Zum damaligen Geburtstag des viel zu oft so genannten Dichterfürsten,
des sich begnadet fühlenden Selbstinszenierers, Blenders und Egomanen

 
waren hier zu Besuch seit 1.3.2018 (davor waren es über 15.000)...
.


Pastoerchens völlig subjektive und ziemlich pubertäre 

"Ich-hasse-Goethe-Homepage"

Ein pamphletisches Jubiläums-Patchwork mit viel Anmache, redaktionell mitverantwortet von 
den Gesinnungsgenossen Traugott Stichling, Amadeus Saitenhieb und Karl Auer

"Seit ich fühle, ... habe ich Goethe gehasst,  seit ich denke, weiß ich, warum." 
(Ludwig Börne, zitiert nach Willi Jasper, S. 92 - zu Börnes Goethe-Hass auch hier)
 
"Ich will Ihnen sagen, watt Goethes Faust is - Sie: der Abgrund inne deutsche Bildung." 
(Adolf Tegtmeier alias Jürgen von Manger, zitiert nach Willi Jasper, S. 7)

Ich kenne nichts Ärmer's / unter der Sonn' als euch Götter.
(verfremdendes Goethezitat gegen welche, die sich als solche ausgeben und sogar Substantive steigern: Gott - Götter - Goethe)
 

Begonnen bei einem Kuraufenthalt in Freudenstadt in Goethes Geburtstags-Jubiläumsjahr 1999

Ergänzungen am Anfang (ab Januar 2001): Reaktionen auf diese Anti-Goethe-Seite...
Goethehass-Zusätze am 10.4.2006 und 28.6.2006 - Buchbesprechungen über Goethehass-Bücher im Deutschland-Radio hier
und eine Rezension eines Buches zu Börnes Goethe-Kritik und eine Rezension eines Goethekritiker-Sammelbandes


Diese viel verlästerte und von manchen geliebte Goethehass-Seite fiel am 16.3.2005 Hackern zum Opfer. Wir fanden zum Glück noch diese ältere Version…
Wäre schade gewesen um die Literaturgeschichte ohne diese Goethehass-Seite!
NEU - damit man die Seite immer sicher hat ;-) - Druckversion der Seite als PDF: HIER

 

Home, sweet home, back zu Pastoerchen ; Lob oder Beschimpfungen bitte an: an@pastoerchen.de

Auswahl aus Beschimpfungen und Belobigungen dieser Seite:
Den "schlimmsten" Angriff auf diese Seite (außer dem o.g. Hacker) erlaubte sich ein Wichtigtuer, ein führender Funktionsträger der Ev. Kirche von Westfalen, der die "Ich-hasse-Goethe-Homepage" hinter meinem Rücken bei meinem Superintendenten verpetzte und ihm auferlegte, ich möchte diese Seite bitte schön löschen und mich von ihr distanzieren. Der Superintendent verpetzte mit seinerseits, wer der Verpetzer war, lachte mit mir, und ich merkte mir den Wichtigtuer...

1) MBD schrieb:   To: pastoerchen@gmx.de
Sent: Monday, April 09, 2001 7:57 PM
Subject: Goethe.....
wer Goethe doof findet, ist selber dooooooooof!!

2) K.J. schreibt: To: pastoerchen@gmx.de
Sent: Friday, January 18, 2002 3:01 PM
Hast Du nichts Besseres zu tun als so eine völlig bescheuerte Seite ins Leben zu rufen? Ich nehme an, Du bist Schüler und der Auslöser war eine verhauene Deutschklausur über Goethe (Faust vielleicht?). Man stößt ja immer wieder auf sehr dämliche Internetseiten, und davon ist Deine garantiert nicht die Schrecklichste. Denn das würde sie ja schon fast in irgendeiner Form auszeichnen. Diese Seite ist aber einfach so unglaublich nichtssagend und dumm...
Der einzige Grund, warum ich mich hier darüber erbose, ist der, daß ich Goethe für einen ganz unglaublichen Dichter halte und es recht affig finde, eine Seite mit Beschimpfungen über ihn ins Netz zu stellen.
Was bitte ist der Sinn???

3)
Date: 3.8.2002 20:27:09 Adrian ( no email / no homepage) wrote: Hallo Pastoerchen!
Ihre Website ist ja nicht schlecht geworden, aber ich finde Ihre Goethe-Hass-Seite einfach abscheulich!!! Wer so etwas auch noch ins Internet schreibt, dem fehlen bei mir 99 Cent am Euro. Wenn Sie Goethe wirklich nicht leiden können, dann ist das Ihre Sache, aber Sie müssen so etwas nicht im Internet verbreiten. Und sowas will Pastor sein, gerade Sie sollten als Vorbild dienen. Wie gesagt, Ihre Goethe-Hass-Seite ist einfach schei...!
Sorry, aber das musste ich einfach mal loswerden

4) Date: 16.3.2002 19:48:00  Ilma ( no email / no homepage) wrote: Also, jetzt muss ich doch mal fragen, was dieser Schmarrn mit der Goethe-Hass-Seite soll?! Ich habe es nicht mal geschafft, den Quatsch ganz durchzulesen! Aber das was ich gelesen habe hat mir voll und ganz genügt! Ein Bsp für so einen Quatsch: Goethes Faust mag vielleicht von den Nazis missbraucht worden sein, aber das selbe wurde mit dem Bamberger Reiter in meiner Heimatstadt auch gemacht - und da kann der arme Stephan von Ungarn doch nix dafür!! Genauso wenig wie Goethe! Wer solche "Argumente" vorbringt, dem sind die wirklichen Argumente wohl ausgegangen!!! Wenn du Goethe nicht magst, dann ist das doch dein Bier, aber deshalb so einen Blödsinn zu schreiben und das auch noch seitenweise - das ist brutal! Und die Physiognomie beherrscht du wahrlich meisterlich! Schon mal davon gehört, dass damals die Bilder nach damaligen Idealen "beschönt" wurden. Na, egal! Das war jetzt meine Meinung und ich wünsch Dir trotzdem noch einen schönen Tag. MfG, Ilma

5) E.A. (Lehrerin) schreibt: Sent: Thursday, February 21, 2002 5:38 PM Subject: Goethe
Hallo, ich habe gerade einen Eintrag im Gästebuch Deilinghofen hinterlassen, weiß aber nicht, ob er Sie erreicht, nachdem ich den Rest Ihrer Geschichte gelesen habe. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Teile Ihrer Goethe-Seite im Unterricht verwende? Ich habe die Seite sehr genossen, Sie sprechen mir aus dem Herzen, wie man so schön sagt. Viele Grüße E. A.

6) Unter dem Betreff "Unser aller Leid Goethe" schrieb kürzlich M.G.:
Sehr geehrtes Pastoerchen. Bei einer Recherche zu dem Buch "Iphigenie auf Tauris" von Goethe stieß ich mehr oder weniger zufällig auch auf ihre ich-hasse-goethe Site und ich muss sagen, dass mir deren Inhalt sehr zusagt!
Als ich ein paar Tage später nocheinmal darüer nachsann, viel mir ein
Text von Heinz Erhard ein, den ich ihnen nicht vorenthalten will, sofern
sie ihn nicht schon kennen.
Er steht unter der Überschrift "2 Schulaufsätze" nach 'Glocken' (also an
2. Stelle).
Goethe und die Fliege
War Goethe ein größeres Wunder als eine kleine Fliege? ...
Das ist hier die Frage!
Sieh, wie sie so an der glatten Wand entlangwandelt, als sei
das die einfachste Sache der Welt, und sieh, wie sie ihr
Gefieder glättet und sich mit dem hintersten Bein ganz vorn
am Kopf kratzt.
Und jetzt - jetzt erhebt sie sich gar in die Lüfte und flattert
durchs Zimmer. Und nun nimmt sie auf dem westöstlichen
Diwan Platz. Doch nicht lange. Schon wieder durchpflügt
sie den Raum und landet schließlich, etwas echauffiert, auf
deiner Nase.
Konnte das Goethe?
Mit katholisch ökumenischem Gruß
M.G.

7) Am 11.7.2005 „outete“ sich jemand als leidenschaftlicher Hardcore-Goethehasser [sein Name ist uns bekannt]:
Ja ich HASSE Goethe, und ich möchte auch wirklich betonen, es ist nicht etwas so, dass ich ihn nicht nur "nicht mag", sondern ich HASSE ihn von ganzem Herzen! Denn das Gesocks, welches sich in der Literatur aufhält, ist vielleicht viel folgenschwerer, als jenes, dass sich in der Politik oder in der Wirtschaft aufhält, denn die Kultur, das ist praktisch die WURZEL. Das auf Ihrer Seite gedruckte Zitat von Ludwig Börne ("Seit ich fühle, ... habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich, warum.") spricht mir aus dem ganzen Herzen! Gratulation zu Ihrer Seite, Sie sprechen mir ebenso aus dem Herzen! Ich habe vor Jahren schon bei Google nach solch einer Seite gesucht, aber leider nichts gefunden, jetzt ist es endlich soweit! Eigentlich zu schön um wahr zu sein, dass es diese Seite gibt! Ich habe ja nichts gegen Genies, und auch nichts gegen Leute, die sich für etwas Besseres halten, nur WARUM Goethe sich für etwas Besseres hält, dagegen habe ich etwas! Ich habe etwas gegen die Kriterien, die Göthe anwendet, wenn es um die Frage geht, ob jemand "gut" ist: Nämlich fast ausschließlich der Grad der Arroganz und Dekadenz, des Geldes, des sogenannten "Bildungsgrads" (möglichst extrem-snobbistische Sprache)!
Der Vorwurf eines Lesers Ihrer Seite an Sie, sie wären von Schule traumatisiert, ist lächerlich, denn
1. ist es auch völlig BEGRÜNDET, wenn man von Schule traumatisiert ist,
2. richtet sich ihre Seite ja NICHT pauschal gegen Dichter oder Schriftsteller, die in der Schule behandelt worden, sondern ausschließlich gegen Goethe. Ich für mein Teil bin auch von Schule (logischerweise, bei den Zuständen) traumatisiert, aber deswegen mag ich durchaus viele Dichter und bin Literatur-interssiert, WOHLGEMERKT AUCH Dichter, die schon vor längerer Zeit lebten, wie Gryphius, Macciavelli, Seneca. Und es ist sehr wohl völlig richtig, dies auch zu verbreiten, und im Übrigen, wer Ihnen das verbieten will, seine Meinung im einzigen (noch) (relativ) freien Medium kundzutun, der MUSS sich den Vorwurf zwangsläufig gefallen lassen, mit diktatorischen und totalitaristischen Ideologien zu sympathisieren. Ohnehin ist es doch ein Tropfen auf den heißen Stein - die verdummenden, unterwürfigen Fernsehsender und Zeitungen sind voll mit Vergötterungen von Goethe, Schiller und ihren Schergen. Aber ich hoffe diese Internetseite trifft die riesige Goethe-Lobby wie ein Messer ins Herz! [...]
Große Teile des "Leserbriefes" ausgelassen... Ein weiterer Ausschnitt dieses "Leserbriefes": "... was an ihm besonders gelobt wird, [...] ist sein ach so schlaues und (pseudo-)philosophisches Buch "Faust" (es wird nicht mehr das "Buch 'Faust'" genannt, sondern nur noch "der" Faust, weil ja sowieso klar ist, dass dann ES gemeint ist - ES, der Inbegriff der Perfektion, der Göttlichkeit und Erhabenheit, ES ist schon kein Buch mehr, dass man es "dem Buch Faust" nennen könnte, sondern es ist eine Art mystische ERSCHEINUNG ..."
Dann der Schluss:
"Umso
trauriger, wenn die wenigen guten, untotalitären Lehrer sich, offenbar manipuliert durch die berechtigte Identifikation mit ihrem Kollegium, dieser unberechtigten Goethe-Begeisterung anschließen."

