Ph. J. Spener (1635 -1705). Spener hat seit seiner Programmschrift von 1675, den ‚Pia Desideria’, I eine von der lutherischen Orthodoxie abweichende eschatologische Überzeugung vertreten, die - wie neuere Forschungen zeigen - einen überaus bedeutenden Teil seines pietistischen Denkens und Handeins ausmacht: die sog. Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche, d. h. die Erwartung einer großen Gnadenzeit vor dem Jüngsten Tag. in der die Juden nach Röm. 11 bekehrt sein werden und Babel, d. h. das katholische Papsttum, gefallen sein wird (Offb. 18 f.). In dieser Gnadenzeit, so hat Spener wenig später vertreten, wird auch die Erfüllung der Verheißung des 1000-jährigen Reichs nach Offb. 20 stattfinden. Man kann bei Spener aufzeigen, dass sein auf universales Heil ausgerichtetes Denken einerseits eine deutliche Affinität zu den in CA XVII. verworfenen chiliastischen Lehren erkennen lässt, andererseits auch eine gewisse Nähe zu der ebenfalls in CA XVII. verworfenen Apokatastasisanschauung. In Württemberg hat Speners Hoffnung besserer Zeiten mehr Befürworter gefunden als anderswo; kirchenpolitisch erhält Speners Eschatologie seit dem Pietistenedikt von 1694 in der württembergischen Kirche Heimatrecht.
Die große Bedeutung des Schwabenvaters J.A.
Bengel (1687 - 1752) liegt darin, dass er
– bewusst auf Speners Bahnen, doch über diesen weit hinausgreifend – den
inkriminierten Begriff des Chiliasmus rehabilitiert und diesen
Lieblingsgedanken zeitgenössischer separatistischer Kreise in Württemberg
weiter kirchlich tolerabel macht in einem Zweifrontenkampf zwischen
separatistischem chiliastischen Radikalismus und orthodoxem Antichiliasmus.
Bengel, dem Meister pietistischer Exegese, geht es bei seiner Schriftforschung
darum, das Ganze der Schrift in ihrem harmonischen Zusammenhang zu erkennen
und damit auch das Ganze von Natur und Geschichte in ihrem Zusammenhang. Der
ganze Zusammenhang aber erschließt sich bei ihm stets von hinten: in der Bibel
vom letzten Buch her und in diesem Buch ganz besonders vom berühmten 20.
Kapitel aus, und ganz entsprechend erschließt sich in der Heilsgeschichte der
Sinn der ganzen Geschichte von hinten, d. h. sukzessive je mehr man an den
Termin des Beginn des Millenniums kommt. Aufgrund seiner exegetischen
Schlüsselerkenntnis, dem Aufschluss der Zahl 666 in Offb. 13, 18, sieht sich
Bengel in der Lage, die chronologischen Ereignisse der Endzeit zu berechnen,
aber mehr noch: das Weltalter und den gesamten Fahrplan der profan und
heilsgeschichtlichen Ereignisse zu bestimmen, wobei ab 1836, dem Beginn des
1000-jährigen Reichs, in dem Satan gebunden sein wird, sich das Reich Gottes in
zuvor nie gekannter Herrlichkeit auf der Erde offenbaren wird.
Das erste Millennium ab 1836 (Bengel kennt noch ein zweites, das sich
anschließt) ist also die entscheidende Perspektive christlichen Erkennens und
Tuns nach Bengel. Für Bengels Eschatologie ist charakteristisch, dass die
Vergeschichtlichung eschatologischer Ereignisse, die in nuce bereits bei Spener
sichtbar ist, viel weiter fortgeschritten ist und dass die Bestimmung der 1000
Jahre von Offb. 20 den Höhepunkt in Bengels chronologisch-heilsgeschichtlichem
System ausmacht. So wichtig aber nach Bengel auch die chiliastische Epoche auf
der Erde ist, so ist sie doch nicht das ‚Eschaton im engeren Sinne'. Dies
beginnt mehr als 2000 Jahre nach 1836 mit dem Jüngsten Gericht und der Scheidung
der Geretteten und der ewig Verlorenen. Die ‚ewige Strafe der Verdammten' soll
bei Bengel um keinen Preis bagatellisiert werden; ebenso stark wird bei ihm die
Herrlichkeit der Gnade bei denjenigen herausgestellt, die dann im 'Neuen Himmel
und der Neuen Erde' nach Offb. 21 f. leben. Wenn auch die negativen Folgen des
Jüngsten Gerichts bei Bengel stark betont werden, so ist nach ihm der doppelte
Ausgang keineswegs das Letzte.
So wie es vor dem Jüngsten Gericht in der Heilsgeschichte eine Entwicklung durch
Gerichte hindurch zum universalen Reich gibt. so gibt es nach dem Jüngsten
Gericht Entwicklungen zum Besseren für die Gerichteten. Bengel hat erkannt – und
das ist ein entscheidender Bestandteil seiner Exegese – , dass die Ewigkeit der
Pein keineswegs endlos ist, sondern dass die Strafäonen zeitlich begrenzt und
sogar in ihrer Länge näher bestimmbar sind. Für ihn ergibt sich, dass das Ende
der Ewigkeiten für die Verdammten schließlich in der Apokatastasis pantōn
liegt, wenn Gott am Ende – mit der Offb. gesprochen – A und O ist oder mit 1.
Kor. 15: wenn Gott alles in allen ist.
Dass die Apokatastasishoffnung eine biblische Wahrheit ist, leidet nach Bengel
keinen Zweifel, wenn er sich auch dazu noch recht vorsichtig äußert; hingegen
ist die andere in CA XVII. abgelehnte heilsuniversalistische Lehre, der
Chiliasmus, von Bengel mit größtem Nachdruck verteidigt worden. Zum Verständnis
der heilsuniversalistischen Gedankenwelt Oetingers sind diese Ergebnisse des
BengeIschen Lebenswerks von großer Bedeutung.
II.
Entscheidend für den
eschatologischen Heilsuniversalismus Oetingers ist, dass sämtliche bisher
genannten Voraussetzungen Bengels von Oetinger, seinem Schüler, übernommen
werden. Die Rezeption der Kabbala und der Böhmeschen Theosophie, die Bemühungen
um Alchimie und Naturphilosophie, die Auseinandersetzung mit der Leibniz-Wolffschen
Aufklärungsphilosophie bzw. -theologie – all das sind zwar Elemente, bei denen Oetinger
weit über seinen Lehrer Bengel hinausgeht, doch gibt die Bengelsche
Sicht von Heilsgeschichte und Eschatologie ganz deutlich den Rahmen für das Oetingersche Denken ab. Man kann zeigen, dass Oetinger stets mit Bengel über
Bengel hinausgeht. Die Schritte, die Oetinger schöpferisch über Bengel hinaus
macht, lassen sich begreifen im Rahmen von Bengels und Oetingers gemeinsamer
Grundanschauung, dass es bis 1836 offenbarungsmäßige Erkenntnisfortschritte
gibt. Oetingers lebenslanges Bemühen um eine Einheitswissenschaft, in der
Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften innig miteinander harmonieren,
sein Bemühen um ein System aller theologischen Erkenntnisse, abgeleitet aus der
idea vitae, lassen sich von Bengels apokalyptischen Erkenntnissen her
begreifen, denen Oetinger bis in alle Details hinein als treuer Schüler folgt.
So sagt Oetinger 1748 in einem brieflichen Selbstzeugnis:
„Mit der Wahrheit ...
indifferent umgehen ist eine Seuche unserer Zeit, und gelobet sei der Herr, der
uns durch Bengels Offenbarung-Erklärung ein festes Zeichen und eine gewisse
Standarte gegeben.
Ich weiß, daß alle
Wissenschaften, Astronomie, Mathematik, Chemie, Metaphysik, Moral ... dadurch
eine Reform über kurz oder lang werden leiden müssen“ 9.
Diese große Wissenschaftsreform erwartet Oetinger im Horizont des Millenniums, der 1836 beginnenden Güldenen Zeit, und seine eigene wissenschaftliche Arbeit versteht er als Antizipation von Erkenntnissen, die im Jahrtausend ab 1836 jedermann klar vor Augen liegen werden. Gelegentlich hat man in der Pietismus-Forschung gemeint, Oetinger lege auf den Chiliasmus {und die damit zusammenhängenden chronologischen Berechnungen) nicht soviel Wert wie Bengel10.
Genauere Analyse würde
zeigen, dass eher das Umgekehrte der Fall ist: Bengels Berechnungen sind die
nie kritisierte Basis für Oetinger, und die Ausrichtung auf das chiliastische
Reich Gottes ist eine unerlässliche Perspektive von Oetingers Denken, wobei
nach Oetinger auch die Elemente seiner eigenen Theologie, an die Bengel noch
nicht denken konnte, z. B. die wichtigen kabbalistischen und Böhmeschen
theosophischen Erkenntnisse, in den 1000 Jahren ab 1836 voll zum Tragen kommen.
Hier ist nicht im Einzelnen auf Oetingers Chiliasmus einzugehen11.
Nur eine bezeichnende Selbstäußerung Oetingers sei hier genannt. Er bemerkt, dass
„mein und Bengels System quoad philosophica ein Ding seie. Bengels
Endzweck ist Chiliasmus orthodox zu machen. Mein Endzweck ist dem nicht
entgegen“ 12, wobei Oetinger fortfährt, er selbst sehe die ihm
gestellte Aufgabe darin, in dieses chiliastische Konzept die berechtigten
Elemente aus Jakob Böhme einzufügen, wie das Bengel noch nicht gekonnt habe,
wie es aber schon „Speners Wunsch“ gewesen sei.
