Predigt in Deilinghofen am Volkstrauertag, 10.11.1995

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

"Liebe Gemeinde", so fängt normalerweise eine Predigt an: "liebe Gemeinde". Diese, von der ich spreche, fängt anders an: "Ihr seid dümmer als das Vieh". So wird es Gottes Volk ins Gesicht geschleudert: Ihr seid - bitte schön! - gar keine liebe Gemeinde, sondern verblendet und in dieser Verblendung dümmer als das Vieh. Das hab natürlich nicht ich mir ausgedacht, nein, ich selbst muß es mir auch und genauso sagen lassen, daß ich dümmer bin als das Vieh und als die Tiere, jedenfalls wenn ich auf den heutigen vorgeschrieben Predigttext höre, der ziemlich derbe und äußerst krass zur Sache geht, Jeremia 8, Vers 4-8 und 10-11. Da spricht mit diesem Urteil Gott durch Jeremia, den Propheten, sein Volk im Horizont der schrecklichen und katastrophalen Krisenzeit der Babylonischen Gefangenschaft auf Schuld und Bußunfähigkeit an - es ist sozusagen Gottes eigener Volkstrauertag. Gottes eigener Volkstrauertag; Gott selbst trauert grenzenlos über die verheerende Verblendung seiner Leute, wenn er da Jeremia im heute vorgeschriebenen Predigttext folgende Worte sagen läßt:

Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum (aber) will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen. Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen. Wie könnt ihr sagen: "Wir sind weise und haben das Gesetz des HERRN bei uns"? Ist's doch lauter Lüge, was die Schreiber daraus machen. Die Weisen müssen zuschanden, erschreckt und gefangen werden; denn was können sie Weises lehren, wenn sie des HERRN Wort verwerfen? Sie gieren alle, klein und groß, nach unrechtem Gewinn; Priester und Propheten gehen mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: "Friede! Friede!", und ist doch nicht Friede.

Nach der erschreckenden Aussage unseres Textes, liebe Gemeinde, ist es schwer auszuhalten, schwer zu verdauen, wenn Gott Volkstrauertag hält und über die Abwege seines Volkes Trauer trägt. In dieser Klageäußerung aus dem Jeremiabuch hält ein gar nicht lieber Gott, ein nicht als "lieber Gott" zu verharmlosender zorniger Gott Gericht über seine Leute, über seine gar nicht liebe Gemeinde, für die er Klartext redet. Es fängt da mit Erschrecken an. Erschrecken darüber, daß Gottes Leute, die er wie seinen Augapfel liebt von sich aus offenbar vollkommen umkehrunfähig sind. Sie sind gefallen und können und wollen nicht mehr aufstehen, sie haben jeglichen inneren Kompaß verloren: Die Zugvögel, Kraniche und Störche und Tauben haben ihren inneren Kompaß vom Instinkt her, daß sie wissen, wann und wo sie umkehren müssen, aber Gottes Leute in ihrer grenzenlosen Krise der Schuldverstricktheit haben solchen Instinkt und Kompaß nicht, ja sie sind damit in der Tat dümmer als das Vieh. Sie gleichen - so Jeremia - eben nicht den Kranichen, Störchen und Turtel-tauben, die von sich aus heimkommen und zurückfinden, sie gleichen da eher der Lemmingen, die hintereinander hertrotten und einer nach dem andern ins Verderben stürzen und sie gleichen den Hengsten in der Schlacht, die kriegstrunken und fehlgeleitet zugrundegehen.

Liebe Gemeinde, von dieser unerhörten Kernaussage unseres Textes her möchte ich einen Umweg nehmen. Einen Umweg, nicht etwa um den Text zu umgehen, sondern gerade um die Wucht des heutigen Textes für uns deutlich zu machen, einen Umweg, um mitten in den Text hineinzuführen und mitten in das, was solch ein Text von Gott her zum Thema Volkstrauertag sagt für den, der zu hören bereit ist.