8) Ein Anonymus, der nur (ohne E-Mail-Adresse und weiteres) "Hans" schrieb, am Abend des 13.11.2006: Oh mein lieber Gott....wie kann man sich nur den Frevel erlauben und gleichzeitig Schalke-Fan und Goethefeind sein?!
Wohl ein bissl geschmacksverwirrt wa??
Sie haben wohl keine Eier in der Hose?
Wer sogar eine Anti-GoetheSeite ins Internet stellt hat entweder keine Freunde, ist schwul (wegen Schalke 04) oder beides....
ich lache Sie somit aus! haha haha!
Gute Nacht 

9)Eine besonders intelligente Entgegnung auf den Goethehass kam am 14.3.2009 aus Köln: Sehr geehrter Herr Dr. Groth, da suche ich nun Informationen über Friedrich Haarmann, und komme so nebenbei auf Ihre Goethe-Hasser-Seite, die mich gerade eine Stunde sehr erfolgreich vom Studieren abgehalten hat. ;-)
Ich lasse da mal Goethe selbst antworten:
"Ach ihr vernünftigen Leute!" rief ich lächelnd aus. "Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreiten mußte. Aber auch im gemeinen Leben ist's unerträglich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten Tat nachrufen zu hören: ' der Mensch ist trunken, der ist närrisch!' Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen!" (Die Leiden des jungen Werther, am 12. August)
Mit freundlichen Grüßen aus Köln,
M.Sch.

10) Do., 26. Mai 2011 18:27
goethes wirken wird nun auch von ihnen weiter und weiter getragen
danke Ihr L.
http://www.goethe-mythos.de/main/


11) Mi., 27. Juni 2012 21:31 - BK aus Berlin schrieb:
Ich muss sagen, von Ihrer Goethe "eher negativ gesinnnten" seite bin ich begeistert! Endlich finde ich neben all dem gejauchze auch mal eine negative  (von mir absolut geteilte) Meinunung! Recht herzlichen Dank aus Berlin :)

12) Pastoerchens "Ich-hasse-Goethe-Homepage" kam in Köln 2014 sogar schon mal beim Jubelfest der dortigen Goethe-Gesellschaft vor, wie man hier sieht:
https://web.archive.org/web/20181130235106/http://www.goethegesellschaft-koeln.de/images/20141113.pdf
Neu zurückgeholt!

13) Gesendet: Mittwoch, 13. Mai 2020 18:26
An: Friedhelm Groth <pastoerchen@gmx.de>
Betreff: Mein Göten
Pfarrer Dr. WR schrieb: Lieber Bruder Groth!
Ihr ausgeprägtes Maß an Goethe-Abneigung teile ich nicht. In der Oberstufe hatten wir einen sehr guten Deutschlehrer, der mir damals Goethe nahe gebracht hat. Natürlich habe ich angesichts seines Riesenopus nur vergleichsweise wenig von ihm gelesen, aber damit kann ich inhaltlich durchaus etwas anfangen. Soviel zu seinem Werk.
Und nun zu seiner Person. Oft entscheiden ja kleine Begebenheiten oder Erlebnisse, ob einem jemand sympathisch ist oder nicht. Das war auch bei Goethe und mir (schöne Formulierung...) der Fall, und das kam so. In meiner Vikarszeit in Rom hatte ich 1973 auf dem
Cimitero acattolico  ein Gemeindeglied zu beerdigen. Meiner Ansprache lag, was ich wegen des bald Folgenden nicht vergessen habe, der Taufspruch des Verstorbenen aus Jesaja 43,1b zugrunde; Sie können sich denken, was man dazu anlässlich einer solchen Kasualie sagt. Anschließend kam einer der Trauergäste zu mir und sagte lächelnd: Wenn das stimmt, was Sie gepredigt haben, besteht ja selbst für August von Goethe die Hoffung, dass sein Name nicht vergessen wird. Und dann führte er mich zu dessen Grab. Und was lese ich auf dem Grabstein? Natürlich wissen Sie das: eine lateinische Inschrift, die mit den Worten beginnt "Goethe filius". Da der Vater selbst diese Formulierung gewählt hat, ist es ihm allein anzulasten, dass er seinen eigenen Sohn noch im Tode so behandelt, wie er es mit dem lebenden getan hat, nämlich nicht als eigenständige Persönlichkeit, sondern als Anhängsel seiner selbst. Seither ist mir der alte Johann als Mensch höchst unsympathisch.
Ganz unabhängig davon habe ich Ihre Zusammenstellung von Invektiven gegen Goethe mit Freude gelesen. Kennen Sie eigentlich das Büchlein "Dichter beschimpfen Dichter", das Jörg Drews herausgegeben hat? (Habe ich mal verliehen, ich weiß nicht mehr an wen, und nicht zurückbekommen.) Köstlich, wie die Jungs und manchmal auch Mädels untereinander nicht grün waren.
Schließen will ich mit Ihrem Mitautor Karl Auer: Im Übrigen befinden Sie sich ja mit Ihrer (gelinde gesprochen) Goethe-Ablehnung in ehrenwerter Gesellschaft. Auch die Stockholmer Granden gehören dazu, haben sie sich doch standhaft geweigert, den Meister mit dem Literaturnobelpreis zu ehren, worüber diese bekanntlich zeitlebens recht erbost war ;-).
Einen schönen Abend noch
Ihr W.R.

Ludwig Börne übrigens (das setzt FG einfach mal dazu) hatte auch böse Reaktionen wegen seiner beißenden Goethe-Kritik zu fürchten: »Also wieder sind Sie auf Goethe aufgebracht! Wenn Sie aber alle den Zorn, den Sie auf Goethe haben, einmal öffentlich aussprechen wollten — — wie wird aber die — deutsche Welt auf Sie aufgebracht werden. Fürchten Sie das nicht? Das wird arg werden — und ob Sie auch ganz und in allem recht gegen ihn haben??« Jeanette Wohl an Börne, 14. Okt. 1831



 

Nein, Goethe mag ich nicht. Schon seine Physiognomie stößt mich ab. Da ist es beim Geheimen Rat so wie bei jenem Hofrat und Pfarrer Friedrich Bährens*), der unserm Schwerter Gymnasium den Namen gab. "Goethe-esk" auch der! Wenn immer ich das Bildnis mit seinem streng-wichtigtuerischen Bährens-Gesicht in der Schwerter Gymnasiums-Aula sah, kriegte ich das Schaudern und eine Gänsehaut. Später stellte sich raus: Bährens war so, wie er aussah (ich schrieb ein bisschen drüber, später*). Bei Goethe ist es genauso, Lavater als Physiognom lässt grüßen... Und ab mindestens 40 ist jeder für sein eigenes Gesicht verantwortlich, sagt man doch.
Beide, Hofrat Pfarrer Bährens und Geheimrat Goethe, sehen ein bisschen aus wie Tante Gertrud, und auch bei Tante Gertrud, meiner hochherrschaftlich tuenden Großtante und ihrem Gehabe, kriegte ich ähnliche Hass-Allergien.  Ich habe das bei mehreren Goethezeit-Fressen (und bei Nazi-Fressen). Das Gleiche anders rum: Warum macht mich Schiller gar nicht so an? Weil mich sein Gesicht nicht so zum Widerspruch reizt.

                                          

Vom Goethe-Hass zum "Goethe fraß": Ja, gefressen (und gesoffen) hat er, und wie! "Er frisset entsetzlich", so hat Jean Paul über Goethe geurteilt, und Gerhard Neumann, ein deutscher Philologie-Professor, hat das neulich als Überschrift eines aufschlussreichen Zeitungsartikels im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt genommen, in dem gezeigt wird, wie sich der Selbststilisierer Goethe alles einverleibte und sich den Bauch vollschlug.1)
Hier aber geht's nur darum, zu betonen, dass die Macher dieser Seite Goethe "gefressen haben", was sehr etwas andres ist als: ihn "zum Fressen gern" zu haben. Oder hängt das doch am Ende dialektisch ineinander?
Einer von uns beschreibt in dieser Dialektik auf kulinarische Weise seine Goethe-Beziehung so:
Ich liebe Preußen und Nostalgie mit den dabei-nötigen Vorbehalten. Aber ich hasse Frankfurter. Außer wenn sie Würstchen sind. Aber ist Goethe nicht auch ein Würstchen?
Wo immer er sich als ein Würstchen sehen lässt (er versuchte stets krampfhaft, es zu verbergen), ist er uns am liebsten...

                                         

Weil wir gerade beim Sich-Einverleiben sind: Goethes Gedichte kann ich mir nur schwer "rein tun"! Und da höre ich gleich als Gegenrede: "Aber seine Liebesgedichte sind schön!" Kann man ja noch mal prüfen, wenn man genauer untersucht, wie das mit Goethe und seiner Liebe zu bedichteten Frauen war...
"...erreicht den Hof mit Mühe und Not. / In seinen Armen das Kind war - tot". So etwas hörend, kriegt der Bildungsbürger immer so ein verdächtiges wissendes Betroffenheits-Glänzen in die Augen. Er hatte es ja schon am Anfang geahnt, dass das Ganze so eine dämonische Atmosphäre war, wie der Vater da geheimnisvoll und bedeutungsschwanger durch Nacht und Wind reitet, und schon beim rätselhaften Stichwort "Erlkönig" raunt unsern Bildungsbürger so ein treudeutsches tiefes Betroffenheitsgefühl an, dass es da um das Todes- und Sterbensthema geht (ein Thema, das Goethe zwar zu einem Gedicht hier wirkungsvoll "verbrät", so wie er auch immer auf seinem "Dämonischen" herumgeritten ist, das aber der Privatmann Goethe, der nie bei einer Beerdigung mitging, gefürchtet hat wie der Teufel das Weihwasser).
Und dann sind da noch neben den Liebesgedichten und den Balladen die Naturgedichte. Die kann ich mir am allerwenigsten "reintun". Mit einer Ausnahme, auf die ich hier komme. Bei vielen anderen Gedichten gibt mir Goethe Kröten zu schlucken - hier aber handelt er von der Kröte, und da kann ich sogar seine Naturschilderungen ab:
 
 

Wassermaus und Kröte.

Eine Wassermaus und Kröte
stiegen eines Abends spöte
einen steilen Berg hinan.

Sprach die Wassermaus zur Kröte:
"Warum gehst du Abends spöte
diesen steilen Berg hinan?"

 


 

"Zum Genuss der Abendröte
geh ich heut Abend spöte
diesen steilen Berg hinan."

Dies ist ein Gedicht von Göthe,
das er eines Abends spöte -
auf dem Sopha noch ersann..

Unbekannter Verfasser

 

Leider also ist dieses Gedicht dann doch nicht "ein Gedicht von Göthe". Übrigens: Wenn man bei Goethe gleich an dieses Gedicht denkt, ist das „Sekundaner-Klassikertum", d. h.: wohl eine ein bisschen pubertäre Form, Hochgeistiges auf die Schippe zu nehmen. Aber dazu bekennen wir uns gern; ohne das gäb's diese Seite nicht. Den Begriff „Sekundaner-Klassikertum" schreibt kein Geringerer als Wilhelm Raabe  im Zusammenhang mit eben dieser Wassermaus und dieser Kröte, worauf hier hinzuweisen ist2), damit diese Goethehass-Seite auch was Lehrreiches kulturell Wertvolles :-) verbreitet. Um noch einen draufzusetzen: Es war Gottlieb Amsel, unzweifelhaft auch ein humorvoller Goethe-Hasser, der das Büchlein "Goethes schlechteste Gedichte" herausbrachte, und in diesem Gedichtband steht das Original ziemlich vornean3), von dem die Wassermaus und die Kröte nur eine Kopie ist.
Und nicht unbedingt ein Goethe-Hasser muss man sein, um manchmal Goethes Verse haarsträubend zu finden. Ein Beispiel können wir uns nicht verkneifen aus einem Brief von J. H. Voß am 13. 6. 1794 an seine Frau: "...habe ich angefangen [sc. Reineke Fuchs] zu lesen; aber ich kann nicht durchkommen. Goethe bat mich, ihm die schlechten Hexameter anzumerken; ich muss sie ihm alle nennen, wenn ich aufrichtig sein will. Ein sonderbarer Einfall, den Reineke in Hexameter zu setzen".

                                         

Was man noch von Goethe wissen muss, um in seine Gedankenwelt hineinzukommen: Er steigert nicht nur Adjektive. Er kann sogar das schöne Substantiv „Gott“ steigern, der Komparativ von Gott heißt bei ihm bekanntlich „Götter" und der Superlativ ist für ihn „Goethe“. Dieses führt er vor in seinem recht frühen Gedicht des „Sturms und Drangs“ unter dem Titel: "Prometheus!"