Wir haben uns mit der
Apokatastasisvorstellung in Oetingers Eschatologie näher zu befassen. Die
Grundlinien der Entwicklung – vom chiliastischen Reich zum Jüngsten Gericht mit
der Scheidung der Geretteten und Verlorenen und von da über den 'Neuen Himmel
und die Neue Erde' weiter bis hin zur Aufhebung des doppelten Ausgangs in der Apokatastasis pantōn – werden bei
Oetinger nicht anders gesehen als von Bengel. mit dem Unterschied, dass
Oetinger Aspekte, die Bengel gleichsam hinter vorgehaltener Hand geäußert hat,
deutlich und klar als Lehre formuliert. So z. B. die Lehre von den begrenzten
Ewigkeiten der Strafe, über die sich Bengel noch recht vorsichtig geäußert hat.
Oetinger nimmt da in seinem ‚Biblischen und Emblematischen Wörterbuch’ kein
Blatt vor den Mund: es treffe nicht zu, dass „Strafe und ewige Pein dem ewigen
Leben gleich seye. Pein hat keine Wurzel in GOtt wie Leben“ 13, und
weiter heißt es: „Diß ist ja so klar, daß man das Wort ewig, nicht für
unendlich nehmen sollte ... Das heißt eine Ewigkeit, wenn etwas
hervorgebrachtes eine Zeitlang währet, und wieder ins Unsichtbare zurück zieht;
darum heißt es Verborgenheit, olam. Das ist ein Haupt-Wort neuen
Testaments. GOtt heißt König der Ewigkeiten, er ordnet sie von Anbeginn zusammen“14.
Bengel hatte im ‚Gnomon’ in seiner Auslegung der Verse 1. Kor .15. 20
– 28 das
berühmte Wort, dass Gott am Ende ‚Alles in Allen’ sein werde, in vorsichtiger
Weise als dictum probans für die schließliche Wiederbringung Aller gedeutet
und in dem Zusammenhang angedeutet, dass am Ende vor der Aufhebung des Todes
auch des Satans Begnadigung zu erwarten sei .
Oetinger denkt da nicht
anders, wie z. B. der Artikel ‚Wiederbringung’ im ‚Wörterbuch' zeigt: „Die
Wiederherstellung in die erste Ordnung erweißt sich am besten aus 1. Kor .15
als eine Folge der Auferstehungskraft Jesu, Vers 20 – 25“ 15. Bei
Oetinger kehrt dieses ‚Gott alles in Allen’ von 1. Kor. 15, 28 als Beweiswort
für die schließliche .
Apokatastasis überaus
häufig wieder. Eine besonders charakteristische Passage aus Oetingers ‚Untersuchung
der Preis-Frage von der Sünde wider den HI. Geist’ sei hier genannt. In dieser
Schrift zeigt Oetinger auf 68 Seiten ausführlich, dass das dunkle Wort von der
in Ewigkeit unvergebbaren Sünde gegen den HI. Geist keineswegs ein
Gegenargument gegen die Apokatastasis ist, sofern man die Schrift sachgemäß versteht.
Oetinger führt zu den Lästerern wider den Geist aus: „Sie müssen also samt dem Teufel die letzte seyn, an denen alles Gericht ... ausgeübet wird ... Wie lange diß seyn wird, weiß niemand. Aber daß die Aeonen ein Ende haben werden ist klar, weil, außer GOtt alles GOtt untergeordnet werden wird, auch der Sohn selbst, daß GOtt sey Alles in Allem. Es ist ... klar aus der Verbindung mit der Auferstehung Christi bis in alle Aeonen, 1. Cor. XV. daß nicht nur die Feinde und Lästerer, sondern auch alles, was Tod heißt, aufhören werden, Feinde zu seyn“16. Nach Oetinger korrespondiert also die Anschauung von den begrenzten Ewigkeiten mit dem ‚Gott Alles in Allen’ aus 1. Kor. 15 als dem Ziel der Ewigkeiten: alle Gerichte und die ewige Pein haben hier, in der Apokatastasis pantōn, ihren Bezugspunkt. Schließlich partizipieren auch die schlimmsten Feinde, nämlich Satan selbst und die Lästerer wider den Geist, am allumfassenden Heil.
Im
gleichen Buch gibt Oetinger zuvor die Grundsätze rechter schriftgemäßer
Dogmatik an: Man dürfe die Loci nicht auseinanderreißen und aufblähen, sondern
habe sich auf sechs Loci zu beschränken (1. von Gott, 2. vom Menschen, 3. von
der Sünde, 4. von der Gnade, 5. Gemeinde und 6. von der den letzten Dingen),
wobei zu beachten ist: „Alle Loci müssen in einem wenigstens dem Endzweck
...nach enthalten seyn“17, so dass „jeder dieser Loci ...implicite
alle zusammen in sich hält“18. Dass Inbegriff rechter Lehre von den
letzten Dingen und damit Zielpunkt der gesamten Dogmatik die Apokatastasis ist
(die also indirekt mit allen Loci zu tun hat), daran lässt Oetinger keinen
Zweifel, wenn er zum 6. Locus ausführt, dieser habe zu handeln „von den letzten
Dingen der Aeonen, in welchen GOtt alle
Herrlichkeit vor aller Creatur darstellen, und das auswendige seyn wird, wie
das inwendige der Natur, oder da GOtt seyn wird alles in allem“19.
Dieses Schema, dass
der dogmatische Bestand auf sechs Loci zu beschränken ist und dass jeder
Artikel organisch mit jedem andern zusammenpassen muss, wobei die entscheidende
Perspektive der Dogmatik im Locus de novissimis Ausdruck findet, kennen wir ja
in ganz ähnlicher Weise aus Oetingers theologischem Hauptwerk, der ‚Theologia
ex idea vitae deducta’. Eine derartige Systematisierung liegt in Bengels Theologie
noch nicht vor, wenn auch die Hauptbestandteile dieses Denkens bei Bengels
Sicht der Heilsgeschichte ihre Wurzel haben, wie es sich im Blick auf die Äonenlehre
und das Apokatastasismotiv zeigt.
Zwei wesentliche
Aspekte von Oetingers Apokatastasislehre, die beide Argumente über Bengel
hinaus betreffen, sind hier noch kurz anzureißen: (1) Oetingers individuelle
Eschatologie, d. h. seine Lehre vom Zustand nach dem Tod und (2) die besondere
Wertschätzung des Heilsuniversalismus im Kol. und Eph.
Ad (1): Was mit den
Verstorbenen nach dem Tod und vor dem Jüngsten Gericht vor sich geht, das ist
nach Oetinger ein eigenes Kapitel der Eschatologie. Die Andeutungen von
Christi descensus ad inferos in 1. Petr. 3 und 4 deutet – hier von Bengel
abweichend – auf die Apokatastasishoffnung, die Christus denen im Totenreich
verkündet habe. Inhalt von Christi Predigt im Totenreich ist: „Daß Gott alle
seine Werke danken werden nach dem Gericht“. So lautet die Oberschrift einer
Oetinger-Predigt über den Zusammenhang von 1. Petr. 3 und 4 und die Apokatastasiswahrheit.
Über letztere sagt Oetinger in dieser Predigt, sie sei „kein Vorwitz. keine
unnötige Lehre. sondern eine Sache. die wir zu Ehre Jesu und zum ächten
Verständnis des neuen Testaments glauben ...müssen"20.
In die
gleiche Richtung geht Oetingers Gedankengang, wo immer er in seinen Schriften
auf diese Stellen aus 1. Petr. 3 und 4 zu sprechen kommt. Vor dem Jüngsten Tag
gibt es nach Oetinger für die Verstorbenen unterschiedliche Straf- und Begnadigungsorte mit je abgestuftem Geschick, wobei Läuterungen und Entwicklungen
hin zum Besseren gelehrt werden. Hierzu gibt es für Oetinger neben biblischen
Argumenten auch Erfahrungsargumente, die mit der Bibel in Einklang stehen. Oetinger beruft sich da besonders auf die Erfahrung im Umgang mit den Toten bei
seinem Freund Schill und später auf die des schwedischen Geistersehers
Swedenborg. Eindrücklich ist ja jene Szene, die in Oetingers Selbstbiographie
ausführlich beschrieben wird, wie der verstorbene Prälat Oechslin, zu Lebzeiten
ein entschiedener Apokatastasisgegner, dem Schill erscheint und von den
Strafen im Interimszustand berichtet, die er gerade deshalb auszuhalten hat,
weil er sich gegen die Apokatastasiswahrheit verschlossen hatte21.
