Predigt 2. Weihnachtstag Deilinghofen am 26.12.94


 

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde in der Stephanuskirche!

Immer wenn die Apricker [heißt: Immer am Stephanustag, dem 26. 12., singt in Deilinghofen jedes Jahr der MGV Apricke, und viele aus Apricke  pflegen dann immer in den Gottesdienst der Stephanuskirche zu gehen] hier sind am 2. Weihnachtstag, dem Stephanustag, und Weihnachten langsam zuendegeht, dann hab ich Ihnen in der Predigt und im Gottesdienst sozusagen etwas von Heiligabend mitgebracht: daß wir rückschauend z.B. uns erinnerten an den Jubel und das Singen der vielen Kinder beim Krippenspiel, daß wir uns erinnerten an den nächtlichen Abendmahls-Gottesdienst am 24.12. mit der großen Zahl von Erwachsenen und besonders auch Jugendlichen, die hier in der Hl. Nacht sich mit dem Kind in der Krippe verbunden wußten und sich neu verbunden haben bei Brot und Wein. Das war dieses Jahr wieder so - für mich und auch für andere sehr schön und etwas ganz Wertvolles zum Dankbarsein: ein Zeichen dafür, daß Weihnachten für viele doch noch einen Sinn behalten hat und daß es hier in Deilinghofen von einer Menge Menschen als ein Glaubensfest, als ein CHRISTFEST im wörtlichen Sinn, begangen wird.

So habe ich Ihnen hier eine Weihnachtskerze mitgebracht von denen, die in großer Zahl hier brannten in der Hl. Nacht und diese Kirche erleuchteten, und im Licht dieser Kerze, die ich entzünde, wollen wir auf den in unseren Kirchen vorgeschriebenen Predigttext für den heutigen 2. Feiertag hören. Es ist ein kurzer Paulus-Satz, der es in sich hat, 2. Korinther 8, 9:

Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.

Allein dieser Vers, liebe Gemeinde, erinnert mich ganz stark an den schönen Mitternachtsgottesdienst am 24.12. in der Nacht zum 25.12. Unser CVJM-Chor Agape sang diesen Vers als Weihnachtslied in der Vertonung von Peter Strauch, der mein Jugendfreund war - und sich das anzuhören, ist auch schon in sich eine Predigt und Auslegung des Textes, über den heute in unsern Kirchen gepredigt wird. Wollen wir nun zweieinhalb Minuten uns von Peter Strauch und unserm Chor Agape den heutigen Text auslegen lassen; wir haben`s vorgestern Nacht auf Cassette aufgenommen, und trotz der verminderten Tonqualität, kommt das, worauf es ankommt, sicherlich rüber.

--- CASSETTE ABSPIELEN LASSEN: Gott wurde arm für uns... ---

Ja, liebe Gemeinde: Gott wurde arm für uns. Paulus schreibt - lange, lange nach Weihnachten - an seine Gemeinde in Korinth:

Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.

Paulus spricht hier an, was er unter Gnade versteht und was ihm an diesem Jesus Christus faszinierend wichtig ist: das, was seit Weihnachten für die, die auf Jesus hören, in der Welt ist: der "heruntergekommene" Gott, der Gott, der sich den tiefsten Tiefpunkten aussetzt, der Gott, der sich nicht zu schade ist, den Dreck zu kennen - und auch nicht Zweifel, Anfechtung und Not. Ja, zu Weihnachten erklang zwar: "Ehre sei Gott in der Höhe" - aber um dieses Jesu willen, der von der Krippe zum Kreuz unsere Tiefen durchlitt, müßten Christen eigentlich genauso jeden Sonntag singen: "Ehre sei Gott in der Tiefe" - denn dort in der Tiefe, an den tiefsten Punkten wird’s damals und bis heute am intensivsten erfahren, wer Christus als Retter und Heiland ist.