Bedecke deinen Himmel, Zeus, / mit Wolkendunst! / Und übe, dem Knaben gleich, / der Disteln köpft, / an Eichen dich und Bergeshöhn! / Musst mir meine Erde / doch lassen stehn, / und meine Hütte, / die du nicht gebaut, / und meinen Herd, / um dessen Glut / du mich beneidest. / Ich kenne nichts Ärmer's / unter der Sonn' als euch Götter. / Ihr nähret kümmerlich / von Opfersteuern / und Gebetshauch / eure Majestät / und darbet, wären / nicht Kinder und Bettler / hoffnungsvolle Toren. / Da ich ein Kind war, / nicht wusste, wo aus, wo ein, / kehrte mein verirrtes Aug' / zur Sonne, als wenn drüber wär' / ein Ohr, / zu hören meine Klage, / ein Herz wie meins, / sich des Bedrängten zu Erbarmen. / Wer half mir wider / der Titanen Übermut? / Wer rettete vom Tode mich, / von Sklaverei? / Hast du's nicht alles selbst vollendet, / heilig glühend Herz? / Und glühest, jung und gut, / betrogen, Rettungsdank / dem Schlafenden dadroben? / Ich dich ehren? Wofür? / Hast du die Schmerzen gelindert / je des Beladenen? / Hast du die Tränen gestillet / je des Geängstigten? / Hat nicht mich zum Manne geschmiedet / die allmächtige Zeit / und das ewige Schicksal, / meine Herrn und deine? / Wähntest du etwa, / ich sollte das Leben hassen, / in Wüsten fliehn, / Weil nicht alle Knabenmorgen- / Blütenträume reiften? / Hier sitz' ich, forme Menschen / nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / zu leiden, weinen, / genießen und zu freuen sich, / und dein nicht zu achten, / so wie ich.
Johann Wolfgang von Goethe
 

Wir gucken uns von diesem Gedicht hier nur den Anfang an. Denn von der Selbstanbetung seines eigenen "heilig glühenden Herzens" und erst recht vom andere Menschen formenden Goethe-Gott nach dem Bild, das ihm gleich sei, will ich gar nichts schreiben.  Ich kenne welche vom Geschlecht der nach diesem seinem Bild Geformten und Gebildeten - und mir graust, an die zu denken!
Also hier nur zum Prometheus-Anfang: Wetten, dass Goethe, das behütete Jüngelchen, kaum je Disteln geköpft hat!? Er war nie "dem Knaben gleich, der Disteln köpft". Eher war er "Muttersöhnchen gleich", ein schreckliches Kind, ein schrecklicher pubertierender Jüngling, von Anfang an reichlich mit frühkindlich erworbenen Phobien und andern Psychoschrammen ausgestattet, verwöhnt und zu gut behütet von der Mutter, die ihn "ihren Hätschelhans" nannte und ihm jeden Morgen viele Alternativen von anzuziehender Kinderkleidung hinlegte, weil sich der arme kleine Prinz immer nicht entscheiden konnte...
Übrigens: "Hütte" und "Herd" hatte er auch nicht "gebaut"! Er lebte fast durchgängig als Schnorrer auf andrer Leute Kosten und auf viel zu großem Fuß; schon als Studiosus lebte er vom Geld der Alten in Frankfurt, und zwar hochherrschaftlich vom Feinsten: "für sein Studium vier Jahre lang die Hälfte des familiären Familienbudgets verbraucht"4)! Und macht jetzt stürmisch-drängerisch einen auf "Prome-theus" in seinem ersten großartigen Gedicht, wie die Leute sagen. Einen auf Prometheus machen, einen auf Werther machen, einen auf Faust machen - wohl durchgängig das gleiche auf bedeutungsschwangeren Tiefsinn und auf Wirkung ausgerichtetes Gehabe im Zusammenhang der Goetheschen Selbstinszenierung. Ich kriege hier schon das Kotzen: "Ich kenne nichts Ärmer's unter der Sonn' als euch, Goethe".

 

                                         

Wir waren eben beim kleinen Wölfi in Frankfurt, dort am Großen Hirschgraben. Ein gehandicaptes Kind und (daraus resultierend) ein Stinkstiefel muss der schon als Baby und Kleinkind gewesen sein. Es spricht Bände, was Bettina von Arnim (Bettina Brentano) von Goethes Mutter erfahren hat. Sie schreibt an Goethe am 12. 11. 1810 :


"Von seiner Kindheit. Wie er schon mit neun Wochen ängstliche Träume gehabt, wie er allerlei sonderbare Gesichter geschnitten und, wenn er aufgewacht, in ein sehr betrübtes Weinen verfallen, oft auch sehr heftig geschrieen hat, so dass ihm der Atem entging und die Eltern für sein Leben besorgt waren; sie schafften eine Schelle an: wenn sie merkten, dass er im Schlaf unruhig ward, schellten und rasselten sie heftig durcheinander, damit er bei dem Aufwachen gleich den Traum vergessen möge. Als ihn einst die Tante auf dem Arm hatte, fiel er plötzlich auf ihr Gesicht mit dem seinigen, und geriet dadurch so außer sich, dass ihm der Vater stets Luft einblasen musste, damit er nur nicht ersticke. . .
Er war so schön, dass ihn seine Wärterin nicht wohl durch eine volkreiche Straße tragen konnte, weil alle Menschen sich herandrängten, ihn zu sehen; auch begehrten Frauen, die gesegnetes Leibes waren, ihn zu sehen; jedoch ist in seiner Vaterstadt keine Spur von Ähnlichkeit mit ihm zu bemerken."
 

Letzteres stimmt nicht - seine potthässliche Schwester Cornelia (Wölfi hat sie gezeichnet!) sah ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Aber die Hässlichkeit der heißgeliebten frigiden Schwester, mit deren Aussehen er kaum fertig wurde, erzeugte in ihm eine sonderbare frühkindliche Schizophrenie: Alles Häßliche wird gehasst wie die Pest, außer natürlich bei Cornelia. Die genannte Gewährsfrau berichtet (Bettine Brentano an Goethe am 12. 11. 1810  über das Jahr 1749):


"Er spielte nicht gern mit kleinen Kindern, sie mussten denn sehr schön sein. In einer Gesellschaft fing er plötzlich an zu weinen; da man ihn nach der Ursache fragte, schrie er: das schwarze Kind kann ich nicht leiden, das soll hinaus; er hörte auch nicht auf, bis er nach Hause kam, wo ihn die Mutter befragte über die Unart: er konnte sich nicht trösten über des Kindes Hässlichkeit. Damals war er drei Jahr alt. . .
Zu der kleinen Schwester Cornelie hatte er, da sie noch in der Wiege lag, schon die zärtlichste Zuneigung; er steckte heimlich Brot in die Tasche, und stopfte es dem Kind in den Mund, wenn es schrie. Wollte man es wieder nehmen, so ward er gewaltig zornig, kletterte an den Leuten hinauf und raufte ihnen die Haare aus; er war überhaupt viel mehr zum Zürnen wie zum Weinen zu bringen. - Die Küche im Haus ging auf die Straße; an einem Sonntag-Morgen, da alles in der Kirche war, geriet der kleine Wolfgang hinein, erwischte ein Geschirr und warf's zum Fenster hinaus; das Rappeln freute ihn gar sehr, die Nachbarn hatten auch ihre Freude dran: nun warf er in größter Eil alles, was er langen konnte, hinaus; wie er bald fertig war, kam die Mutter dazu, und lachte mit".
 

Wenn wir gerade bei Goethes Kleinkinderzeit sind: Goethehasser Tilman Jens hat da Beträchtliches und Erhellendes zuzusteuern.
Jens schreibt in "Goethe und seine Opfer" (Eine Schmähschrift, Patmos Düsseldorf, 5. Auflage, 2009), auf S.8 bis 10 zu Goethes "Dichtung und Wahrheit":


"Weimar, das Zentrum seines Lebens für mehr als ein halbes Jahrhundert, ist in der Autobiographie nicht mehr als ein großer, weißer Fleck.
Ein Zufall waren die Gedächtnislücken kaum. Denn seine Exzellenz hatte - wie zu zeigen sein wird - nicht nur reichlich Würzburger Tischwein, sondern auch jede Menge Leichen im Keller. Genie ohne Tugend hat ihn Jean Paul nicht grundlos gescholten. Ein ungeschönter Rechenschaftsbericht, die selbstkritische Rückschau auf seine Vergehen an Jakob Michael Reinhold Lenz, an Hölderlin, Herder und Fichte, Cornelia, der Schwester, dem Naturforscher Oken oder dem alten Diener Seidel: es wäre einem moralischen Offenbarungseid gleichgekommen. Da blieb Dichtung und Wahrheit besser Fragment.
Und doch findet sich, versteckt in der Mitte des zweiten Buchs der rudimentären Lebensgeschichte, eine kleine Szene, von den Exegeten des Großdichters meist geflissentlich übergangen, in der Goethe Klartext in eigener Sache spricht und dabei ein schonungsloses Selbst-Psychogramm entwirft. Die Begebenheit, von der berichtet wird, scheint auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als episches Beiwerk. Eine Episode aus der ABC-Schützen-Zeit. Frühjahr 1756. Johann Wolfgang besucht Schellhafers Elementarschule zu Frankfurt am Main.
Im Gedächtnis blieben vor allem die nicht ganz freiwilligen Übungen des Stoizismus. Mit Schlägen und Püffen hätten die Lehrer ihre Zöglinge traktiert, Widersetzlichkeit oder Gegenwehr war aufs höchste verpönt. Duldsamkeit galt als Lehre fürs Leben. Noch auf dem Schulhof habe man sich bis zur Betäubung auf die Glieder geschlagen, Kitzeln, Kneifen und Zwicken als etwas Gleichgültiges ertragen, den Leidenstrotz gleichsam zur Profession gemacht.
Doch dann kam der Tag, an dem der Lehrer nicht zum Unterricht erschien. Freude unter den Kindern, fast alle stürmen aus dem Klassenzimmer. Goethe aber bleibt mit drei anderen zurück. Die machen sich am Kehrbesen zu schaffen, basteln sich Ruten, beginnen den kleinen Wolfgang mit Hieben zu quälen. Auf das grausamste peitschen sie seine Beine und Waden. Und er beschließt, den Helden zu spielen, wenngleich in einem exakt abgesteckten Rahmen. Bis zum nahe geglaubten Läuten der Schulglocke werde er alle Pein ohne Gegenwehr über sich ergehen lassen. Schon als kleiner Junge erlaubt er sich keine
Spontaneität, unterwirft seine Gefühle einem grotesk anmutenden Ordnungssystem. Ich rührte mich nicht, fühlte aber bald, dass ich mich verrechnet hatte, und dass ein solcher Schmerz die Minuten sehr verlängert. Doch er hält durch. Seine Wut freilich wird größer und größer. Er hat nur noch Rache im Sinn und in den Gliedern.
Mit dem ersten Schlag der Schulglocke haut er zurück, teilt aus, weit mehr, als er einstecken mußte. An jede Attacke weiß er sich haarklein zu erinnern: den ersten zu Boden gezwungen, indem ich mit den Knien seinen Rücken drückte. Den zweiten, jünger und schwächer, zog ich bei dem Kopfe durch den Arm und erdrosselte ihn fast. Den dritten durch einen geschickten Griff am Kleide niedergestreckt, mit dem Gesicht gegen den Boden gestoßen. Drei auf einen Streich, er scheint den martialischen Triumph, auch fünfzig Jahre danach, in vollen Zügen zu genießen.
Der Autor läßt keinen Zweifel: Das ist keine Anekdote. Das ist ein Gleichnis. Ich erklärte, läßt der 61jährige den 6jährigen sagen, daß ich künftig bei der geringsten Beleidigung einem oder dein anderen die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdrosseln würde.
Daran hat er sich gehalten, als Schulanfänger einen Weg skizziert, dem er fortan unbeirrbar folgte. Frühvollendeter Goethe! Doch weh dem, der ihm in die Quere kam, seinen Lebensentwurf, seine Karriere, seine Ordnungsprinzipien durchkreuzte.