Ähnlich ist es mit Oetingers Rezeption der Swedenborgschen Visionen. Dass dieser
Kontakt mit den Verstorbenen besitzt und von daher von den verschiedenen Straf-
und Läuterungsorten und von den ‚Abstreifungen'’ nach dem Tode weiß, wird
bekanntlich von Oetinger als ein wesentlicher Aspekt einer rechten
Zwischenzustandslehre festgehalten. Freilich müssen sich diese Erkenntnisse
einfügen lassen in das heilsgeschichtlich-eschatologische Konzept, wie es
Oetinger als Bengel-Schüler vertritt, d. h. im Blick auf seine
Vernachlässigung des Chiliasmus, des Neuen Himmels und der Neuen Erde und des
realistischen Endgerichtsgedankens muss Swedenborg mit Bengel korrigiert und
kritisiert werden. Was aber die Läuterungen und Besserungen, soz. die ‚Dynamik’
im Zwischenzustand, anbelangt, da hat Swedenborg durchaus richtig erkannt,
dass jede Strafe ‚pädagogischen’ Sinn hat, und das passt für Oetinger genau zu
jener äonenlangen Entwicklung, in der Gott zuletzt – nach dem Jüngsten Gericht
– in der Wiederbringung ‚Alles in Allen’ ist 22.
Ad (2): Den Eph. und
den Kol., diese beiden miteinander verwandten Deuteropaulinen, hat Oetinger
wegen ihrer kosmischen Christologie und ihrer universalistischen Weite
besonders geschätzt. Schlüsselbegriff zum Verständnis dieser beiden Briefe ist
für Oetinger der göttliche Vorsatz (Eph.1,11 und 3,11). In diesem Begriff des
göttlichen Vorsatzes sieht Oetinger den ganzen Heilsplan von Anbeginn der Welt
bis hin zur Apokatastasis umfasst. Diesen Vorsatz, den Gott vor Anbeginn der
Welt bei sich gefasst hat, recht in seinem heilsgeschichtlichen Umfang zu
verstehen und dabei als Ziel des Christusgeschehens die Wiederbringung als
Vollendung des Vorsatzes im Blick zu haben, das heißt für Oetinger: das
‚Geheimnis Gottes, des Vaters und Christi’ (Kol. 2, 2) begreifen. So werden bei
Oetinger einerseits der Vorsatzbegriff und andererseits die Wendung vom
‚Geheimnis Gottes des Vaters und Christi’ zum Inbegriff dessen, was Oetinger
mit seiner eigenen Theologie intendiert. In vielen Zusammenhängen geht Oetinger
auf diesen Vorsatz und dieses Geheimnis ein.
Was der Begriff des
Vorsatzes umschließt, führt Oetinger in seiner Schrift von 1772 ‚Betrachtung
über das Geheimnis Gottes, des Vaters und Christi’ folgendermaßen aus: es habe
„Gott vor Schöpfung der Welt einen Vorsatz in Christo gehabt, daß von Anfang
bis zu Ende, von A bis zu 0 viele Zeitläufte oder Ewigkeiten ablaufen sollen,
bis der Mensch geschickt werde, daß GOtt in ihm alles sei. ... Dieses aber kann
nicht anders als nach und nach geschehen“; „der gradweise sich äußernde Vorsatz
Gottes in Einrichtung der Äonen wird durch Wiedererlangung aller Dinge in Jesu
dem A und O, vollendet werden. ... Das Geheimnis Gottes besteht solchem nach
... in der Erkenntnis der Haushaltung der Zeit, nach welcher alle Dinge zusammen
unter ein Haupt werden verfasset werden in Christo ...Eph.1,10“23.
Dieser Vers Eph.1,10,
dass alles wieder unter ein Haupt verfasst wird, ist für Oetinger ein
wichtiges Beweiswort für die Apokatastasis pantōn, ebenso wie der verwandte
Vers in Kol. 1, 20, wo von der Versöhnung aller die Rede ist. Beide geben
zentral das Ziel des Vorsatzes an, um den es für Oetinger in Eph. und KoI.
geht.
Im ‚Biblischen und
Emblematischen Wörterbuch’ heißt es im Artikel ‚Vorsatz’, dieser sei „im alten
Testament verdeckt, im neuen aber offenbar geworden, nemlich daß in dem
Menschen Christo alle Fülle der GOttheit wohnen solle, und alles durch ihn versöhnt
werde zu ihm selbst, ... KoI.1,19 - 20 und daß alle Dinge wieder unter ein
Haupt verfaßt würden ... Eph. 1,10. Die ganze Welt und die Gemeinde, Engel und
Menschen müssen Mittel zu dem Endzweck des Vorsatzes abgeben“24.
Der vor Grundlegung
der Welt gefasste Vorsatz Gottes, den Oetinger einmal sogar „Sehe-Punkt der
heiligen Schrift“25 nennt, hat also sein Ziel in jenem „Endzweck“,
der in Kol.1, 19 f. als ‚Allversöhnung’ und in Eph.1, 10 als ‚Anakephalaiosis’
bezeichnet ist, wobei die dazwischenliegende Gesamtentwicklung der Welt und der
Heilsgeschichte mit diesem Vorsatz zu tun hat.
In dem Zusammenhang
ist von Interesse, dass 1755 ein aus Oetingers Freundeskreis stammendes
Büchlein erschienen ist, an dem Oetinger mit beteiligt war: ‚Kurze und leichte
HerzensTheologie, bestehend in dem Geheimnis Gottes des Vaters und Christi,
über den Spruch Eph. 1, 10’26. Diese Laiendogmatik in Dialogform
will, am Vorsatzbegriff orientiert, der Gesamtbestand der Theologie
systematisch entfalten und dadurch das ‚Geheimnis Gottes des Vaters und
Christi’ erläutern. Der Apokatastasisgedanke, wie er in Eph.1, 10 Ausdruck
findet, ist in der ‚Herzens-Theologie’ nicht nur in der Titelformulierung,
sondern auch in den einzelnen Artikeln (von der Gotteslehre und der
Sündenlehre bis zur Ekklesiologie und Eschatologie) auf jeder Seite direkt
oder indirekt präsent. Erwähnung verdient im Zusammenhang unserer Andeutung
zum Vorsatzbegriff, dass ja auch in Oetingers theologischem Hauptwerk
‚Theologia ex idea vitae deducta’ dieser Begriff verhandelt wird, besonders im
Zusammenhang mit der Prädestinationslehre27, wo von Oetinger die
Calvinsche prädestinatio gemina strikt abgelehnt und stattdessen die
„Gnadenwahl“28 aller gelehrt wird. Dies zeigt einmal mehr, wie stark
bei Oetinger jeder dogmatische Artikel mit dem Apokatastasisgedanken zu tun
hat.
Abschließend ist hier noch ein Gesichtspunkt anzudeuten: so wie in Oetingers Schöpfungslehre Makrokosmos und Mikrokosmos, Natur und Mensch, an den gleichen Grundkräften des Lebens partizipierend, aufs innigste miteinander korrespondieren, so ist auch die Apokatastasis pantōn natürlich nicht allein auf den Menschen beschränkt; der Gesamtbestand der Natur und des Kosmos hat damit zu tun.
Pars pro toto
illustrieren wir das an zwei bezeichnenden Zitaten: nach Oetinger wird die
gesamte „Natur durch Christus wieder ... integrirt, und in ihren contrairen
Kräfften harmonisirt, unificirt und in eins gebracht werden“29. „Dieses
Planeten-System ... (wird) durch eine Todal-Wiedergeburt am Scheidungs-Tag“ in
„eine darauf in jenen Aeonen laufende Apocatastasin gebracht“30.
Kurzum: Mensch, Natur
und Kosmos werden daran partizipieren, wenn Gott mit seinem Vorsatz ans Ziel kommt;
dann wird, wie Oetinger sagt, „Alles vollendet werden 'eis hen' [im Original
mit griechischen Buchstaben], in eins, das ist in eine vollkommene Harmonie
sowohl im Guten als im Wahren“31. Dieses ‚eis hen’ ist im
Oetingerschen theologischen System gleichsam das Vorzeichen vor der Klammer;
die gesamte Dogmatik, Schöpfungslehre, Anthropologie, Sündenlehre, Christologie und Ekklesiologie haben indirekt damit zu tun, und in der
Eschatologie wird dieses Motiv ‚eis hen’ behandelt in der Lehre von der Apokatastasis
pantōn, dem alles zusammenhaltenden Schlussstein des Systems.
III.
Im Bannkreis der
Oetingerschen Apokatastasislehre haben viele Oetinger nahestehende
württembergische Pietisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im
19. Jahrhundert den Gedanken der Wiederbringung Aller wie Oetinger als die entscheidende eschatologische Perspektive ihrer universalen Reich-Gottes-Theologien
angesehen. Diese Nachgeschichte kann
hier nur in einigen Stichworten skizziert werden.
So lässt sich der
nicht nur durch seine genialen Erfindungen bedeutende schwäbische Pietist Ph.
M. Hahn (1739 – 1790) in seiner Eschatologie – trotz aller theologischen
Unterschiede, die ihn von seinem Lehrer Oetinger trennen – in den Hauptlinien
von Oetingers Apokatastasiseschatologie leiten. Wenn M. Brecht von Hahn sagt,
dieser habe „seine Theologie geradezu aus dem Epheserbrief entwickelt, denn der
Ansatz seines Denkens geht ständig aus von dem ursprünglichen, vorweltlichen
Liebesvorsatz Gottes“32 , so zeigt sich darin die grundsätzliche Übereinstimmung
zwischen Hahn und Oetinger über Gottes Wiederbringungsplan. Es ist eine
Fehldeutung, wenn A. Ritschl Hahn (im Gegensatz zu Oetinger) nicht zu den
schwäbischen ‚Freunden der Wiederbringung’ rechnen will33. Umgekehrt
hat Ph. M. Hahn für die Propaganda des Apokatastasisgedankens in der
württembergisch-pietistischen Frömmigkeit einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Ein Beleg dafür ist
z. B. die Autobiographie des schwäbischen Sturm-und-Drang-Dichters Chr. F.