Da ist ein noch nicht sehr alter Dorfpfarrer, dem hat's fast die Sprache verschlagen. Er kann normalerweise predigen und wie, und dieser Dorfpfarrer ist auch in seinem Amt wacker, rege und engagiert. Aber er ist in eine Krise, in eine große Predigtnot geraten: daß es ihm die Kehle zuschnürt, wenn er auf der Kanzel etwas sagen soll. Nicht daß ihm die Themen ausgegangen sind. Nein, er ist umgekehrt übervoll von einer Entdeckung aufgrund einer ganz neuen und lebendigen Zuwendung zum Bibellesen: wie da Paulus im Römerbrief von Gott spricht und wie Jeremia, der Prophet, von Gott spricht. Und dieser Dorfpfarrer fragt sich bohrend: Ist da nicht etwas verlorengegangen? Muß man nicht ganz anders von Gott sprechen? Das ist seine Predigtnot, das sind die bohrenden Fragen, die sich ihm da stellen im Jahr 1919 direkt nach Kriegsende im Schweizer Dörfchen Safenwil im Kanton Aargau, diesem Dorfpfarrer mit Namen Karl Barth, das sind die Fragen, für die er von der Mehrheit seiner Amtsbrüder zunächst keine offenen Ohren findet, wo er langsam erst aufgerüttelte Gesinnungsgenossen findet, allen voran im Nachbardorf seinen Freund, den Pfarrer Eduard Thurneysen, der Karl Barths Weggefährte wurde in diesem Kampf der Erneuerung, nach der Schuld und der Katastrophe des 1. Weltkriegs. Ja, aus der Sicht des Dorfpfarrers Karl Barth waren sie wirklich den Lemmingen ähnlich, die kompaßlos ins Verderben rannten: seine zuvor verehrten theologischen Lehrer und Theologieprofessoren, all die angesehenen Kirchenführer, die unentwegt hochtrabend von Kultur und hohen Werten, von Frieden, Gott und Vater-land und andern hehren Idealen sprachen und - gottverloren - alles treib-engelassen hatten: in den verheerenden Krieg, im Namen Gottes dort die Waffen gesegnet hatten und z.B. das normalfanden, daß auf den Koppel-schlössern an den Gürteln der Soldaten eingeprägt stand: "Mit Gott", wie ja immer die Devise gelautet hatte: "Mit Gott für Kaiser und Vaterland". Es ist alles Lüge, was die Schreiber daraus machen, so sagt's in Gottes Auftrag Jeremia Gottes Volk, und sehr ähnlich spürten es der Dorfpfarrer von Safenwil.

Und genau das stand im Hintergrund dieser Krise und Predigtnot der Pfarrer Barth und Thurneysen, und Karl Barth selbst fand's in der Bibel völlig anders - im Römerbrief, bei Jeremia und den andern Propheten: wie Gott sich da zu Worte meldet und sich nicht einspannen läßt vor unseren Karren, auf unsern Abwegen nicht mitgeht, wie Gott sich nicht für falschen Frieden, verheuchelte Kriegstreiberei, für faulen Trost und falschen Gottesdienst vereinnahmen und dienstbar machen läßt, als sei er bloß läppisch das Schmieröl, das eilfertig die Scharniere ölt bei den fal-schen verblendeten Tendenzen der Gesellschaft.

Volk Gottes wach auf, Theologen, Kirchenleute, wacht auf und kehrt um, denn Gott will endlich wieder Gott sein, das war die Botschaft, die von Paulus, Jeremia und den Propheten her sich für Barth aus der Bibel er-schloß - und was da wachwurde, das war eine wahrhafte Wende und Erneuerung, durchaus eine Reformation, die da Platz griff: eine Reforma-tion, die Gott - im Sinne des 1. Gebotes - neu auf den Thron hob und die unheilige Allianz von Thron und Altar zerstörte.

Es kann heute noch zu denken geben, daß der junge Karl Barth mitten im Krieg im November 1915 als Synodaler der Schweizer Landessynode das übliche Synodengeschwätz und -gewäsch nicht mehr aushielt und an die Synode den Antrag richtete, man möge doch wenigstens auf die einlei-tenden Gottesdienste zum Auftakt der Synode doch verzichten, eben weil, wie er begründete, den Leuten alles Staatliche und Praktische, was in der Kirche das Programm bestimmte 1000mal wichtiger wäre als Gott und deshalb diese Art Gottesdienst Gotteslästerung wäre, ein Antrag, für den Barth Hohn und Spott erntete und beinahe gesteinigt worden wäre.

Es kann heute noch zu denken geben, daß Barth und Thurmeysen, den beiden inzwischen angesehenen Theologieprofessoren, 30 Jahre später in der Nazizeit der ganz entsprechende Weckruf an Christen und andere, Hitler nicht auf den Thron Gottes zu setzen und als "Bekennende Kirche" Widerstand zu leisten, schwerste Verfolgungen und Ausgrenzungen be-schert hat - in jener Zeit, in der wieder neu Deutschland wie die Lem-minge dem Verführer in den Abgrund folgte und jeglichen Kompaß ver-loren hatte - eben wie Jermia sagt: dümmer als das Vieh und dem schnaubenden Hengst gleich, der kriegslüstern ins Verderben schnaubt.