 

 

                                         


Nun muss man freilich fair bleiben! Bei vielem, was hier - immer mit dem nötigen Augenzwinkern geschrieben ;-) - Goethe-Hass heißt, geht es ja gar nicht  um Goethes recht problematische Person! Oft geht es bei Goethe-Hass auch um seine Wirkungen, um seine Wirkungsgeschichte. Und um die, die als seine Jünger sich ausgeben und seine Gedanken andern mitgaben. Wir hatten oft, wenn wir uns an Goethes arroganter Hochnäsigkeit und seinem allzu oft menschenverachtenden Wesen ärgerten, die albernen Attitüden der Deutschlehrer-Kaste vor Augen, die uns in den 50er Jahren mit Goethe "das Höhere" und "das Humane" beibringen wollte und uns ziemlich genau durch die eigene Art widerspiegelte, dass man mit Goethe weder "edel" noch "hilfreich" noch "gut" wird; er selbst war ja auch nichts von dem... Da liegen Goethe-Hass und Schul-Hass, Goethe-Traumata und Schul-Traumata natürlich dicht ineinander. So schreibt der sehr intelligente Goethe-Hasser Will Jaspers ganz am Anfang seines Werks über Goethes Faust und die nachdenkenswerte Wirkungsgeschichte des faustischen Wesens in Deutschland:  "Die 12000 Verse von Goethes Faust belasten seit über 150 Jahren als gymnasiales Zitatentrauma und moralisches Lehrstück die deutsche Bildungs- und Ideologiegeschichte."5)

Aber bloß Schultraumata sind das ja nicht. Eben auch Grund- und Abgrundfragen deutscher Bildungs- und Ideologiegeschichte, mit Jasper gesagt.  Jasper lässt seinen philosophischen Fast-Namensvetter zu Wort kommen mit der Frage, die über weite Strecken sein eigenes Buch als roter Faden durchzieht: "Der Philosoph Karl Jaspers hatte schon 1947 die Frage gestellt, ob die im Geiste Goethes geprägte Bildung nicht mitverantwortlich für das 'deutsche Verhängnis' gewesen sei"6).
Wir belassen es  - mit Verweis auf das Buch von Jasper - bei diesen allzu knappen Andeutungen dazu, dass das "Faustische" für die Deutschen und Goethes Wirkungsgeschichte im Grossen mindestens ebenso problematisch wurden wie seine Person es war. Nach Jasper besitzt der von Goethe in Gang gesetzte "Faust-Mythos ... - so scheint es - eine besondere Affinität zur totalitären Instrumentalisierung"7), was braunen, nationalistischen und roten Ideologien zupass kam, und auf durchaus ähnliche Weise barg für seine Zeitgenossen und die Nachwelt die narkotisierende Gestalt Johann Wolfgang Goethes, dieses Denkmal auf dem Sockel, ein ziemliches Verführungspotential in sich.
Dabei hat Goethe von vornherein wie kein anderer zuvor an dem Bild gebastelt, das die Nachwelt von ihm haben sollte. Für Jasper war Goethes "einschüchternde Gottähnlichkeit ... zum großen Teil perfekte Eigenstilisierung"; dabei "konnte Goethe bereits zu seinen Lebzeiten an seinem Denkmal arbeiten", wofür Jasper ein signifikantes Beispiel bringt: "Im Parkett des Weimarer Theaters habe Goethe sich einen thronähnlichen Sessel errichten lassen, von dem aus er den Applaus der Zuschauer durch Handzeichen zu kommandieren pflegte. Und man ließ sich kommandieren". Und auch das ist O-Ton Jasper: "Das Goethe-Bild der Deutschen spiegelt in vielen Aspekten das Goethe-Bild Goethes."8)

                                         

Aber lasst uns nach so viel problematischem Goethe-Erbe noch ein bisschen im harmloseren Goethe-Hass auf denen ein wenig herumhacken, die Goethe so gerne im Munde führen und aus ihm und seinen Worten heilende und tröstende Kräfte schöpfen. Da könnte man von Goethe und den üblichen Festtagsreden was schreiben, die ja bis heute geadelt sind, wenn sie "von Goethe" was enthalten.
Mit Goethe als Gewährsmann aber hilft man sich noch in anderer Weise an Festtagen, nämlich bei den großen christlichen Festen. Wo man mit ihnen nichts mehr anfängt, hilft Goethe aus. Kennen Sie die Typen auch, die immer am Ostermorgen ihren Faust-Tiefsinn loslassen, dass sie da nicht umhinkönnen, zu zitieren: "Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick". Und ein anderer antwortet dann jedesmal, sich seiner Bildung vergewissernd: "Osterspaziergang". Und wenn sich dieser Dialog entfaltet hat, dann schöpft man immer ganz viel österliche Hoffnung aus dem Faust... Meint man.
Und dann kommt Pfingsten. Da ist es ja noch schwieriger als zu Ostern. Außer für den Goethe-Jünger, der sagt dann ganz positiv: "Pfingsten, das liebliche Fest...". Dann ist alles wieder gut, Goethe sei Dank.
Nur am Karfreitag kann der Hardcore-Goetheaner kein gutes Haar dran lassen, und wer als ein solcher goethe-fest ist, zitiert dann, was der Meister mal bekannte: "Vier Dinge sind mir wie Gift und Schlange zuwider, Tabakrauch, Wanzen, Knoblauch und das Kreuz."
Was ihm da stinkt, stinkt mir an ihm. Und wie. Da ist sogar des Pudels Kern.
Nun gibt es auch Gläubige, die ohne Kreuz sich erheben lassen wollen. Ohne Kreuz und mit Goethe, dem Seelentrost. Das unterschätze man nur nicht!
Ich lese bei Jasper, wie man an Knotenpunkten deutscher Geschichte Krisen mit Goethe bewältigte: "In den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs gehörte der 'Tornisterfaust' (eine Miniaurausgabe im Schuber) zur Sturmausrüstung der deutschen Soldaten, und im zweiten Weltkrieg dienten 'Faust'-Zitate nicht nur als Durchhalteparolen in den Trümmern von Stalingrad, sondern wurden von Fronttheatergruppen auf U-Booten vorgetragen."9)
Überhaupt Goethe als Placebo, ein interessantes Thema! Eine mir sehr vertraute Frau arbeitete im heilpädagogischen Kindergarten in Bochum - einem von Steiner geprägten Kindergarten nach Waldorf-Art - mit mongoloiden Kindern. Und die machten da Goethe-Weihestunden, wie sie ja in der anthroposophischen Tradition auch sonst anzutreffen sind (das Goetheanum in Dornach in der Schweiz hat ja sich dem Inszenieren von Goethe-Sachen als religiöse Weihestunden verschrieben und meint dem wahren Goethe da am nächsten zu kommen). Und unsere kleinen Mongölchen da, die mussten Goethe deklamieren. Ich alter Goethe-Hasser, schon damals, 1968, vergess es nie: "Im Stein ist Feuer verborgen", so sagten sie es auf. Und sie vollendeten ihr Gedicht mit dem Schlusssatz: "Wenn Steine in Feuer sich wandeln, / Wie könnte die Seele sich sorgen?" Ja, it worked! Alle Sorgen weg. Gott sei Dank, Goethe sei Dank!
Übrigens gibt es ausser Steiner andere "am Höheren" ausgerichtete und mit dem Okkulten flirtende Obskuranten und gnostische Kreuzesverächter, die so richtig Leute nach dem Herzen Goethes wären. Zwei, die auch mit Nachdruck glauben, dass "im Stein Feuer verborgen ist" und die esoterisch heute im Trend liegen, weil bei ihnen Makrokosmus und Mikrokosmos sich aufs Harmonischste entsprechen und die sogar der naiv-abstrusen Farbenlehre Goethes Tiefsinn abgewinnen würden, sind hier zu nennen: Emanuel Swedenborg und C.G. Jung, als angeblich erschauende und Grenzen überschreitende Mystiker "Comedian Harmonists" wie Goethe. Aber ich sollte nicht so sehr spotten; auf dem Trip sind doch alle drauf - von Drewermann bis Zink neuerdings. Das Christentum des positiven Denkens und der heilenden Kräfte - in neuen Zeitalter (engl. new age) am Kreuz vorbei. Goethe, der alte Heide, hätte seine Freude.

                                         

Nun haben wir im vorigen Abschnitt doch noch was von Goethe ausgelöstes Humanes gebracht. Aber man sollte ihn da wirklich nicht überinterpretieren. "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut", das ist wirklich nur ein Spruch! Dass Goethe weder edel noch hilfreich noch gut war, hat in letzter Zeit keiner so einseitig betont wie der eingefleischte Goethe-Hasser Tilman Jens in seinem Buch: "Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift", Patmos, Düsseldorf 1999. Wie Goethe in Weimar mit seinen Bediensteten und mit seinen Kollegen umging (und wo Autor Jens das möglicherweise etwas überpoiniert darstellte), das kann man schön den beiden Feuilleton-Artikel der Berliner Morgenpost vom 1. August 1999 und vom 16. Mai 1999 entnehmen;  Jost Nolte schreibt da:


"Seltsame Glückseligkeit
Das Verhältnis des Dichters zu seinen Dienern - Goethe im Wortlaut, zitiert von Jost Nolte
Dreimal bemühte der Geheimrat wegen Ärgers mit dem Personal die Polizei. Im ersten Fall ersuchte er darum, eine «Verwegenheit» der Köchin Charlotte Hoyer zu ahnden, die - so schrieb der Dienstherr - durch eine Ungleichheit ihres Betragens sich ihm ganz unerträglich gemacht, die er deswegen entlassen und die daraufhin das ihr ausgestellte Zeugnis zerrissen und die Fetzen auf die Treppe geworfen habe.
Der zweite Fall betraf den Diener Johann Gensler, der sich auf der Rückreise von der Karlsbader Kur im Sommer 1806 «auf dem Bock» mit dem Kutscher zu prügeln begann und «ungeachtet aller Verweise und Bedrohungen sein gewöhnliches Betragen auf eine dem Wahnsinn sich nähernde Weise fortsetzte», woraufhin Goethe den Erfolg seiner Kur gefährdet sah und den Burschen bei der Ankunft in Jena «in militärische Haft» bringen ließ.
Den dritten Fall, verglichen mit den beiden anderen eine Farce, hat Gottlieb Friedrich Krause berichtet, der ebenfalls in Goethes Diensten stand und gelegentlich Geschichten unters Volk streute, wie sie andere lieber für sich behielten - etwa die Indiskretion über eine Ohnmacht, in die Goethe nach einer Begegnung mit einem Kutscher gefallen sei, der aus der Kneipe kam und Tabakgeruch verströmte. Krause fügte hinzu: «So weis ich auch als der Kutscher im Hofe rauchte und Göthe aus seinem Fenster sah, er ihn auf der Stelle durch seinen Sohn die Hauptwache setzen ließ.»
Neben diesen Zerwürfnissen mit kriminellem Einschlag finden sich in der Geschichte der Bediensteten am Weimarer Frauenplan zwei veritable Tragödien. Die erste endete im Irrenhaus, die zweite - nach Goethes Tod, aber das Elend war lange vorher zu sehen - in einer Armen- und Arbeitsanstalt und schließlich am Strick.
Die Opfer, Philipp Friedrich Seidel und Carl Wilhelm Stadelmann, hatten sich bei dürftiger Bezahlung für ihren Herrn aufgeopfert, und sie hatten dafür Talente mitgebracht oder Fähigkeiten erworben, die weit über das hinausreichten, was von «klassischen Kammerdienern» zu erwarten war.
An Seidels Untergang war Goethe unschuldig. Stadelmann hatte sich den kühlen Abschied weitgehend selber zuzuschreiben. Er war dem «Saufteufel» verfallen und verschlampte Rechnungen. Dass Goethe sich nicht um die beiden ehemaligen Vertrauten kümmerte, als sie ins Unglück gerieten, ist dennoch unverzeihlich, es wäre denn, wir ließen gelten, dass dem Genie Rücksichtslosigkeit zustand, weil es sein Werk nur schaffen konnte, wenn ihm andere die Schwierigkeiten des Lebens aus dem Wege räumten. Die ältere Goethe-Forschung wollte darauf tatsächlich pochen, und Walter Schleif, der 1965 in der DDR mit der bis heute gründlichsten Untersuchung über «Goethes Diener» antrat, machte da keine Ausnahme. Nachdem er alle Gründe zusammengetragen hatte, die Goethe entlasteten, resümierte er die Schicksale von Goethes Dienern: «Sie alle waren mehr oder minder im ,edelsten Sinne´ Goethes Geschöpfe.» Alle hätten «jeder nach seinen Möglichkeiten, Züge des äußeren Gehabens ihres Herrn angenommen, sich seine Handschrift angewöhnt und aus seinen Wissensgebieten ihre Steckenpferde gewählt.» - Was wir als ihre Chance verstehen sollen, die Niederungen hinter sich zu lassen, in welchen der Rest der Menschheit verharrte.
Jetzt hat der Goethe-Kritiker Tilman Jens aufgelistet, was aus strengerer Sicht Goethe anzulasten ist. Bei nahezu gleicher Beweislage kommt er zu dem Ergebnis, dass Ursache und Schuld für alles, was am Frauenplan im Mitmenschlichen nicht ganz glatt oder tatsächlich schief lief, beim Stärkeren zu suchen sind - bei Goethe. Wenn der Hausherr, so die Annahme, die Polizei gegen sein Gesinde zur Hilfe rief, konnte es sich nur um Niedertracht handeln. Wenn ein Diener-Leben düster endete, lagen die Wurzel im Verhalten des Herrn. Was immer nach Unglück und Ungerechtigkeit schmeckt, kommt zuerst und zuletzt auf Goethes Haupt. Doch das barsche Urteil schlägt erstens die historischen Umstände in den Wind und vergisst zweitens die seltsame Glückseligkeit, welche die Diener offensichtlich im Dienste des großen Mannes gefunden haben.
Was die Herrschaften und ihr Gesinde angeht, sind die Umstände in Goethes Tagen tatsächlich verzwickt. Die alten Herrenrechte gelten nicht mehr, und damit ist auch die Fürsorge der Herren für die Knechte dahin. Andererseits stehen moderne Regeln für Arbeitsverhältnisse noch aus, und weil es noch kein Arbeitsamt und keine Arbeitsgerichte gibt, ist die Polizei zuständig. So klagen dann auch bald Marx und Engels: «Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat . . . kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose, bare Zahlung.»
Bare Zahlung? Eben dies gilt für Goethe und seine Diener nicht. Der unselige Stadelmann fühlt sich selig, als ihn 1844, zwölf Jahre nach Goethes Tod, die Frankfurter an den Main einladen und neu einkleiden, damit er «als letzte große lebendige Reliquie des Dichter-Heros» der Einweihung ihres Goethe-Denkmals Glanz verleiht. Für diesen Dienst versprechen sie ihm sogar eine bescheidene Rente, das Haus Rothschild garantiert sie. Stadelmann aber erträgt soviel Zuwendung nicht mehr. Er fährt zurück in sein Armenhaus und macht seinem Dasein auf dem Dachboden ein Ende. Oder man lese nach, wie Johann Peter Eckermann, unter dem Datum vom 13.November 1823 seine Begegnung bejahrten Christoph Sutor beschreibt. Eckermann verkörpert zusammen mit Friedrich Wilhelm Riemer gewissermaßen die Elite der Diener Goethes.
Sutor, des Meisters Kammerdiener von 1776 bis 1795, ist bei aller Lebenstüchtigkeit vergleichsweise schlichten Gemüts. Was er erzählt, ist dies: Goethe habe ihn eines Nachts gerufen und gesagt, dass er von seinem Bett aus ein Zeichen am Himmel gesehen habe, woraus er schließe, es gebe in diesem Augenblick irgendwo ein Erdbeben. Sonst, so Sutor, habe die Erscheinung niemand entdeckt. Doch jedermann, auch der Herzog, habe Goethe sofort geglaubt, und bald habe man erfahren, dass «in derselbigen Nacht» Messina in Schutt und Asche gefallen sei.
Eine hübsche Geschichte. Sie gibt eine Vorstellung vom innigen Glauben an Goethe, den Eckermann und Sutor teilen. Leider ist irgendwann trotzdem jemand darauf verfallen, die Daten zu überprüfen, und leider stimmten sie nicht überein.
Wahre Goethe-Anhänger stört dies bis heute nicht, und notfalls haben sie für Goethes glückliches Verhältnis mit seinem Gesinde andere Belege parat, zum Beispiel das Zeugnis, das er Ernst Carl Christian John, einem eher zweifelhaften Charakter von einem Diener ausstellte, der es später bis zum Hofrat sowie Oberzensor in Preußen brachte.

Empfehlenswerte Literatur: Tilman Jens: «Goethe und seine Opfer», Patmos, Düsseldorf 1999. 152 S., 29,80 DM." 

"Splitter im Fleisch
Von Gemeinheiten gegen Kollegen und andere / Goethe im Wortlaut, zitiert von Jost Nolte
Genies und Möchtegern-Größen des Geisteslebens finden sich Anfang der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts unter Anleitung Johann Gottfried Herders zu jener Revolte zusammen, die als «Sturm und Drang» in die Geschichte der Literatur eingeht. Die neue Bruderschaft huldigt Shakespeare oder auch dem blinden gälischen Dichter Ossian, den der Schotte James Macpherson der literarischen Welt untergeschoben hat. Zu denen, die neue Maßstäbe setzen wollen, gehören Friedrich Maximilian Klinger, Jakob Michael Reinhold Lenz und Johann Wolfgang Goethe.
1775 zieht Goethe nach Weimar und tritt seine Karriere als Staatsmann an. Lenz und Klinger ist das Schicksal weniger günstig gesonnen. Genauer gesagt, es geht ihnen dreckig. Dass ihnen einfällt, unter die Fittiche des erfolgreichen Freundes zu schlüpfen, ist nicht verwunderlich. Tatsächlich verschafft Goethe ihnen Zutritt zur Stadt und bei Hofe.
Doch sie scheitern am Geist des Ortes. Zum Leben in der Residenz, vor allem zur Rücksicht auf Etikette, sind sie offenbar nicht geschaffen. Zuerst bekommt Klinger zu spüren, woher der Wind weht. Er erweise sich, so Goethes Verdikt, als «Splitter im Fleisch», und ihm bleibt nichts übrig, als das Weite zu suchen. Zum Verhängnis wird es ihm nicht. In Sankt Petersburg bringt er es zum Generalleutnant und Chef des Kadettenkorps.
Lenz, dem Verfasser der bitteren Komödie «Der Hofmeister», ist ein gnädigeres Urteil vergönnt. Er sei, schreibt Goethe, «unter uns wie ein krankes Kind, wir wiegen und tänzeln ihn, und geben und lassen ihm von Spielzeug, was er will». Doch kranke Kinder können lästig werden, und Lenz ist eben doch keins, sondern ein abgerissener Exzentriker von immerhin 26 Jahren, also nur zwei Jahre jünger als Goethe. Unverschämt, wie er ist, hat er versucht, sich an die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion heranzumachen, nachdem Goethe sie verlassen hatte. Nun begeht er eine weitere «Eseley», über die Näheres nicht überliefert ist, und die schützende Hand zuckt zurück. Ende November ist es so weit. Goethe schreibt: «Lenz wird reisen.» Lenz reist und verkommt, bis er 1792 elend in Moskau stirbt.
Goethes Rechtfertigung nach dem Abschied fällt seltsam verwaschen aus: « . . . ich habe mich gewöhnt bey meinen Handlungen meinem Herzen zu folgen und weder an Misbilligungen noch an die Folgen zu dencken. Meine Existenz ist mir so lieb wie jedem andern, ich werde aber just am wenigsten in Rücksicht auf sie etwas an meinem Betragen ändern.»

Prosa im Leben eines großen Mannes. Sie gehört ins Sündenregister, das in diesem Goethe-Jahr den kollektiven Kniefall vor dem Dichter ersetzt. Die Vorwürfe haben es in sich: Dass Goethe der Französischen Revolution nichts abgewann und Partei für die Fürsten nahm, klingt selbst aus dem Mund von Achtundsechzigern allerdings reichlich verkniffen; bekanntermaßen sind sie sich der Vorzüge von Revolutionen selber nicht mehr sicher. Schwerer wiegt die Nachrede, dass Goethe als Kriegsminister des Herzogs von Sachsen-Weimar den missglückten Feldzug unter Führung Preußens und Österreichs gegen die umstürzlerischen Franzosen schöngefärbt habe. Dass sich der Verfasser der Gretchen-Tragödie im Fall der ledigen Magd und Kindsmörderin Anna Katharina Höhn für die Todesstrafe aussprach, gilt vollends als unverzeihlich. Hinzu kommt eben, dass Goethe Kollegen reihenweise die kalte Schulter zeigte, den ehemaligen Freunden Klinger und Lenz zuvörderst, aber auch den Zugereisten Hölderlin, Kleist und Heine. Untergründig soll er dafür verantwortlich sein, dass Lenz im Moskauer Rinnstein starb, Hölderlin im Wahnsinn endete und Kleist am Wannsee Selbstmord beging. Dabei soll er Kleists Unheil auf besonders perfide Weise verursacht haben, indem er ihn nicht abwies, sondern seinen «Zerbrochenen Krug» aufführte, das aber so scheusslich und verkehrt, dass das Stück mitsamt seinem Spott zulasten der Obrigkeit auf Lebenszeit des Autors erledigt war. Dies und alles, was Johann Wolfgang von Goethe sonst noch an Missetaten in der Politik und an Gemeinheit im engeren Umkreis anzulasten sein soll, fährt nach dem Grundsatz «Im Zweifel gegen den Angeklagten» kenntnisreich und vehement der Fernseh-Literat Tilman Jens in einer Schmähschrift mit dem Titel «Goethe und seine Opfer» auf. Nichts, aber gar nichts außer dem Genie, dem wir den «Faust» und den «Wilhelm Meister» verdanken, spreche für Goethe? Wahr ist: Er hat Mitmenschen unterschätzt und wimmelte sie ab, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Er hielt große Stücke auf seine eigenen Konfessionen, und er misstraute allen, die sie nicht teilten. Das verführte ihn zur Ungerechtigkeit. Nur, die andere Seite will auch betrachtet sein.

Rekapitulieren wir den Fall Fichte, weil er wohl am leichtesten zu durchschauen ist. Den Abgang des Philosophen aus Sachsen-Weimar betrieb Goethe schließlich aus Gründen, die durchaus für seine Entscheidung sprachen: Fichte verkündete revolutionär klingende Lehren an einer Universität, die ihr Dasein vier Fürsten verdankte, also Repräsentanten jener Obrigkeit, die er anscheinend abzuschaffen gedachte.

Als die anderen Schutzherren den federführenden Herzog Carl August aufforderten, Wandel zu schaffen, war der Philosoph für kein Einlenken zu haben. Statt dessen denunzierte er den Hofprediger und Konsistorialrat Herder, er teile die inkriminierten Ansichten, und je länger die Geschichte dauerte, um so unangenehmer benahm sich Fichte. Damit beschwor er nicht nur Ärger herauf; er verstieß auch gegen die Überzeugungen, mit denen der Politiker Goethe verwachsen war.
Um Überzeugung ging es auch, als Kleist den Schauspieldirektor Goethe anflehte, die Bühne von Weimar dem Hass und dem Blutrausch Penthesileas freizugeben, gegen die Götz von Berlichingen ein Waisenknabe war. Goethe sah sich zu einem Theater gedrängt, das ihm in tiefster Seele zuwider war, und so ließ er lieber Dorfrichter Adam auftreten.
Schuldig, schuldig, schuldig - in diesen und in allen anderen Fällen? Die Zeitumstände gehören in den Blick, und es will abgewogen sein, zu wieviel Interesse an anderer Leute Schicksal Goethe wirklich verpflichtet war. Mit einer Ausnahme stellen sich dann von selber Entlastungsgründe ein. Die Ausnahme: Als Goethes Frau starb, hatte sie gewiss Anspruch auf seinen Beistand. Trotzdem ließ er sie allein. Seine Angst vor dem Anblick des Todes war mächtiger als die menschliche Pflicht.

Tilman Jens entgeht nichts, was in der Moral des Dichters nicht niet- und nagelfest zu sein scheint. Doch die Gerechtigkeit, die er Goethes Opfern verschaffen will, enthält er dem Täter Goethe strikt vor, woraus resultiert, was der Untertitel verspricht: eine Schmähschrift. Allenfalls lässt deren Verfasser den Anflug einer rechtfertigenden Erklärung gelten. Entdeckt hat er sie im zweiten Buch von «Dichtung und Wahrheit». Dort quälen Altersgenossen den sechsjährigen Schüler Johann Wolfgang Goethe, und der gibt sich das Wort, dergleichen nie wieder hinzunehmen. In Jensscher Beleuchtung freilich sieht dies aus, als leiste Penthesileas Söhnchen den Racheschwur.