D. Schubart, der während seiner Festungshaft auf dem Hohenasberg durch Hahn
bekehrt worden ist und der in der Autobiographie seitenlang mit bewegten
Worten beschreibt, welch große Bedeutung die Erkenntnis der Apokatastasiswahrheit
dabei gehabt hat, die ihm Ph. M. Hahn vermittelte34.
Der jugendliche
Schelling, aus einem pietistischen Pfarrhaus stammend, hat Ph. M. Hahn überaus
geschätzt. Wie Schubart, so schreibt auch er ein Trauergedicht auf den 1790
gestorbenen Hahn. Wenn darin formuliert ist, dass der „Späher Hahn“ jetzt – vom
Glauben zum Schauen gekommen – Gott als
„Allerbarmer“ preist 35, so könnte sich darin andeuten, dass
Schelling die württembergisch-pietistische Apokatastasiseschatologie schon
früh geläufig gewesen ist.
Ein anderer Oetinger-Schüler, Chr. G. Pregizer (1751
-1824)36, nach dem eine bis heute bestehende württembergisch-pietistische
Gemeinschaft benannt ist, hat ebenfalls für die Propagierung des Apokatastasisgedankens
im württembergischen Pietismus des 19. Jahrhundert einen wichtigen Beitrag
geleistet. Pregizers Wiederbringungslehre entspricht völlig der Oetingerschen.
Da ist es von Interesse, dass Pregizer im Jahr 1809 einen Brief an Schelling
schreibt, in dem sich Pregizer an ein sechs Jahre zurückliegendes Treffen mit
Schelling erinnert, bei dem man in Murrhardt über Oetinger diskutiert habe.
Pregizer schreibt in
diesem Brief an Schelling: „Es ist mir noch wohl erinnerlich, daß wir damals
Vieles von Oetinger und Böhm, den zween ächt aufgeklärten Zeugen und Herolden
der göttlichen Wahrheit sprachen, Es ist mir nun sehr erfreulich, daß Sie
(Schelling) mich nach 6 Jahren versichern, wie theuer Ihnen Oetingers Schriften
seyen. Sie sind und bleiben es auch mir. Gott lohne ihme (Oetinger) die
Erleuchtung, die auch ich durch ihn als Sein gesegnetes Werkzeug, in das
allumfassende Geheimniß Gottes des Vaters und Christi bekam...“37.
Diese Bemerkung betrifft also den Sachverhalt, dass Pregizer
Oetinger die rechte Lehre vom Vorsatz und ‚von dessen allumfassendem Endzweck,
der Apokatastasis, verdanke, und interessant scheint mir zu sein, dass Pregizer
bei seinem Adressaten offenbar voraussetzt, dass dieser aufgrund seiner
Kenntnisse der Oetingerschen Theologie jene Anspielung auf die grundlegende
Bedeutung von Oetingers Apokatastasiseschatologie zu entschlüsseln vermochte.
Dass der
Apokatastasisgedanke in Schellings Philosophie vorkommt und vielleicht indirekt
mit der württembergisch-pietistischen Tradition zusammenhängt, ist schon des öfteren erwogen worden 38. Fest scheint mir jedenfalls zu stehen,
dass Schelling – wie der Hahn-Brief zeigt – in die tiefsten Geheimnisse
württembergisch-pietistischer Eschatologie gut eingeweiht gewesen ist.
Wenn man von den
frömmigkeitsgeschichtlichen Auswirkungen von Oetingers Apokatastasiseschatologie
im 19. Jahrhundert redet, so ist der Name des Laientheologen, Theosophen und
Gemeinschaftsbegründers M. Hahn (1752 –1819) 39 zu nennen, der noch
stärker als Oetinger den Wiederbringungsgedanken zum systematischen
Grundgedanken erhebt und dabei Oetingers Argumente für die Apokatastasis um das
eine entscheidende erweitert, dass er selbst den Apokatastasisplan Gottes in
von Gott geschenkten theosophischen Zentralschauen unmittelbar erschaut habe.
Aber auch auf die
Universitätstheologie des 19. und 20. Jahrhunderts hat der eschatologische
Heilsuniversalismus Oetingers indirekt ausgestrahlt. Zu nennen wären hier etwa
Theologen wie C.A. Auberlen und J. T. Beck, aber auch R. Rothe,
die bei ihrer Behandlung der Eschatologie erkennen lassen, dass sie dem spekulativen
württembergisch-pietistischen Erbe, was den Heilsuniversalismus angeht, viel
verdanken. Ähnliches gilt im 20. Jahrhundert von Systematikern wie K. Heim
und A. Köberle oder von Kirchengeschichtlern wie E. Staehelin.
Und wenn seit Mitte
des vorigen Jahrhunderts die beiden schwäbischen Pfarrer Blumhardt Vater und
Sohn 40, die mit ihrer Reich-Gottes-Verkündigung wichtige
Theologen des 20. Jahrhundert fasziniert und inspiriert haben, die universale
Reich-Gottes-Hoffnung als Eschatologie der Leiblichkeit in den Vordergrund
stellen und dabei stark am Apokatastasisgedanken orientiert sind, so hängt das
im weiteren Sinn damit zusammen, dass in Württemberg seit Oetinger Leiblichkeit
und Apokatastasis das Ziel der Werke Gottes ist.
1) Der vorliegende
Aufsatz ist die leicht überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung
eines Vortrags, der am 2. Oktober 1982 im Rahmen des ‚Oetinger-Symposions’
(zum 200. Todestag Oetingers) in Marbach gehalten wurde. Der Vortragsstil
wurde beibehalten. – Schriftlich
niedergelegt findet der Aufsatz sich in den wenigen Exemplaren einer privaten
Festschrift, in: Wahrnehmungen. Theologische Perspektiven und Zusammenhänge.
Studien für Eckhard Lessing zum 50. Geburtstag, hg. von Werner Brändle in Verbindung
mit Gaby Veltel, Münster 1985, S. 79 - 95.
2) „Leiblichkeit ist
das Ende der Werke Gottes, wie aus der Stadt GOttes klar erhellet Offenb. 20”
(F. Chr. Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, mit einem Vorwort
von D. Tschizewskij, = Neudruck der Ausgabe o. O. 1776, Hildesheim 1969, S.
407). Vgl. zu diesem berühmten Oetinger-Wort auch F. Chr. Oetinger, Sämmtliche
Schriften, hg. von K. Chr. E. Ehmann, Abteilung I, Bd. 3, Stuttgart 1858, S.
27. – Die Ehmannsche Oetinger-Ausgabe:
Sämmtliche Schriften Abt. I, 1 bis II, 6, Stuttgart 1858 –1864, wird im Folgenden abgekürzt als: F. Chr. Oetinger,
SS I,1 bis SS II,6, wobei wir im Blick auf SS II,2 und SS II,3 dem von E.
Beyreuther bevorworteten unveränderten Nachdruck, Stuttgart 1977, folgen. – Die hier verwendeten Abkürzungen richten sich nach
der Theologischen Realenzyklopädie.
3) Vgl. E. Zinn, Die
Theologie Friedrich Christoph Oetingers (BFChTh 36,3), Gütersloh 1936, S.136
f., 150, 166; S. Großmann, Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung.
Versuch einer Analyse seiner Theologie (AGP 18), Göttingen 1979, S. 273 f.
(vgl. den ganzen Abschnitt S. 269 - 274).
4) Vgl. R. Piepmeier,
Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger, Freiburg 1978, S. 191 -206, ferner
den Exkurs S. 296 - 303
5) C. A. Auberlen,
Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger’s nach ihren Grundzügen. Mit einem
Vorwort von R. Rothe, Tübingen 1847, S. 650.
6) Ebd., S. 654.
7) C. Schmid, Die
Frage von der Wiederbringung aller Dinge, in: JDTh 15 (1870), S. 102 - 143;
Zitat: S.103.
8) Das im Folgenden
knapp Umrissene wird ausführlich erörtert in meiner Arbeit: Die Wiederbringung
aller Dinge im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien
zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts
(AGP 21), Göttingen 1984.
9) Friedrich
Christoph Oetingers Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen
Schriften, hg. von K. Chr. E. Ehmann, Stuttgart 1859, S. 561.
10) Vgl. etwa G.
Schäfer, Kleine Württembergische Kirchengeschichte, Stuttgart 1964, S. 111: „In
den eschatologischen Aussagen ist Oetinger im allgemeinen viel vorsichtiger
und zurückhaltender als Bengel. Sein Interesse am Chiliasmus ist geringer“,
oder E. Beyreuthers Urteil (in der Einleitung zu F. Chr. Oetinger, SS II,2, S.
XLXII), das Millennium sei von Oetinger „nicht als eine chronologisch
festgesetzte Zeitspanne verstanden im Gegensatz zu Bengel“. Beide Urteile
verzeichnen Oetingers Anliegen stark.
11) VgI. dazu etwa
die in Anm. 4 genannten Ausführungen Piepmeiers.
12) F. Chr. Oetinger, SS II,2, S. 299.
13) F. Chr. Oetinger,
Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, a. a. O., S. 581 f.
14) Ebd., S. 194.
15) Ebd., S. 683.
16 ) F. Chr.