Und genau da - auf diesem notwendigen Umweg, liebe Gemeinde, sind wir beim Volkstrauertag und bei Jeremia und dessen falschem Gottesdienst, den er in Gottes Namen beklagt. Wir sind bei Gottes Volkstrauertag, bei Gottes Leiden an seinen Leuten in Kirche und Welt, bei uns, die wir ohne Kompaß und instinktlos eher den Lemmingen als den Kranichen, Störchen und Turteltauben gleichen. Wir sind's, die wir natürlich "Friede, Friede rufen, und es ist kein Friede", sondern wachsende Gottvergessenheit und Friedlosigkeit durch Zielverfehlung. Wir sind's, die wir verblendet unsre Schuld von uns aus gar nicht erst wahrnehmen wollen und alles treiben lassen, wir sind's, die wir aus Gott eine Traditon machen, ein schönes Wort, das in der Kirche inflationär gebraucht wird, ohne daß er im Sinn des 1. Gebots Gewicht kriegt, Gehör und Gehorchen bei uns.Das gilt sicherlich im Großen, daß in der Wendezeit nach dem 2. Welt-krieg die evangelischen Kirchen ganz viele Chancen des Neuanfangs mit Gott hatten und auch Zulauf, daß aber dies bald schon Welle wieder ab-geebbt war und man sich im Wohlstandsleben den Ersatzgott suchte.

Das gilt sicherlich im Großen in der Wendezeit der Wiedervereinigung von 1989/90 auch der evangelischen Kirche alle Türen offenstanden, und daß man massenweise die Jugendlichen und Erwachsenen hüben wie drüben in die Irre treiben ließ wie sie Lemminge - wo Gottes Volk kaum etwas dagegen tat, daß die Sekten und Rattenfänger überaggressiv sich an die Seelen ranmachten und sie kassierten, auch die politischen Radikalgrup-pen und Gewalttätigen - und Gottes Volk in der Kirche mit dem Auftrag, den lebendigen Gott neu zur Sprache zu bringen blieb nach dieser Wende merkwürdig phantasielos, matt und müde. Noch heute hat man im Blick auf viele evangelische Synoden den Eindruck, die Kirche sollte sich da besser das Wort Gott und den einleitenden Gottesdienst sparen, weil da "Friede, Friede" beschworen wird, und es ist kein Friede, weil da "Gott, Gott" gesagt wird und Gott zum entbehrlichen Füllwort mutiert ist.

Doch von unserm Text her aus Jeremia 8, liebe Gemeinde, verbiete sich solche Kritik nach außen, wo sie nicht zugleich auch nach innen geht: in diese Gemeinde hinein, zu Gottes Volk hier und bis in meine Schuld und bis in mein Herz hinein.

Und das ist das Schwierigste dieses provokanten Textes, der sich eben an eine gar nicht liebe Gemeinde wendet: Am Ende bin ich's, der da gefragt ist, ob er zu den Priestern und Propheten gehört, die die eigene Schuld übersehen und übertünchen mit frommen Worten von Frieden und Gott, der gefallen ist und nicht wieder aufstehen kann, der den Kompaß und Instinkt verlorn hat. Am Ende ist's die Frage, ob ich's nicht bin, der sich dümmer verhält als das Vieh und, was Umkehr anlangt, eher den Lemmingen gleicht als den Kranichen, Störchen und Tauben.

Am Ende ist's so womöglich, daß am allermeisten Gott über mich seinen Volkstrauertag hält und mir oder dir in Jeremia 8 seinen Spiegel vorhält, wo dann mir oder dir vielleicht das Gesicht nicht paßt, das da aus dem Spiegel heraussieht: unser Gesicht, wo es geprägt ist von unserer Verblendung, Bußunfähigkeit und irrenden Gottvergessenheit, und wo wir dann lieber den Spiegel dieses Wortes nehmen, um reflektierend andre zu blenden und in diesem Spiegel zu betrachten.

Damit es wirklich Buße gibt, und Neuanfang, der Früchte trägt, muß man weit über unsern Text hinausschauen - bis hinten nach Jeremia 31, wo Gott durch den Propheten seinen neuen Bund ankündigt und wo er ver-nehmen läßt, er hätte sein Volk und seine Leute zu sich gezogen aus lauter Güte, weil er uns je und je geliebt hätte, und ähnlich, wie am Anfang vernommen kündigt uns der Prophet in Jer. 19 an, das Suchen von ganzem Herzen Finden nach sich zieht.
Damit es wirklich Buße gibt und Neuanfang, der Früchte trägt, muß Gott erst wieder Gott werden für uns - als Kirche und als Einzelne - indem wir in seinem Spiegel uns selbst ansehen in unsrer Verlorenheit und uns dann uns finden lassen und wiederfinden in dem einen verlorenen Schaf, das der Gute Hirte des neuen Bundes Jesus sucht und auf die Arme nimmt und nach Hause trägt in den Stall. Als er das Volk sah, jammerte ihn, denn sie waren verschmachtet wie eine Herde, die keinen Hirten hat, heißt es im Neuen Testament. Gott sei Dank gehört das bis heute zu Gottes Volkstrauertag hinzu, dies Erbarmen des Guten Hirten mit seiner Herde, die er mit Schmerzen heimsucht, damit sie bei ihm die Heimat findet. Und wohl dem von uns, der sich da als verlornes Schaf wiederfin-det und um den Hüter weiß, der den Kompaß hat. Und ohne ihn, in der Tat, blieben wir am Schluß nicht seine liebe Gemeinde, sondern dümmer als das Vieh. AMEN