Empfehlenswerte Lektüre: 

Tilman Jens: «Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift». Patmos Verlag, Düsseldorf. 180 S., 29,80 DM.

Johann Wolfgang Goethe: «Werke». Ausgewählt von Mathias Bertram. CD-Rom. Directmedia Publishing, Berlin. 49,80 DM."

 

 

                                         



Ja, in der Tat: Es würde Bücher füllen, wenn man allen berechtigten (und unberechtigten) Goethe-Hass und alle Ressentiments gegen den oft so genannten Dichterfürsten zusammenstellte. Wir aber kommen in diesem Zusammenhang zum Schluss. Wir wissen, dass wir vieles nur angetippt haben: Goethe als äußerst opportunistischer Fürstenknecht, das bleibt - über das Angedeutete hinaus - außen vor, auch Goethe und die Französische Revolution lassen wir aus. Pars pro toto stehe für dies Gebiet hier das eruptive Urteil des Goethe mit Inbrunst hassenden Zeitgenossen Ludwig Börne: "da überfiel mich wieder der alte Groll gegen diesen zahmen, geduldigen, zahnlosen Genius. Wie ein Adler erschien er mir, der sich unter der Dachtraufe eines Schneiders einnistet."10)

Kein böses Wort hier zu seiner für die deutsche Klassik elementaren Italien-Spinnerei mit dem Lob des "Landes, in welchem die Citronen blüh'n" (außer, dass das ähnlich klingt wie in WDR 4: "Wenn in Capri die rote Sonne im Meer versinkt" - was hinter Italien steckte, siehe unten).  Kein Wort hier weiter auch über Goethes angebliche latente Homosexualität und seine damit in Zusammenhang stehende Männerbündelei und Geheimbündelei, kein Wort über seine Manie, Freunde wie "heiße Kartoffeln" fallen zu lassen und sie nur wie auf dem Schachbrett als Figuren zu gebrauchen, kein Wort über die Theorie von seiner angeblich latent inzestuösen Fixierung auf Schwesterchen Cornelia, ein Verhältnis, das seine Zweitauflage im sonderbaren  Verhältnis zu Frau von Stein fand (haargenau der gleiche Frauentyp), kein weiteres Wort auch zu Goetheschem Machtmissbrauch, wo er als Herrschender ihm Nahestehende bespitzeln ließ (Schiller, Fichte, Eintritt in den Illuminatenorden, um ihn auszuspionieren) und durch grobe Nachlässigkeit, wie Sigrid Damm in ihrem Bestseller ihm nachwies11), schuldig an der - von Goetheschen Voraussetzungen her geurteilt - fragwürdigen Vollstreckung eines Todesurteils gegen eine Kindsmörderin wurde. Und dass er als alter Bock von 74 scharf wurde auf eine Minderjährige und sie, Ulrikchen, eine 17jährige, wollte, dass er nach dem sich eingeholten Korbe wieder gesundheitliche Schwierigkeiten kriegte, er, der Super-Hypochonder - was soll's?
Aber ein kleiner Absatz sei last not least doch erlaubt zu der weitverbreiteten Meinung, Goethes legendäre Liebesgeschichten (die Kriegsgeneration der Abiturienten kannte noch alle Vor- und Nachnamen der Goethe-Geliebten in Reihe aus dem ff!) seien heiß gewesen und seine Liebesgedichte seien dementsprechend sinnlich und schön und gleichermaßen von Eros und Sinnlichkeit und Erfahrung durchsättigt. Jedenfalls hatte er von der leibhaftigen Sinnlichkeit des Essens (siehe oben) mehr verstanden als von der Sinnlichkeit der Liebe. Was Letzere betrifft, war es bei ihm meist nur körperlos die platonische Variante, die dann in heißen Gedichten überkompensiert wurde. Da war er - das sagen wir ohne Häme - eben das eingangs genannte arme Würstchen. Und wir mögen doch Frankfurter, wenn die Würstchen sind... Wir geben da unserer Gewährsfrau Damm mit ihren abgewogenen Urteilen gerne Recht, die - anstelle der sonst manchmal zu hörenden Saga, er und der Herzog hätten auf ihren gemeinsamen geilen Touren durch Thüringen allerorts kleine Goethes und kleine Carl Augusts hinterlassen - zu diesem Gebiet ausführt, dass es für ihn, den vorgeblichen Weiberhelden, mit der Faustina in Italien sein erstes Mal war:
 


"Es muss für den achtunddreißigjährigen Goethe nach dem Jahrzehnt mit Charlotte eine gravierende Erfahrung in der Liebe gewesen sein: die Körpervereinigung, das sexuelle Erlebnis. (Man muss nicht Eisslers Konstatierung der phonetischen Identität von gen Italien und Gen-italien zustimmen; wohl aber hat die These in seiner großen psychoanalytischen Studie zu Goethe, dass der Achtunddreißigjährige in Italien zum ersten Mal die Kohabitation erlebt, in ihrer schlüssigen Beweisführung viel Überzeugendes.)" (a.a.O., S. 111).

 

Die beliebte TV-Sendung über Sex „Liebe Sünde“ hat zwar ein Zitat aus einem Liebesbrief der Liebe Goethe/Charlotte von Stein zum Titel ("Liebe Sünde ... wenn es ein Unrecht ist, soll mich der Himmel bestrafen"), aber da genoss Goethe ja auch immer nur die Safest-Sex-Variante des „Sex ohne Anpacken“.  Er ist eben auch in Naturdingen ein überschätzter Blender - so ähnlich wie bei der Farbenlehre ging es denen, die ihn näher betrachteten, oft: dass man merken musste, so viel ist gar nicht dahinter. Wie sagte Heinrich Heine: "Die Natur wollte wissen, wie sie aussah, und sie erschuf sich - Goethe". Viele sehen das als Glaubensbekenntnis zu Goethe, z.B. der damalige 68er Lutz Görner, der das als  Höchstschätzung Goethes durch den damals allseits verehrten Rebellen Heine las und von daher sich an Goethe rangab (so sagt er's auf einer seiner schönen Goethe-CDs). Auch offensichtlich als Glaubensbekenntnis zu Goethe sieht das Heine-Zitat ein vom Insel-Verlag herausgegebenes Lesezeichen heuer im Jubiläums-Jahr 1999, auf dem genauso zu lesen ist: "Die Natur wollte wissen, wie sie aussah, und sie erschuf sich - Goethe". Wir schätzen, Heine hätte sich darüber kaputtgelacht, denn ironischer und treffender kann man den sich allenthalben aufplusternden humorlosen Olympier nicht charakterisieren als in diesem augenzwinkernden Satz des (recht verstandenen) Goethe-Hasses:


"Die Natur wollte wissen, wie sie aussah, 

und sie erschuf sich - Goethe."

 

 

                                         


 


Das Nachwort auf dieser Ich-hasse-Goethe-Seite (nach Beendigung des Goethejahres) kann nun etwas weniger pubertär ausfallen. Oma B. aus Deilinghofen (über 90 Jahre alt) sagte zum Goethe-Jahr, nachdem sie „Christiane und Goethe“ von Sigrid Damm gelesen hatte: sie finde Goethe jetzt auch doof. Eine andere Goethe-Durchschauerin fasste das hier zu Sagende in der Frankfurter Rundschau im schoensten Feuilleton-Deutsch (also richtig in intellektueller Hochsprache) so zusammen:

Gefahr der göttlichen Rache
Des Goethejahres letzter Teil: Johann Wolfgang, Baumeister seines Ruhms