Oetinger, Untersuchung der Preis-Frage von der Sünde wider den heil. Geist nach
Anleitung der Stellen Matth. 12, 31.32. Marc. 3, 28.29. Luc.12, 10., Frankfurt
/ Leipzig 1771, S. 26 f. (= SS II,6, S.451).
17) Ebd., S. 12 (= SS II,6, S. 445).
18) Ebd., S.12 (= SS II,6, S. 445 ).
19) Ebd., S. 12 (= SS II,6, S. 445).
20) F. Chr. Oetinger, SS I,1, S. 448.
21) Vgl. dazu F. Chr.
Oetinger, Selbstbiographie. Genealogie der reellen Gedanken eines
Gottesgelehrten, hg. und mit Einführung und Anmerkungen versehen von J. Roessle
(Zeugnisse der Schwabenväter 1), Metzingen 1961, S. 79-83.
22) Vgl. zur
Verzahnung von Oetingers Zwischenzustandslehre mit dem Apokatastasisgedanken
in meiner in Anm. 8 genannten Arbeit den Abschnitt: S. 119 –134.
23) F. Chr. Oetinger, SS II,6, S. 302.
24) F. Chr. Oetinger,
Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, a. a. O ., S. 671.
25) F. Chr. Oetinger,
SS II,6, S. 414 (ebenso: S. 415).
26) Kurze und leichte
Herzens-Theologie, bestehend in dem Geheimnis GOttes des Vaters und Christi,
über den Spruch Ephes. 1,10. Er hat uns kund gethan das Geheimnis seines
Willens, nach seinem Wohlgefallen, welches Er (GOtt) sich in Ihm (Christo)
vorgesetzet hat, zur Haushaltung der Fülle der Zelten, daß alles in Christo
zusammengefasset werde, beydes, das in den Himmeln, und das auf der Erden ist.
Gesprächsweis. zwischen einem Politico und Theologo, abgefasst, und zum dritten
mal mit einigen Veränderungen und Zusätzen zum Druck befördert von einem
Liebhaber der Wahrheit, Frankfurt / Leipzig 1778 (Erstauflage: Frankfurt /
Leipzig 1755). Verfasser der ‚Herzens-Theologie’ ist wahrscheinlich der
Heilbronner Spezial-Superintendent G. F. Faber, ein Onkel des Philosophen F.
W. J. Schelling (vgl. R. Breymayer, Neue Impulse zur Erforschung Philipp
Matthäus Hahns, Oetingers und Schellings, in: BWKG 80/81 (1980/1981), (S.
299-316) S. 303 f.). – Oetinger hat die
‚Herzens-Theologie’ überaus geschätzt und offenbar das Vorwort dazu verfasst
(vgl. dazu F. Chr. Oetingers Leben und Briefe, a. a. O., S. 727 f. sowie: Chr.
G. Barth, Süddeutsche Originalien. Bengel, Oetinger, FLattich. In Fragmenten
gezeichnet von Ihnen selbst, 1. Heft, Stuttgart 1828, S. 46). – Eine ziemlich freie Zusammenfassung des Inhalts der
‚Herzens-Theologie’ findet sich In Oetingers eigenem Werk unter dem Titel:
‚Auszug aus der Herzenstheologie vom Geheimnis Gottes und Christi nach der
Epistel an die Epheser und Kolosser' (SS II,6, S. 304 - 310).
27) Vgl. Chr. Oetlnger,THEOLOGIA EX IDEA VITAE
DEDUCTA, hg. von K. Ohly. Teil 1: Text (Texte zur Geschichte des Pietismus Abt.
VIII, Bd. 2/1 ), BerIin / New York 1979, S. 105 ff. Vgl. zur Thematik auch die
oben in Anm. 3 genannte Textpassage von S. Großmann.
28) Zum Begriff der
Gnadenwahl (der etwas Ähnliches besagt wie der gleiche Begriff in der
Theologie K. Barths) vgl. F. Chr. Oetinger, SS II,6, S. 305 sowie: Kurze und
leichte Herzens-Theologie, a.a.O., S. 30 - 33.
29) F. Chr. Oetinger,
Die Philosophie der Alten wiederkommend in der güldenen Zelt; worinnen von den
unsichtbaren Anfängen des Spiritus Rectoris oder bildenden Geistes in den
Pflanzen, von der Signatura rerum & hominum, von den Lehr-Sätzen des
grossen Hippocratis und der Alten, und besondern von der gemeinen und künstl.
Gedenkungs-Art wie auch von dem Ursprung der Pulse gehandelt wird. Teil 2.
Frankfurt / Lelpzig 1762, S.165.
30) F. Chr. Oetinger, SS II,2, S. 308
31) F. Chr. Oetinger, SS II,6, S. 414.
32) M. Brecht in
seiner Einleitung zu: Ph. M. Hahn, Die Kornwestheimer Tagebücher 1772 -1777,
hg. von M. Brecht und R. F. Paulus (Texte zur Geschichte des Pietismus Abt.
VII, Bd. 1 ), Berlin / New York 1979, S. 26.
33) A. Ritschl,
Geschichte des Pietismus, III. Bd., Bonn 1886 (= unveränderter Neudruck Berlin
1966), S. 157 f.
34) Vgl. Chr. F. D.
Schubart, Leben und Gesinnungen. Vom ihm selbst im Kerker aufgesetzt, Zweiter
Teil, hg. von L. Schubart, Stuttgart 1793, S. 255 ff.
35) Vgl. F. W. J.
Schelling, Elegie bei Hahn’s Grabe gesungen (1790), in: ders., Werke 1, hg.
von W. G. .Jacobs /J .Jantzen/ W. Schieche (Historisch-Kritische Ausgabe, Reihe
I: Werke), Stuttgart 1976, S. 43 f.; dazu den editorischen Bericht von J. Jantzen:
ebd., S. 33 - 39.
36) Zur Theologie
Pregizers vgl. G. Müller, Christian
Gottlob Pregizer (1751 – 1824).
Biographie und Nachlass, Stuttgart 1962; zur Pregizerschen Apokatastasislehre
z. B. die ebd., S. 311 ff. abgedruckten ‚Fragen von der ewigen Liebe Gottes in
Wiederbringung aller Dinge’.
37) Ebd., 495 - 499;
Zitat S. 497. Mit diesem Brief beschäftigt sich auch: W. A. Schulze, Pregizer
und Schelling, in: BWKG 54 (1954), S. 179 ff.
38) Vgl. W. A.
Schulze, Der Einfluß Boehmes und Oetingers auf Schelling, in: BWKG 56 (1956),
S. 176 Anm. 31 a; ders., Oetingers Beitrag zur Schellingschen Freiheitslehre,
in: ZThK 54 (1957), S. 223 (vgl. auch ebd., S. 216)
39) Zu M. Hahn vgl.
J. Trautwein, Die Theosophie Michael Hahn und ihre Quellen, Stuttgart 1969;
ferner den umfangreichen Hahn-Teil (S. 173 - 251) meiner oben in Anm. 8
genannten Arbeit.
40) Zu den beiden
Blumhardts vgl. meinen Aufsatz: Chiliasmus und Apokatatasishoffnung in der
Reich-Gottes-Verkündigung der beiden Blumhardts, in: Pietismus und Neuzeit. Ein
Jahrbuch zur Geschichte des neueren Pietismus, hg. von M. Brecht u. a., Bd.9
(1983 ), Göttingen 1984, S. 56 –116.
Weyer-Menkhoff, Martin: Christus, das Heil der Natur.
Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers,
Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1990. XII und 334 S. = Arbeiten zur
Geschichte des Pietismus 27.
„Ziel dieser Arbeit ist es, sich
in Oetinger ,zu finden', um die Möglichkeit zu schaffen, das so gewonnene Verständnis
Oetingers unserem heutigen Verständnis von Welt, Leben und Glauben
gegenüberzustellen. Es ist also angestrebt, ihn in Motiven, Anliegen,
Ausbildung, Durchgang und Ergebnissen seiner Arbeit, wenngleich auch nur
exemplarisch anhand wichtiger Einsichten, zu hören und zu verstehen“ (3). Auf
dem Weg zu diesem Ziel hält sich der Autor an den Grundsatz: „Die Methode, Oetinger zu verstehen, ist ihm zuzuhören“ (6). Bei solchem geduldigen Zuhören
und genauen Hinsehen kommt Weyer-Menkhoff zu überzeugenden Einzelbeobachtungen
und Gesamtergebnissen, wie sie zuvor in dieser Präzision nicht formuliert wurden.
Die hier vorzustellende Arbeit über Oetinger, 1985 als Marburger theologische
Dissertation angenommen, wurde vom Systematiker Carl Heinz Ratschow betreut;
der Zweitgutachter war der Kirchengeschichtler Heinz Liebing. In systematischer
wie in historischer Hinsicht legt Weyer-Menkhoff damit eine Meisterleistung
vor, die reife Frucht einer weit über zehn Jahre langen und ganz intensiven,
geradezu liebevollen Beschäftigung mit der Lebensgeschichte und der Theologie
des schwäbischen Theosophen und Pietisten Friedrich Christoph Oetinger
(1702-1782), wobei der Verfasser – was durchaus besonders zu bemerken ist –
seine Oetinger-Arbeit während seines Pfarramts in Idstein bewältigt hat.