Er wurde arm für uns, damit wir durch seine Armut reich würden. Martin Luther war’s, der das für den Dreh- und Angelpunkt des Glaubens hielt. Luther nannte das den "fröhlichen Wechsel": Er, Jesus, der arme Gott, trägt meine Schuld, meine Angst, mein Versagen, er trägt von der Krippe bis zum Kreuz das Gericht, das ich verdient hätte, damit ich frei von Schuld, frei von Versagen und frei von Angst, frei vom Gericht meinen Weg gehen kann. Er wird arm, damit ich reich werde - das ist der "fröhliche Wechsel", der seit Weihnachten in der Welt ist, und in der Liedstrophe von Nikolaus Herman, die wir eingangs sangen, findet dieser "fröhliche Wechsel" ja weihnachtlichen Ausdruck als Bekenntnis: "Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein..."

Doch Paulus, Luther und Nikolaus Herman sind lange her, das würden mir hier vielleicht Chorsänger aus Apricke oder andere Anwesende hier in der Kirche jetzt heimlich entgegenhalten - und sie würden mir vielleicht am liebsten sagen: "Nun mal Butter bei die Fische, sag doch mal für heute was diese Gnade ist, daß ein Reicher arm wird - und ich da was von habe..."

Am besten, denke ich, geht’s in Gleichnissen und Beispielen. Auch wenn jeder Vergleich hinkt: das Entscheidende kommt auch da rüber.

Da konnte man in der Woche vor Weihnachten im Fernsehen spätabends in "Pro 7" eine spannende Sendung sehen: eine ungewöhnliche Sozialreportage über Not in Deutschland. Zum Beispiel wurde da erschütternd gezeigt, wie allein in der Hauptstadt Berlin an die 8.000 bis 10.000 Jugendliche unter 18 Jahren Straßenkinder sind - obdachlos, ohne richtiges Dach über dem Kopf. Und in der gleichen Sendung wurden die, die man "Penner" oder "Berber" nennt, dargestellt: die Unzahl von Obdachlosen nicht nur in der Hauptstadt, von denen, wenn die Winternacht kälter wird, immer mal der eine oder andere erfriert, manchmal mehrere reihenweise, denn für das größer werdende Heer von Obdachlosen sind in Berlin mitten in unserm reichen Land nur 300 Notunterkünfte da, und Schlafen auf Luftschächten bei Minus 4 Grad Celsius ist eben lebensgefährlich.

Da ich selber 3 Jahre mit einem sog. Penner zusammengewohnt habe, mit dem "Edelpenner" Franz aus Wanne-Eickel, der inzwischen lange seßhafter Rentner ist und seine wilde Zeit lange hinter sich hat, auf diesem Hintergrund konnte ich mich gut in den Reporter reinversetzen: Der hat für seine Reportage einige Tage dir Rolle gewechselt, daß er nämlich selbst zum Penner wurde, zum Penner, der bei Minusgraden friert und in seiner Not Rettung sucht bei "Normalen". In Pro 7 wurde das mit versteckter Kamera gezeigt: Bei 15 Privatpersonen suchte der Reporter Hilfe oder Rat, wie er sich vor dem erfrieren retten könnte - und jedesmal war es wie in Lukas 2 in der Weihnachtsgeschichte: Keinen Raum in der Herberge, nicht mal 'nen Rat dort; im Gegenteil: er kriegte einen Fußtritt nach dem andern mit wüstesten Anpöbeleien - wer ganz unten ist, kann sich vor Tritten gar nicht retten, und keiner der "Normalen" bedenkt, was ich z.B. im Umgang mit meinem Penner Franz und seinen Kollegen erfuhr: daß der Weg dahin ganz kurz sein kann, ja daß selbst Lehrer, Rechtsanwälte und Universitätsprofessoren, frisch geschieden oder verwitwet und zum Suff gekommen, auf einmal auf den Luftschächten und den Parkbänken wiederfanden.

Liebe Gemeinde, die Pointe, der Clou und der entscheidende Knackpunkt der Weihnachtsgeschichte ist, daß in Jesus Gott Knechtsgestalt annahm und sich real und leibhaftig all den Fußtritten der Menschen aussetzte, daß er arm wurde - nicht nur wie der Reporter, der hinterher wieder in der warmen Wohnung war und seine Szenen mit der versteckten Kamera aufbereiten konnte: nein, Jesus, Gottes Ein-und-Alles ging den tiefsten Weg bis zuletzt, den Weg der Armut und Erniedrigung, bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.