Von Hannelore Schlaffer

Das Goethejahr ist überstanden. In vielen würdigen und unwürdigen Ritualen wurde der Olympier geehrt; sein Werk blieb dabei meistens unbeachtet. Dies aber geschah, allen Ermahnungen ernsthafter Leser zum Trotz, ganz im Sinne des Gefeierten.
Goethe wäre es zu wenig gewesen, nur Dichter von Weltrang zu sein; die Epoche, die ihn hervorbrachte, gebot es ihm geradezu, sich auch als große Individualität zu entwerfen. Diesem Gebot seiner Zeit hat er gehorcht, von Anfang an machte er die Bildung seines Charakters zur täglichen Übung. Nachdem er spontan die jugendliche Angeberei ausgetobt hatte, nutzte er bewusst jede Arbeit, die ihm aufgetragen war oder die er sich selbst auferlegte, zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Begabungen zum Dichter und Künstler, zum Beamten und Sammler verstand er als die "Bruchstücke einer großen Konfession". Als gelungen durfte Goethe das Unterfangen, seine Person zur außergewöhnlichen Gestalt zu verfestigen, erst einschätzen, wenn selbst die Nachwelt dieses Bild nicht vergessen konnte. Mit zunehmendem Alter ging er also daran, seinen Nachruhm zu planen. Nicht schlichte Eitelkeit war der Grund für die oft so wunderlichen Anstrengungen, die er zu diesem Zweck unternahm, sondern ein Glaube an die aufgeklärte Idee seines Jahrhunderts, der Mensch sei der Vervollkommnung fähig.
Diese Idee hatte Goethe nach, ja vielleicht schon während der Italienreise entwickelt. Von nun an tat er alles, um den Nachkommen sein Leben, seinen Werdegang, die Geschichte seiner Persönlichkeit als einer exemplarischen Individualität zu dokumentieren. Keine Nation hat je vor ihm einen Künstler hervorgebracht, der eine solche Fülle biografischer Details hinterlassen und damit bedeutet hätte, dass sein Leben das umfassendste seiner Werke sei. Wenn die Nachwelt in einer so übertriebenen Weise ihre Aufmerksamkeit gerade auf die Umstände des Lebens - und eben nicht auf das Werk - richtet, so ist Goethe selbst der Baumeister dieses Ruhms.
Mag sein, dass Goethe ohne Schillers Beihilfe sich der leitenden Idee seiner poetisch-gebildeten Existenz so früh nicht bewusst geworden wäre. Schiller gewinnt den Weimarer Kollegen, der ihn zunächst mit Missachtung strafte, nach der Rückkunft aus Italien, indem er dessen Poesie aus dessen leiblich-geistigen Anlagen erklärte. Die Übereinstimmung von Poesie und Leben, die später die Goetheaner zum Maßstab für große Dichtung überhaupt erhoben, wird zum ersten Mal in Schillers Geburtstagsbrief an Goethe vom 23. August 1794, der das Freundschaftsverhältnis begründete, zu einem anspruchsvollen Konzept ausgebaut. Schiller schreibt, Goethe sei der Dichter, dem, da seine Fantasie in der bilderlosen Welt des Nordens schaffen müsse, der Stoff für eine große Dichtung eigentlich mangele. Ein "griechischer Geist" aber lebe in ihm und gebiete ihm, "von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären". Dem Genie, das so über das dürftige "Material" obsiegt, das ihm die nordische Geburt bereitstellt, prophezeit Schiller Unsterblichkeit: "Sie haben gewählt, wie Achill (...), zwischen Phthia und der Unsterblichkeit."
Glaubt man dem Geburtstagsbrief, so ist die Wiedererweckung der antiken Poesie im Norden die Bestimmung Goethes gewesen. Möglicherweise kam Schillers ehrender Entwurf dem umworbenen Dichterkollegen nun doch mit dessen eigenen Wünschen entgegen, und so vernahm er diese Deutung nicht ungern. Das kurze Zeit zuvor entstandene Frankfurter Gemälde Tischbeins Goethe in der Campagnia nämlich formuliert mit den Mitteln der Malerei denselben Gedanken wie Schillers Geburtstagsbrief: Auf den Ruinen vor Rom sitzend, scheint es, als habe der nordische Dichter die Gräber aufgebrochen und den Geist der Antike heraufbeschworen. Sein Dasein, seine Wanderungen, seine Reisen sind also schon Beiträge zu seiner Poesie. Tischbein, der mit Goethe in Rom zusammenlebte, kann auf das Konzept dieses Gemäldes nicht ohne die Einflüsterung des Dichters gekommen sein.
Bei Tischbeins Bildnis brauchte Goethe nicht Sorge tragen, wie es auf die Nachwelt komme. Die briefliche Ehrung Schillers aber musste er selbst unter die Menschen bringen. Mit der Publikation des Briefwechsels mit Schiller (1827) greift Goethe in die Gestaltung des Bildes ein, das die Nachwelt von ihm haben sollte. Die Intimität des privaten Umgangs preiszugeben durch die Veröffentlichung von Briefen, war seinerzeit durchaus nicht verbreitet. Eher haben die Briefeditionen Goethes die Neugier des Publikums auf das Leben bekannter Persönlichkeiten erst geweckt.
Er werde sich selbst immer mehr historisch, sagte der späte Goethe von sich, und das bedeutete, dass er sich immer mehr mit den Augen der Nachwelt sah. Was unmittelbare Gegenwart war, verwandelte sich für ihn im Augenblick in Vergangenheit. Dies Gegenwärtig-Sein im Schon-Vergangen-Sein wird am deutlichsten durch den Plan, den Briefwechsel mit Zelter zu publizieren. In der Mitte der zwanziger Jahre beginnt Goethe damit, sich von Zelter seine eigenen Briefe zurückschicken und sie abschreiben zu lassen, damit sie nach seinem Tod publiziert würden. "Nun find ich, schreibt er 1825, "dass unser Verhältnis von 1800 an sich durch alles durchschlingt und so möcht ich es denn auch zu ewigen Zeiten erscheinen lassen, und zwar in reiner Steigerung, deren Wahrheit sich nur durch das vollkommenste Detail bezeichnen lässt." Die erwartbaren Gewinne aus dieser Publikation werden von den beiden alten Männern vorsorglich unter die Erben verteilt: "Wegen unserer Korrespondenz ist Vorsorge getroffen. Willst Du, wie ich denke, den künftigen nicht unbedeutenden Betrag des Erlöses auch für Doris (Zelters Tochter) bestimmen, so drücke es in einem legalen Dokument gegen mich aus, damit es sich an die andern Verfügungen gesetzlich anschließe." Von nun an schreiben die Brieffreunde nicht, etwa, weil sie private Umstände mitzuteilen hätten, sondern weil das Briefwerk einen bestimmten Umfang haben muss: Ende 1829 berichtet Goethe vom Fortgang der Abschriften der schon vorhandenen Briefe, "wobei ich zugleich ermahne, noch diese letzten Monate fleißig zu schreiben, damit auch dieses Jahr neben seinen Geschwistern in Ehren bestehen könne."
Anders als der Briefwechsel mit Schiller, der stets mit literarischen Projekten beschäftigt ist, prägt den mit Zelter die Angst des Alters vor dem Erlöschen; er klammert sich daher an alle Details des alltäglichen Lebens, Henriette Mendelssohn missfällt es denn auch, "dass die Teltower Rübchen zu sehr der Unsterblichkeit geweiht sind".
Nicht anders als seine Briefpartner wählt Goethe die Mitarbeiter danach aus, inwiefern sie seinen Nachruhm mehren könnten. Eckermann kann sich nicht rühmen, der Adressat der bedeutungsvollen Worte zu sein, die Goethe an ihn richtete und die er dann aufzeichnete. Vielmehr sind diese von der Rampe der Weimarer Bühne in den Zuschauerraum der Nachwelt besprochen. Jeder Satz ist ein Pinselstrich in Goethes Selbstporträt.
Ganz hat Goethe sein Bild nicht in die fremde Regie der Mitarbeiter gegeben. Auch er selbst hat akribisch jede Minute seines Lebens aufgezeichnet. Die "Tag- und Jahreshefte" sind Rechtfertigungsschriften seiner Existenz. Mit ihnen plant er die Rezeption seines Lebens nach seinem Tod: ganz private Erlebnisse werden in ihnen nicht vermerkt, nichts aber ist vergessen, wenn es sich um Besuche von auswärts handelt, die ihn ehrten, um Besprechungen seiner Werke, Pläne zu neuen Werken, das Fortschreiten der alten zu Vollendung. Die beliebte Frage nach dem Grad der Intimität seiner Beziehung zu Charlotte von Stein ist zwar durch Goethes Absicht provoziert, sein gesamtes Leben zu tradieren. Es widerspricht aber dem Stil, in dem er dies tat: Intimität ist gerade das, was kein Recht auf Dauer, worauf also auch die Nachwelt kein Augenmerk zu richten hat.
Die "Nemesis", die als Anmaßung werten könnte, was er sich vorgenommen hatte, wuchs zu einer immer bedrohlicheren Gestalt empor, je erfolgreicher sich Goethes Arbeit für den Nachruhm zeigte. So hoch wie sein Denkmal, das ihm die Frankfurter Bürger 1819 zum siebzigsten Geburtstag stiften wollten, richtete sie sich auf, und vor der Gefahr der göttlichen Rache macht sich Goethe ganz klein: "Ich verhalte mich dagegen ganz stille, kontemplierend; denn da es mehr ist als ein Mensch erleben sollte; so muss er sich gar wundersam bescheiden zusammen nehmen, um nur die Legung des Grundsteins zu überleben."
Dennoch engagiert er sich mit der ihm eigenen Rührigkeit an der Gestaltung des Monuments und trägt die größte Sorge um einen sinnvollen Platz, an dem es nicht beschädigt werde. In einer visionären Vorahnung dessen, was der Tourismus der Kunst antun kann, spricht er sich gegen eine öffentliche Platzierung des Denkmals aus, weil es doch nur gelegentlich nach einer "mühseligen Wallfahrt" beiläufig betrachtet würde und weil "alle architektonischen Monumente, an den Grund und Boden gefesselt, vom Wetter, vom Mutwillen, vom neuen Besitzer zerstört und so lange sie stehen durch das An- und Einkritzeln der Namen geschändet werden." Stattdessen neigt er dem Gedanken einer Ruhmeshalle, einer "Walhalla" zu; in Bibliotheken und in der Umgebung gebildeter Menschen sollen die Büsten bedeutender Männer und also auch seine eigene aufgestellt sein.
Schließlich vertraut aber bei der Begründung seines Nachruhms Goethe am ehesten auf sich selbst. Die Absicht, für ihn ein Denkmal zu errichten, bestätigt ihn in der Hoffnung, seine Gesammelten Werke herauszugeben. An Boisserée schreibt er 1825: "Lassen Sie uns [die Errichtung des Denkmals] als Versuch betrachten, in welchen der gute Wille gewogener Landsleute sich auszusprechen den Anlass nahm! Greifen wir mit Ernst und Einigung zu gegenwärtiger Gelegenheit: die schon angeregte Nation dahin zu bestimmen, dass sie eine Unternehmung begünstige, die aus meinen eigenen Materialien mir ein bleibendes Denkmal wohlmeinend zu errichten die Absicht hegt."
Nun mag das alles wie eine jedem Menschen eigene Neigung sein, sich Bedeutung beizumessen, wo immer es geht. Nur der Glaube aber an die Bedeutsamkeit des Subjekts konnte Goethe zu der lebenslänglichen Anstrengung motivieren, seinen Ruhm zu mehr und ihn vor allem an seine Person zu binden. "Die Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt."
Die Chance, ein exemplarisches Individuum und das Konterfei seiner eigenen Epoche zu werden, wollte sich Goethe nicht entgehen lassen. Er und sein Jahrhundert sollten dadurch gewinnen. "Wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke", sagte er im Februar 1824 zu Eckermann, "so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag" - da er einer außerirdischen Unsterblichkeit nicht sicher sein konnte, wollt er wenigstens seiner irdischen gewiss sein. Allein deshalb sind alle Goethe-Feiern, was und wie auch immer gefeiert wird und dieses Jahr gefeiert wurde, ganz im Sinne Goethes.
Hannelore Schlaffer hatte das Goethejahr am 2. Januar 1999 in der Zeit-und-Bild-Beilage eröffnet. Ihr hier zitiertes Räsonnement schließt den Bogen in der „Frankfurter Rundschau“ nach dem Goethejahr; Erscheinungsdatum 31.12.1999. 

 

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Anmerkungen
*) Vgl. zu Friedrich Bährens das Buch: Gerhard Hallen, Johann Christoph Friedrich Bährens, Universalgenie, Esoteriker, Schwerter Stadtrat, Stadtarchiv Schwerte - Publikationen zur Ortsgeschichte Band 4, Schwerte 1997, in dem das Aula-Bild von Bährens auf S. 290 gezeigt wird.
Auf meine Arbeit zu Friedrich Bährens [in: Blätter zur Deilinghofer Kirchengeschichte 3a] geht da Hallen S. 5, S. 185, 187 und 188 ein.
Bährens heißt übrigens in Hemer Woeste :-), Namensgeber des Woeste-Gymnasiums, und sieht ihm auch ähnlich zumindest...