Ohne zu übertreiben,
wird man konstatieren dürfen, dass diese Oetinger-Monographie das
herausragende Werk der seit 1960 begonnenen von Weyer-Menkhoff selbst so
genannten „Oetinger-Renaissance“ (15) darstellt, wenn es nicht die gründlichste
und tiefgehendste Studie zum Gesamtkomplex des Oetingerschen Denkens überhaupt
ist.
Ein Vergleich mit den
beiden letzterschienenen großen Oetinger-Arbeiten ist da aufschlußreich: Sigrid
Großmanns in Saarbrücken kurz zuvor (1977) in der philosophischen Fakultät
angenommene, thematisch sehr ähnlich ausgerichtete Dissertation über Oetinger
(Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung. Versuch einer Analyse seiner
Theologie, Göttingen 1979 = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 18) bringt
zwar auch wesentliche Aspekte Oetingerschen Denkens sachgerecht in ihrem
Zusammenhang zur Sprache, reicht aber – so verdienstvoll sie ist – in ihrer
theologisch-historischen Durchdringung wohl kaum an das Niveau dieser Arbeit
heran, während Rainer Piepmeiers philosophisch orientiertes Werk: „Aporien des
Lebensbegriffs seit Oetinger“ (Freiburg/München 1978 = Symposion 58), von
Weyer-Menkhoff an mehreren Stellen mit sichtlichem Respekt lobend erwähnt
(vgl. etwa 15 f. u. ö.; siehe Register, interessant in Distanz zu Piepmeier
die letzte Anmerkung: S.270 A.10), in ganz eigenständiger und origineller Weise Oetinger als Denker problematisiert und vor allem den „garstigen Graben“, der
uns von ihm trennt, thematisiert.
Ganz anders
Weyer-Menkhoff: sein erkenntnisleitendes Interesse ist deutlich ein
theologisches und auch apologetisches. Ihm geht es vorrangig um das, was heute
von Oetinger zu lernen ist. Es ist seine „Aufmerksamkeit auf Fragen und
Verwirklichung einer Theologie der Geschöpflichkeit, Integration und Bewegung“
(VI) gerichtet, und diesbezüglich ist Weyer-Menkhoff bei Oetinger in die Schule
gegangen, wie die Darstellung zeigt. Diese Arbeit besticht durch souveränen
Umgang mit der Stofffülle, was sich auch in der systematischen
Darstellungsform, die Oetinger angemessen ist, niederschlägt. Das Bestechendste an Weyer-Menkhoffs Arbeit nämlich ist in der Tat die von ihm
gefundene, Oetinger voll gerecht werdende Form der Darstellung. So schwierig es
ist, einen fliegenden Vogel abzuzeichnen, so schwierig ist es, die
prozesshaft-lebendige universale Theologie und Verkündigung des geradezu gegen
‚künstliche Systematik’ allergischen, total unsystematischen Systematikers
Friedrich Christoph Oetinger ohne Verzeichnungen seines Anliegens in der
Darstellung angemessen abzubilden. Es ist das Kreuz jeder Oetinger-Darstellung,
das vielschichtige und mehrsträngige Denken dieses belesenen Eklektikers und
Universalwissenschaftlers, bei dem dennoch auf jeder Seite alles mit jedem
ganzheitlich-harmonisch in ganz eigener ‚Systematik’ zusammenhängt und
dynamisch auf die chiliastische ,güldene Zeit' und danach auf die
eschatologische Endvollendung zuläuft, richtig zu beschreiben.
In vornehm-leiser Kritik
an früheren Oetinger-Aufsätzen und -Monographien, die (anders als die beiden genannten)
historisch und systematisch oft recht grobschlächtig mit Oetinger umgegangen
sind und damit das für Oetinger Charakteristische und Eigentümliche an manchen
Stellen arg verzeichnet haben, geht Weyer-Menkhoff in seiner Arbeit sehr
eigenständig, aus profundester Quellenkenntnis schöpfend, ans Werk.
Bereits in seinem
einleitenden Kapitel (1-20: knappe Bemerkungen über Ziel und Aufgabe, Methode,
Quellenlage, bisherige Oetinger-Forschung und Oetingers Biographie) zeigt
Weyer-Menkhoff, inwiefern seine Arbeit über die bisherige Oetinger-Forschung
hinausführt. Da ist zuerst die Gründlichkeit der Quellenerforschung (vgl.
etwa: 10) zu nennen. Allein die von ihm erstellte „Chronologisch-systematische
Bibliographie der Werke Friedrich Christoph Oetingers“ (10 A.24a), die zur
Marburger Dissertation gehörte und dort die Seiten 431 bis 613(!) ausmachte,
stellt einen ganz großen Dienst für die Oetinger-Forschung dar (was in jener Bibliographie
zu erwarten ist, deutet schon das gründliche Literaturverzeichnis Weyer-Menkhoffs an; Werke von Oetinger: 273-295; Werke über Oetinger: 295-326).
Zum andern zeigt sich in diesem Einleitungskapitel bereits, dass Weyer-Menkhoff
bei aller historischen Detailgenauigkeit sich nicht im ,Dschungel' geschichtlicher
Einzelbeobachtungen ‚verirren’ möchte. Es geht ihm eben um jene
Darstellungsform, die ebenso historisch genau wie systematisch klar ist und in
der ein so eigentümlicher Denker, wie Oetinger es war, - wie angedeutet – in
seinem Grundanliegen zu seinem Recht kommt.
Der schönste und
wichtigste Teil des Buches, durchweg gut zu lesen und streckenweise geradezu
spannend geschrieben, ist der grundlegende erste Hauptteil unter der
Überschrift: „Die Entstehung der Theologie Oetingers (bis 1738)“ (20-119). Hier
wird nicht nur die theologisch-biographische Genese des Oetingerschen Denkens
sehr genau verfolgt; es kommen auch einige fundamentale Beobachtungen
Weyer-Menkhoffs zur Sprache, die für ihn in seinem Umgang mit Oetingers Leben
und Werk zum Verständnis dessen, was dieser wollte, eine Schlüsselrolle für die
gesamte nachfolgende Ausführung erhalten.
Einige der
wichtigsten Beobachtungen Weyer-Menkhoffs aus diesem Teil sind hier
zusammenzufassen. Zunächst geht es um drei Ereignisse im Leben des jungen
Oetinger, die diesen nach eigenem Zeugnis (vor allem in seiner 1762
geschriebenen Selbstbiographie, der ,Genealogie der reellen Gedanken eines
Gottesgelehrten’, aber auch in anderen späteren Werken im Rückblick
beschrieben) von Jugend an einschneidend geprägt haben: 1. eine mystische
Gewissheits-Erfahrung des siebenjährigen Oetinger im Zusammenhang mit dem
Paul-Gerhardt-Lied ‚Schwing dich auf zu deinem Gott’ (vgl. 20-23), 2. Oetingers
bewusste Entscheidung als 19jähriger in der höheren Klosterschule in Bebenhausen
(1721), Theologie zu studieren, was er als „Bekehrung“ (vgl. 23-25) verstanden
hat, und 3. seine Schlüsselerkenntnisse, die ihm als 14jährigem im Zusammenhang
mit universalistisch-eschatologischen Passagen des Jesaja-Buchs zuteil wurden
(vgl. 25-30). Nach kritischer historischer Prüfung dieser von Oetinger als
Knotenpunkte seiner ganz frühen Entwicklung herausgestellten Erlebnisse kann
Weyer-Menkhoff konstatieren: „Die beschriebenen Ereignisse ... sind ... nicht
lediglich als anekdotenhafte, vielleicht im Nachhinein so hingestellte
Geschichten zur Vereinheitlichung seines Lebensbildes anzusehen, sondern mit
großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich Weichenstellende Geschicke,
Schlüsselerlebnisse ... Damit gewinnt das Bild Oetingers Züge großer
Konsequenz. Sie lassen es angeraten erscheinen, die Einwirkung seiner
Biographie auf sein Denken besonders im Blick zu haben“ (30).
Nach dem gleichen
Grundmuster nimmt Weyer-Menkhoff dann die gesamte weitere Lebensgeschichte Oetingers
in den Blick. Kritisch erforscht und dargestellt wird deren Verlauf mitsamt den
zu beobachtenden Umbrüchen, Knotenpunkten und leichten Akzentverschiebungen,
die behutsam historisch geprüft und beschrieben werden. Weyer-Menkhoff kann auf
diese Weise dann nacheinander Oetingers Studiumserfahrungen ab 1722 (Begegnung
und Auseinandersetzung mit der Leibniz-Wolffschen Philosophie: 31-39; seine
Begegnung mit Jacob Böhmes Gedanken ab 1725: 39-45 u. ö.; seine intensive
Beschäftigung mit patristischem Schrifttum und der jüdischen Kabbala: S. 4552 u. ö.) vorstellen, um dann zu zeigen, wie der Ertrag der bis zum Studium
angesammelten Gedankenwelt sich in den ,Er-Fahrungen' der diversen
Studienreisen nach dem Studium angereichert, modifiziert und verändert hat (ab
1729; vgl. 53-63). In dieser Darstellung spielt immer wieder auch Johann Albrecht
Bengel eine Rolle, aber das Hauptaugenmerk gilt in dem Zusammenhang Oetingers
spannungsreicher Hassliebe, die er gegenüber Nikolaus Ludwig Graf von
Zinzendorf und Herrnhut (dem wichtigsten Ziel seiner Reisen) empfand, was
Weyer-Menkhoff sehr genau und schön anschaulich zu machen versteht (63-102).