Er ging ihn für uns und kennt uns - an unsern Tiefpunkten. An einen reichen Gott könnte ich nicht glauben, der satt und selbstgefällig nur oben wär und dem das Unten piepegal wär. Aber an diesen armen Krippengott, den leidenden und liebenden Gott des Kreuzes, der Menschen an den tiefsten Punkten sucht und findet und Sünder an seinen Tisch ruft - damals wie heute: an den kann ich glauben und glaube ich. Und da ist so der fröhliche Wechsel nicht nur was von damals, nicht nur für Paulus, Nikolaus Herman und Luther, sondern was für heute: Er erreicht mich an meinen tiefsten Punkten, denn er wurde tief für uns, damit wir wieder hochkommen, er wurde arm für uns, damit wir in dieser Armut reich werden, er wurde Knecht, damit wir Herr sein können - ja er wurde ein verachtetes und bald asylsuchendes Kind, damit wir uns verstehen lernten in seinem Namen als versöhnte Kinder Gottes.

Ein Nachtrag zum heutigen Text aber ist am Ende der Predigt verblüffend: Wer 2. Kor. 8 aufschlägt und unsern Vers sucht, liest ein ganzes Kapitel lang ringsrum nur von Geld. Der arme Gott, der die Seinen durch seine Armut reich macht, dies wirklich weihnachtliche Geheimnis, steht bei Paulus in seinem Brief mitten in einem ganz weltlichen Zusammenhang. Er braucht Kollekte, und zwar viel, um die Urgemeinde in Jerusalem, die in Finanznot war, zu stärken; und in der Jerusalemer Urgemeinde war der Namensgeber unserer Kirche und spätere Märtyrer Stephanus, an den heute gedacht wird, ja Ober-Armenpfleger, sozusagen Chef der christlichen Sozialarbeiter, gewesen.

Es ist ein Aufruf des Paulus an die Christen in Korinth: Leute, habt was über für die Muttergemeinde, die dort am Ort, wo Jesus starb, in Armut kaputtzugehen droht - und dicht hinter unserm Vers steht das bekannte Pauluswort, das fast zum Sprichwort wurde: Euer Überfluß diene ihrem Mangel.

Ich lese daraus, daß es bei Weihnachten auch immer um ganz weltliche Konsequenzen geht. wer sich im Glauben über den "fröhlichen Wechsel" freut, daß Gott arm wird für uns, und damit völlig neue Perspektiven in unser Leben bringt, der darf nie und nimmer Herz für andere und dann: auch das Portemonaie geschlossen halten und nur an sich denken.

In diesem Sinn kann man über stattliche 4.500 DM Brot-für-die-Welt-Kollekte von vorgestern dankbar sein: Das darf man werten als ein Zeichen in der richtigen Richtung, grade in einer Zeit wo viele über so was wie Brot für die welt die Nase rümpfen. Und daß vier Tage vor Weihnachten ein hier beladener LKW in Schelkowo bei Moskau ausgeladen wurde mit Wintersachen, Lebensmittel und daß unsere Russen uns Heiligabend noch anriefen, uns dankten und allen hier versichern lassen, daß sie für uns beten - das sehe ich im engen Zusammenhang mit unserm Text, genauso wie die Aktivität des CVJM für Ghana, wo von Deilinghofen aus sogar ein ganzer LKW gespendet wurde, der auf dem weg nach Wawasi ist. Das sind nicht glänzende Heldentaten zum Sich-auf-die-Schulter-Klopfen, sondern ganz nüchterne Folgerungen des Glaubens, Konsequenzen von Weihnachten - denen zum Trotz, die sagen: Es ist nirgends was zu machen, es bleibt alles beim Alten.

Weil Gott arm wurde für uns, können wir seinen Reichtum annehmen und weitergeben - um uns herum. Das recht verstandene Annnehmen und das recht verstandene Weitergeben schenke uns "nicht nur zur Weihnachtszeit" der, dessen Friede höher ist als alle menschliche Vernunft und der unsere Herzen und Sinne bewahre in Christus Jesus.

Amen.

Hier geht’s zur seriösen Stephanusseite aus Deilinghofen: http://www.centernet.de/Deilinghofen