Oetinger wird hier beschrieben als ein suchender und prüfender, für mystische
Tendenzen stark aufgeschlossener (und diesbezüglich auch gefährdeter),
gleichwohl streng biblisch oder biblizistisch von Bengel geprägter Pietist, der
sich dem Charisma Zinzendorfs und der Faszinationskraft des Herrnhuter
Gemeinschaftslebens kaum verschließen kann. Umgekehrt hat Oetinger in Herrnhut
z. B. für J. Böhme geworben und durch seinen mystisch geprägten Pietismus auch
durchaus eine Gefährdung der Herrnhuter Glaubensform dargestellt, so wie zum
anderen Oetinger in Zinzendorf und seinem saloppen Umgang mit der Bibel und ihrem
Zusammenhang seinerseits zunehmend Verrat an der biblischen Wahrheit gewittert
hat, eine Spannungskonstellation, die im innerpietistischen Streit zwischen
beiden schließlich sogar dazu führte, dass Zinzendorf als Schlusspunkt der
Beziehung zwischen beiden Oetinger den Tod wünschte, damit der aufhöre zu
schwärmen (vgl. 77; zu der fast psychopathologischen Beziehung zwischen beiden
vgl. etwa auch 78f.).
In Weyer-Menkhoffs
Darstellung stellen die Jahre 1736/37 den Tiefpunkt der Krise und das Jahr 1738
die ganz entscheidende theologische und biographische Wende für Oetinger dar,
wobei Wende nicht so sehr Abkehr von dem in den ,Lehr und Wanderjahren'
Er-Fahrenen und kritisch Geprüften bedeutet, sondern Abkehr vom
temperamentvoll-jugendlichen Suchen hin zu einem ausgereifteren Hindurchdringen
zur Mitarbeit in der verfassten Kirche. Gewisse separatistische Tendenzen und
schwärmerisch-mystische Lieblingsneigungen begegnen von diesem Jahr an
moderater. Luther z. B. erhält einen höheren Stellenwert bei Oetinger, und
Oetingers Wertschätzung der mystischen „Zentralschau“, so wie Böhme, aber auch
andere von Oetinger geschätzte Gewährsleute sie besaßen, tritt zugunsten des
von Oetinger sog. „sensus communis“ sehr in den Hintergrund. Kurzum: So wie
jeder Schwabe mit 40 langsam gescheit wird, so hat nach Weyer-Menkhoff Oetinger
ab 1736/37 und vollends 1738 die Bestandteile seines Denkens in Grundzügen
zusammen, von denen aus es weitergeht, hin zu Oetingers Hauptwerken und den
weiteren Denkbemühungen und Auseinandersetzungen.
Der hier genannte
Einschnitt ist von Weyer-Menkhoff sehr pointiert herausgearbeitet worden, wobei
auch der biographische Aspekt (Verheiratung, Übernahme der Pfarrstelle in Hirsau) eine Rolle spielt: „Das Jahr 1738 bietet ... einen größeren Einschnitt
in Oetingers Leben. Mit festem Wohnsitz, Arbeit und Familie wird er nun
kontinuierlich auf dem aufbauen, was er erfahren und sich an Grundlagen
erarbeitet hat" (111) .
Der Rest der
Biographie tritt dann bei Weyer-Menkhoff sehr viel summarischer in den Blick
(z. B. im Exkurs über „Oetinger als Geisterseher?“, 186-190, in dem einige
Legenden entmythologisiert werden und wo zusammen mit der Oetingerschen Lehre
vom Zwischenzustand der Seele auch seine Stellung zum, Geisterseher' Emmanuel
Swedenborg sowie sein in der Autobiographie beschriebener Kontakt mit Schill
und Oechslin behandelt wird). Stattdessen zeigt er, wie sich beim ,reifen'
Oetinger sein Denken ausgestaltet hat. Dieser 2. Hauptteil (121-230) dient der
Aufgabe, „das Ergebnis der theologisch-philosophischen Erkenntnis Oetingers in
einigen wichtigen Punkten in einer von ihm abgeschauten Systematik zu
skizzieren“ (230). Die obligatorischen großen Themen jeder Arbeit über Oetinger
kommen hier zur Sprache: sein eigenständiger Umgang mit dem theosophischen
Gedankengut J. Böhmes (zu dessen drei Grundprinzipien und den ,sieben Geistern'
vgl. 166-171 u. ö.), seine Übernahme der 10-Sefirot-Symbolik aus der jüdischen
Kabbala (zu den 10 Sefirot vgl. 171-175 u. ö. ) und viele andere Einzelfragen
der Oetingerschen Aufnahme und Verarbeitung alter Traditionen werden hier
dargestellt. Doch insgesamt weist dieser 2. Hauptteil – zwangsläufig! –
zahlreiche Parallelen mit den großen Oetinger-Arbeiten der letzten Jahre auf,
in denen mit anderen Worten das Gleiche dargestellt wurde (Großmann, aber auch
Piepmeier), so dass man sich hier auf einige Aspekte beschränken kann, die aus
Weyer-Menkhoffs Optik über das Bisherige hinausfuhren.
Er beschreibt im
Einzelnen im genannten 2. Hauptteil („,Etwas Ganzes' im Leben“, 120-230) unter
dem Aspekt der typischen Oetingerschen Ganzheitlichkeit (1) dessen
Schöpfungslehre (121-146), (2) seine Christologie (146-205) und (3) sein
Verständnis von Leiblichkeit, das ganz und gar eschatologisch ausgerichtet ist
(„Die Konkretion des ,Ganzen'. ‚Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes’ “,
205-230).
(1) In der
Darstellung der Schöpfungslehre nimmt die für Oetinger eigentümliche
Konzeption, vom ,allgemeinen Wahrheitsgefühl', dem ,sensus communis' auszugehen
und sich damit am ,Einfachsten, Nützlichsten und Notwendigsten' zu orientieren,
einen besonders breiten Raum ein (124-141). Die besondere Pointe der
Meyer-Wenkhoffschen Deutung liegt dabei (aufgrund der Erkenntnisse seines 1.
Hauptteils) darin, dass diese ,sensus-communis'-Konzeption gleichsam bei
Oetinger die Ersetzung der früheren Favorisierung der elitär(-esoterischen)
mystischen Zentralschau oder Zentralerkenntnis darstellt (vgl. dazu 89-92, aber
v. a. 103-110), so dass der den ,sensus communis' betonende ,reife' Oetinger in
dieser universalen Konzeption mystisch elitäre Motive gleichsam
,demokratisiert' und auf den Boden des ,Alltags-Lebens' heruntergeholt hat.
Dass Weyer-Menkhoff im Zusammenhang mit der Schöpfungslehre Oetingers
Naturforschungen und -Experimente alchemistischer und ähnlicher Prägung (z. B.
das berühmte Melissenblatt-Experiment) in die Darstellung miteinbezieht
(140-146), ist hier am Rande zu nennen.
(2) Die Mitte des 2.
Hauptteils (und der ganzen Arbeit) bildet das christologische Kapitel: „Jesus
Christus – der Weg zum Leben“ (146-205), in dem das Ineinandergreifen von
Schöpfungslehre und Anthropologie mit der Christologie bei Oetinger ebenso
gezeigt wird wie die eschatologische Ausrichtung (auf das Reich Gottes und die
Apokatastasis hin), die von Oetingers Christologie nicht zu trennen ist.
Weyer-Menkhoff stellt dar, wie in dieser durch und durch dynamisch
vorzustellenden universalen Theologie des Werdens und Lebens der Mensch an den
gleichen prozesshaft-lebendigen Grundkräften des Werdens partizipiert, welche die
übrige Natur in Gang halten (er ist ein ,Mikrokosmos vom Makrokosmos', ein
,kleines Ganzes vom großen Ganzen'), wobei das von Sünde und Entfremdung
korrumpierte ‚auflösliche Leben’ in der gefallenen Welt am ‚unauflöslichen
Leben Gottes’ heil werden kann und soll, nämlich in Christus, dem
‚Wiederbringer des Lebens’, dem „Heil der Natur“ (vgl. zu dieser Formulierung
des Titels 131, 148 und 260). Christus als „Heil der Natur“, auch das ist
Oetingers Gottesvorstellung gemäß kein Sein, sondern ein prozesshaftes
Geschehen und ein geschichtliches Werden. So zeichnet Weyer-Menkhoff nach, wie
– Oetingers Reich-Gottes-Vorstellungen zufolge – von diesem Verheißenen etwas
geschichtlich zutage treten soll und sich eschatologisch in der Wiederbringung
aller Dinge vollenden wird (197-205).
(3) Den wichtigen
eschatologischen Themenaspekt Chiliasmus bei Oetinger freilich behandelt
Weyer-Menkhoff (gleichsam ,nachklappend') zum Schluss seiner systematischen
Darstellung von Oetingers Konzeption, im Abschnitt: „Die Konkretion des Ganzen,
‚Leiblichkeit’ ist das Ziel der Werke Gottes“ (205-236). Hier geht es um die
geschichtlich-,leiblichen' Vollendungen, die als Verheißene nach Oetinger ab
1836 (Bengels Datum) stattfinden werden samt all den utopisch klingenden
Vollendungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und des gesamten sozialen Lebens,
die Oetinger in dieser von ihm sog. ,Güldenen Zeit' erwartet, wenn etwas vom
Reich Gottes auf Erden präsent sein wird. In diesem Sinn hat sich nach Oetinger
(wie Weyer-Menkhoff auch zeigt) jegliche Theologie, Wissenschaft und
(Sozial-)Ethik auf das Güldene Reich auszurichten.
Schließlich bietet
Weyer-Menkhoff am Ende seiner Arbeit noch einen schmaleren 3. Hauptteil:
„Strukturen der Ganzheit in Alltag und Wissenschaft“ (231-264). Im Sinne des
Letztgenannten geht es hier darum, nachzuzeichnen, was Oetinger selbst als
Nutzen und Zweck seiner Lebensarbeit beschrieben hat: „Vorarbeiten zu geben
für Leben, Glauben und Denken im Horizont der Erlösung während der
anbrechenden Zeit großer Revolutionen“ (230; gemeint ist: vor dem Datum 1836).
Erwähnenswert außer dem schönen Abschnitt: „Die Zeiten Gottes“ (231-234; über
den für Oetingers Denken formal und inhaltlich theologisch wie philosophisch
konstitutiven Faktor der Zeit) ist aus diesem 3. Hauptteil insbesondere der
Abschnitt über „Die Methode“ (239-256). Es geht hier um die „Methode“, die Oetinger in seinen ,reifen' Hauptwerken anwendet. Herausgearbeitet wird vor
allem, dass es da Oetinger um „drei Methoden geht, die seine Theologie und
Philosophie in Handlungsanweisungen bringen“ (240), oder anders gesagt: „die
drei Mittel, durch die Erkenntnis gewiß werde ... Die drei Mittel sind: Die
Weisheit auf der Gasse, Sinn und Geist der Heiligen Schrift, die Schickungen
Gottes, also Philosophien und sensus communis und die Bibel unter Beachtung der
Lebensumstände“ (241), die man „alle zusammennehmen müsse“ (ebd.), wobei in
dieser Trias nach Weyer-Menkhoff eine „trinitarische Systematik der geschaffenen
und wiederhergestellten Leiblichkeit“ (240) beschlossen liegt. Dieser
eigentümliche Trinitätsgedanke spielt in der Arbeit als weitere besondere
Pointe der Weyer-Menkhoffschen Deutung eine beträchtliche Rolle (vgl. etwa: 5,
116, 119, 193, 245, 252, 256).
Im resümierenden
kleinen Schlusskapitel über die „Systematik der Theologie Oetingers“ (265-271)
fasst Weyer-Menkhoff bündig zusammen, was er als Sinn dieses
Trinitätsgedankens bei Oetinger sieht: „Oetingers Theologie der Leiblichkeit
ist in überraschend ... reformatorischer Weise trinitarische Theologie und
trinitarisch strukturiert. Bedeutsam war auch die Feststellung, dass er die
Idee des Lebens und der Leiblichkeit nicht aus dem ersten, sondern aus dem
zweiten Glaubensartikel ableitet, von Jesus Christus, dem Wiederhersteller des
Lebens, der ins Fleisch kam. Erst durch Christus könne der erste
Glaubensartikel wirklich geglaubt werden. Erster und dritter Artikel existieren
in ständiger Kommunikation. Im ersten ist der sensus communis begründet, der
dritte zeigt die actualitas des sensus communis als Weisheit auf der Gasse an,
die auch ,die Heiden belebt'. Im ersten ist ausgedrückt, dass Gott die
Leiblichkeit schafft, im dritten ihre Verwirklichung durch den Schöpfergeist;
der Geist Gottes ist Gestaltungsprinzip" (266).
Das eingangs dieser Rezension genannte erkenntnisleitende Interesse, von Oetinger etwas lernen zu wollen, kommt in diesem Schlusszitat – implizit - schön zum Ausdruck: Weyer-Menkhoff stellt, sichtlich fasziniert von diesem Denken, Oetingers Größe und die Chancen von dessen Theologie für heute heraus. Das ist ihm aufs beste gelungen, wobei seine Darstellung auch durch das Bemühen gekennzeichnet ist, Oetinger als (freilich ‚unorthodoxen’) Orthodoxen (dazu vgl. 262-264) zu schildern.
Daneben freilich käme
Oetingers Grenze deutlicher in den Blick, wenn man ihn klarer als
württembergischen Pietisten sähe in der chiliastischen Reich-GottesTradition,
die von Spener über Bengel zu Oetinger, Philipp Matthäus Hahn und Michael Hahn
führt, ferner wenn man die Art der Swedenborg-Rezeption Oetingers in die
Darstellung einbezöge. Das Ergebnis einer solchen Sicht (Weyer-Menkhoff nennt
die hier Genannten zwar häufig, prüft ihren Einfluss auf und ihre Beziehung zu
Oetinger nicht mit jener Sorgfalt, die er dem Verhältnis Zinzendorf/Oetinger
angedeihen lässt) wäre ein etwas ‚unlutherischerer’ und, theologisch auch
‚gefährdeterer’ Oetinger, dessen eschatologischer Universalismus allerhand
Fragen aufwirft, die der Rezensent an anderer Stelle gestellt hat. Doch diese
Schlussanmerkung zu Weyer-Menkhoffs großartigem Buch ist nicht im Leisesten
als Kritik und Abwertung gemeint, sondern als Fortsetzung eines Gesprächs über
Oetinger zu dem Weyer-Menkhoff einlädt.
Hemer-Deilinghofen Friedhelm Groth
Weyer-Menkhoff, Martin:
Friedrich Christoph Oetinger, Wuppertal/Zü rich, R. Brockhaus Verlag,
Metzingen, Verlag E. Franz. 174 S. = R. Brockhaus Bildbiographien, R. Brockhaus
Taschenbuch 1107
Mit ähnlichem
Vergnügen wie die vorher besprochene große wissenschaftliche Oetinger-Monographie Weyer-Menkhoffs ist diese für einen breiteren Leserkreis
geschriebene preiswerte Bildbiographie zu lesen, die ein ‚Lebensbild’ von
Oetinger im besten Sinne des Wortes darstellt und darüber hinaus eine gute
Einführung in Oetingers Denken und Schaffen bietet. Es handelt sich dabei
keineswegs bloß um eine verkürzte oder popularisierte Fassung der Dissertation,
sondern um ein ganz neu geschriebenes Buch, in dem Oetinger anschaulich in Wort
und Bild den Lesern nahegebracht werden soll.
Dazu dienen nicht
zuletzt die etwa 60 Abbildungen (Portraits von Oetinger und seiner
Zeitgenossen, mit denen er zu tun hatte, Titelseiten seiner Werke,
Handschriftenabbildungen und Bilder der Orte, an denen er wirkte). Aber genauso
anschaulich zeigt der flüssig geschriebene Text sehr viel von Oetinger, dessen
Leben in elf Abschnitten nachgezeichnet wird: 1. Wer war Oetinger? (7-12), 2.
Kindheit (13-22), 3. die Berufsentscheidung (mitsamt den dahin gehörenden
,Schlüsselerlebnissen': 23-33), 4. die Tübinger Studienerfahrungen (z. B. mit
der Begegnung mit Böhmes Schrift ,Antistiefelius' durch den Pulvermüller;
34-50), 5. seine Reisen (v. a. nach Herrnhut zu Zinzendorf, 50-74), 6. seine
Eheschließung und die Aufnahme des Pfarramts in Hirsau (74-82), 7. seine Zeit
in Schnaitheim und Waldorf (83-91), 8. seine Krisenzeit als Stadtpfarrer und
Dekan in Weinsberg (92-98), 9. die Herrenberger Zeit (99-113), 10. Oetinger als
Prälat in Murrhardt (114-137) und 11. : "Das Letzte: Bergwerks und
Geisterpredigt" (138-150).
Es kann v. a. die
didaktische Leistung beeindrucken, dass es dem Verfasser gelingt, alle
wesentlichen Erkenntnisse, die er in seiner Dissertation gesammelt hat, in
diese Schilderung von Oetingers Leben einzubauen und trotzdem ein leicht
verständliches Buch für jedermann anzubieten, das – mit ganz viel
,Lokalkolorit' und einigen Geschichten zum Schmunzeln – uns Oetinger
sympathisch nahebringt. Zum Beispiel wird im 11. Abschnitt „Das Letzte“
dargeboten. Da wird seine Bergwerkspredigt erzählt und die Geschichte von
seinen angeblichen Geisterpredigten ,entmythologisiert', und in diesem schmalen
Abschnitt hat der Leser exemplarisch alle wesentlichen Einsichten der Oetingerschen Eschatologie zur Hand (Buch zur Wiederbringung aller Dinge).
Eine Tabelle der wichtigsten Lebensdaten, ein Anmerkungsteil, ein gut
ausgewähltes Literaturverzeichnis sowie ein Personen und Ortsregister
beschließt den Band. Interessant ist, dass dieses in einer ,evangelikalen'
Reihe herausgekommene Bändchen (Weyer-Menkhoff hat in den letzten Jahren viel
über Oetinger für sog. ,Evangelikale' publiziert, bis hin zu Rundfunkvorträgen
im Evangeliumsrundfunk) die dort oft sehr beargwöhnten ,ketzerischen Tendenzen'
Oetingers nicht kritisch berührt (z. B. seine Wiederbringungslehre).
Hemer-Deilinghofen
Friedhelm Groth