1) Aus DS - DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT,
6. August 1999 Nr. 32/1999:
»Er frisset entsetzlich!«
Goethe war ein großer Schlemmer. Kulinarische Genüsse
sind aus seinem Leben nicht wegzudenken.
Und auch in seinem Werk wird gern und bedeutungsvoll gegessen
VON GERHARD NEUMANN
Brot und Wein als Abendmahl beschäftigten Goethe genauso wie die Qualität seines Spargels. Denn der Dichter repräsentiert seine Zeit: Er suchte das Geistige und liebte die Sinnlichkeit  Goethes erstes Gedicht überhaupt, das er 1765 als Sechzehnjähriger in das Stammbuch seiner Mutter schrieb, handelt von einer Mahlzeit: Das ist mein Leib, nehmt hin und esset. / Das ist mein Blut, nehmt hin und trinkt. / Auf dass ihr meiner nicht vergesset, / Auf dass nicht euer Glaube sinkt. / Bei diesem Wein, bei diesem Brot / Erinnert euch an meinen Tod.Zum Zeichen der Hochachtung und Ehrfurcht setzte dieses seiner geliebtesten Mutter J. W. Goethe.Was der junge Dichter hier in Szene setzt, ist eine Wandlung; vergleichbar jener anderen, die Christus vollzog, als er am Gründonnerstag das eucharistische Gründungsmahl des Christentums stiftete. Goethe konzipiert seine literarische Autorschaft vor diesem Hintergrund der Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts, in dem Goethe zu schreiben begann, kennzeichnet eine kulturgeschichtliche Wende. Der Materialismus der Aufklärung und der Idealismus der deutschen Klassik geraten in Auseinandersetzung. Die literarischen Bewegungen des Sturm und Drangs, der Romantik und der so genannten Kunstperiode erwachsen aus diesem Spannungsfeld. In ihm wird aber auch jene Ideologie geboren, die das ganze bürgerliche Jahrhundert, das Hegel das "entzweite" nennen wird, prägen sollte: auf der einen Seite eine Art Rehabilitation der irdischen Freuden und Entdeckung des Körpers. Auf der anderen Seite die Erfindung des Weltschmerzes und der Spiritualisierung, einer Art neuer Kultur des Symbolischen, die darauf aus ist, das Materielle in die Geistigkeit philosophischer und ästhetischer Zeichen zu verwandeln. Goethes Gedicht über das Abendmahl, die Urszene seiner Autorschaft, hält diese Zwiespältigkeit fest. Im christlichen Zeichen der Wandlung wird das Körperliche in Schrift verwandelt und der ästhetische Akt einer Verschmelzung von Materiellem und Geistigem durch eine theologische Vorstellung beglaubigt, ja ermöglicht.Dieses merkwürdige Muster einer Begründung menschlicher Kultur, menschlicher Individualität und menschlicher Beziehungen durch eine heilige Mahlzeit kehrt in Goethes literarischen Texten immer wieder. Als Werther, im Bewusstsein des Scheiterns seiner Liebeskarriere, seinen Tod plant, setzt er diesen als Nachfolge der Passion und des Kreuzestodes Christi in Szene und lässt, bevor er sich durch einen Pistolenschuss tötet, Brot und Wein, ein letztes Abendmahl, kommen. Das Drama "Götz von Berlichingen", das mit dem Wort "Trink aus!" beginnt und die Lebensgeschichte eines Freiheitshelden in einer Zeit des Betrugs und der Feigheit erzählt, gestaltet den Abschied des Helden von seinen Getreuen abermals als letztes Abendmahl - es ist die letzte im Keller bewahrte Flasche Wein, die geleert wird. Und die letzten Worte des sterbenden Götz lauten: "Gebt mir einen Trunk Wasser. - Himmlische Luft - Freiheit, Freiheit!" Goethes dritter Held seiner frühen Jahre, der Knabe Wilhelm Meister, findet das Unterpfand seiner Individualität durch einen verbotenen Griff in das Paradies der mütterlichen Speisekammer - in einem zweiten Sündenfall gewissermaßen, der das verbotene Essen Adams vom Baum der Erkenntnis nachspielt. Was des kleinen Wilhelm forschende Hand im Dunstkreis von dürren Pflaumen, Zitronen, getrockneten Äpfeln und eingemachten Pomeranzenschalen ertastet, ist dann aber zuletzt - "ein geschriebenes Büchlein", das Libretto eines Puppenstücks, Keim seines künftigen Lebensspiels, seiner "theatralischen Sendung". Und dann Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt: Das poetische und erotische Netz, das der Dichter durch Hunderte von Briefchen und Zetteln zu Frau von Stein knüpft, ist abermals aus Schrift und Speise gewebt: Die Billetts werden von Spargeln und Erdbeeren begleitet, sie materialisieren sich in Pfirsichen und Lachsschnitten, in "Wurst-Andencken", Forellen und Süßigkeiten - zum Beispiel aus Zucker geschnittene antike Gemmen. "Guten Morgen mit Spargels", heißt es da, "wie ists Ihnen gestern ergangen. Mir hat Philipp noch einen Eyerkuchen gebacken. Zu Tisch komm ich wohl liebstes." Aber auch in dieser diesseitig-literarischen Korrespondenz wird das Abendmahl zu Rate gezogen. Goethe kleidet seinen erotischen Wunsch der Verschmelzung mit der Geliebten in die Bitte um ein Kleidungsstück, einen Fetisch, an dem sich die Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut vollziehen ließe: Wenn die Geliebte ein "Misel", ein einfaches Mädchen wäre, so schreibt er ihr, "hätt ich Sie gebeten, das Westgen erst einmal eine Nacht anzuziehn und es so zu transsubstantiren". Und Goethes düsterster Roman, "Die Wahlverwandt schaften", lässt die hoffnungslose Ottilie ihr Liebesopfer durch Verweigerung der Nahrung vollziehen. Sie stirbt stumm, indem sie "nichts mehr zu sich nimmt" und ihren Körper verlöschen lässt. Die Liebe galt Krebsen genauso wie Jesus Dass Goethe mit seiner Verschmelzung von christlichem Gründungsszenario und Bildung des Subjekts im Wandlungsgeschehen des Abendmahls zugleich eine Grundkonstellation des 19. Jahrhunderts vor Augen stellt, wird durch zwei bemerkenswerte Bücher deutlich, ein deutsches und ein französisches, die in Goethes letztem Lebensjahrzehnt erscheinen: Carl Friedrich von Rumohrs "Geist der Kochkunst" von 1822 und Jean-Anthelme Brillat-Savarins "Physiologie du goût" von 1825. Da ist Brillat-Savarin, der die sensualistische Tradition der französischen Aufklärung als kulinarische Strategie fortsetzt, das physiologische Substrat der Kultur herauspräparierend - der Mensch sei gewissermaßen, was er esse. Und da ist, Brillat-Savarin gegenübergestellt, Carl Friedrich von Rumohr, der das Prinzip der klassischen Ästhetik in den Genuss der Speisen überträgt: als das Prinzip der Reinheit, welches die Kultur formt, gestaltet und durchsättigt. Caroline Schlegel wird erbittert urteilen: "Es lässt sich gar nichts gegen seine Ansicht der Küche sagen, nur ist es abscheulich einen Menschen über einen Seekrebs eben so innig reden zu hören wie über einen kleinen Jesus.""Geist der Kochkunst" und "Geist der Goethezeit" sind einem einzigen Prinzip unterworfen: dem des Symbolischen als der Reinigung, der Vergeistigung des Materiellen.Goethe selbst hat sich schon in seiner frühen Weimarer Zeit ins Tagebuch notiert: "Gott helfe weiter. Und gebe Lichter, dass wir uns nicht selbst so viel im Wege stehn. Dass man nicht sei wie Menschen die den ganzen Tag über Kopfweh klagen und gegen Kopfweh brauchen und alle Abend zu viel Wein zu sich nehmen. Möge die Idee des Reinen die sich bis auf den Bissen erstreckt den ich in Mund nehme, immer lichter in mir werden."Diese Idee durchdringt Goethes italienischen Aufenthalt dann ganz und gar. Auf dem Lido in Venedig 1786 zeichnet er auf: "Ich kehre noch einmal ans Meer zurück! Dort hab ich heut die Wirtschaft der Seeschnecken, der Taschenkrebse gesehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding. Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr! Wie seiend!" Der Mundkoch der Herzoginmutter Anna Amalia und des Herzogs Karl August in Weimar, François Goullon, der auch Goethes Haushalt am Frauenplan über dreißig Jahre hinweg mit getrüffelten Gänseleberpasteten und anderen Köstlichkeiten versorgte, wird den Gedanken Rumohrs vom Geist der Kochkunst aufgreifen und in seinen Büchern - wie etwa dem "Neuen Apicius" von 1829 - die These vertreten, dass auch ein Gastmahl den Charakter eines Kunstwerks besitze. »Gedenket meiner bei einer Tasse Schokolade« Goethe und das Essen: Dieses Thema ist freilich nicht so sehr durch die verborgene Spur des Abendmahls in den Texten dieses Autors in den Blick gerückt worden als durch Goethes Weimarer Selbst-Inszenierung als Dichterfürst. Auch mit seinem Auftritt als Herr des Festes stellt er sich in eine lange euuropäische Tradition, die von Platons "Gastmahl" über das "Sophistenmahl" des Athenaios und die "Cena Trimalchionis" des Römers Petronius bis hin zu vielen anderen literarischen Mahlsszenen reicht. Ist doch Goethe für den Kulturhistoriker der Inbegriff jenes begüterten Großbürgers, der das Erbe der grands diners in der feudalen Adelskultur antritt. Seine Karriere als Mahlsfürst beginnt ja schon im Frankfurter Elternhaus und dessen kostbarem Weinkeller, der 1795 bei Auflösung des Haushaltes für nicht weniger als 10 000 Taler an einen Weinhändler verkauft wird.Der Weg setzt sich fort mit der Kavaliersreise nach Italien, deren Erlebnisspur sich am Faden der Nahrung verfolgen lässt: die ersten weißen Feigen, Ölbäume voll Früchte, Mais und Maulbeerbäume, Kürbisse und Gurken, Orangen; und dann die Fische, Lachsforellen in Torbole am Gardasee, der Fischmarkt in Venedig, Tintenfische und das geliebte Stufato, ein Schmorbraten, der neben vielem anderen Italienischen später in die Existenz am Frauenplan transferiert wird. Zunächst aber lädt Goethe in das Gartenhaus am Stern. Am 1.Januar 1783 zum Beispiel wird dort, wie das Küchenbuch überliefert, für 17 Personen aufgedeckt: "Kirschsuppe, Presskopf, Cervelatwurst, 6 1/2 Pfund Fisch, Wildpretbraten, Brunellen, Salat, Bisquittorte, Zuckerwerk, Rahm, Thee, Schweizer Käse".Nach dem Umzug in das große Haus am Frauenplan ist die Tischgesellschaft eine Institution. Besucher aus allen Teilen Europas, die den Berühmten zu sehen kommen, sind geladen. Goethe besorgt selbst die Bestellungen der Nahrungsmittel, kümmert sich um die Eigenproduktion im Hofgut Oberrossla, entwirft den Küchenzettel und überwacht die Buchführung: "grundechte" Teltower Rübchen werden aus Berlin geordert, "Spaawasser" durch die Mutter bezogen, Artischocken, die geliebten "Distelfrüchte", über Marianne von Willemer aus Frankfurt, Weine über verschiedene renommierte Händler aus Franken, dem Rheingau und Burgund, Schokolade von Riquet in Leipzig, Aale, Dorsche, Kabeljau und Heringe, aber auch Austern und Hummer (per Eilpost) mit Hilfe des treuen Arztes Nicolaus Meyer aus Bremen. Die Tafelrunden in Goethes Haus beobachten all die Besucher minuziös und nicht selten kritisch, das Tafelgeschehen und Goethes Leibgericht - Karpfen mit polnischer Soße und Flusskrebsen - fast genauer als die Gespräche, die geführt, die Kunstschätze, die gezeigt werden. Caroline Schlegel hat auch hier genauer gesehen als andere und die enge Verbindung von Mahl und Rede, von Mahl und Schrift hervorgehoben: "Goethe gab ein allerliebstes Diner, sehr nett, ohne Überladung, legte alles selbst vor, und so gewandt, dass er immer dazwischen noch Zeit fand, uns irgend ein schönes Blatt mit Worten hinzustellen oder uns sonst hübsche Sachen zu sagen. Seine Umgebung hat er sich mit dem künstlerischen Sinn geordnet, den er in alles bringt." "Wir haben heute viel gelebt!", soll Goethe am Ende solcher Abende, zum Aufbruch mahnend, gerufen haben. Andere Besucher dagegen urteilen erbarmungslos. "Goethe frisset entsetzlich" ist Jean Pauls Verdikt, Wilhelm Grimm berichtet: "Er sprach recht viel und invitierte mich immer zum Trinken, indem er an die Bouteille zeigte und leis brummte; es war sehr guter Rotwein und er trank fleißig"; und Antonie von Brentano schließlich: "Er schöpfte sich seinen Teller immer schrecklich voll Speisen, die er aber meistens immer liegen ließ, ohne sie zu genießen." Thomas Mann hat diese Seite des Kultur-Ereignisses Goethe in "Lotte in Weimar" zu einem Emblem der deutschen bürgerlichen Literaturgeschichte stilisiert - in die er sich nicht ungern als Erfüller der Goethe'schen Mission selbst hineinschrieb.Als Rilke der Fürstin von Thurn und Taxis in einem Brief vom 11. Februar 1922 den Abschluss seiner "Duineser Elegien" meldete, schrieb er: "Alles in ein paar Tagen, es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist, alles, was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht, - an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat. Aber nun ists. Ist. Ist. Amen." Und als Brecht die Diagnose der bürgerlichen Gesellschaft, die er bekämpfte, schrieb, ließ er ein Gedicht beginnen: "Bei den Hochgestellten / Gilt das Reden vom Essen als niedrig. / Das kommt: sie haben / Schon gegessen." An Essen war nie zu denken: Das ist ein Mythos, der die philologische Erforschung der großen Dichterpersönlichkeiten noch heute beherrscht. So verwaltet die Literaturwissenschaft im Fall Goethes zwei Schriftkorpora fast berührungslos nebeneinander, als Prosa und Poesie eines exemplarischen Lebens und einer weltliterarischen Leistung: auf der einen Seite den Schriftstrom von Goethes dichterischem Schaffen, der seine kulinarische Karriere begleitet, auf der anderen Seite nicht weniger als 20000 Dokumente, Rechnungsbücher, Einzelrechnungen, Lieferantenkladden, Bestellungsbücher, Menüaufstellungen, die, mindestens seit 1780, lückenlos erhalten sind. So weiß man, dass an Goethes fünfzigstem Dienstjubiläum für beinahe 200 Personen in seinem Hause Erfrischungen vorbereitet wurden, man weiß, welches Geschirr ausgeliehen werden musste, welche Speisen - von Punscheiern über "Karpfen in Gelee gesetzt" bis zu den Früchten und Desserts wie "Apfelsinen- und Zwetschgentörtchen, Bisquittorten, eingemachten Himbeeren, Bischoffsessenz" - zur Verfügung standen. Und man weiß, dass im Weimarer Hoftheater am gleichen Tag die "Iphigenie" gegeben wurde. In der "Iphigenie" wird bekanntlich kein Bissen gegessen, obwohl man es Orest und Pylades, nach der strapaziösen Landung in Tauris, gern gegönnt hätte. Wie hatte doch Goethe seiner Christiane und dem kleinen August aus Karlsbad geschrieben? "Gedenket meiner bei einer Tasse Chocolade, und wenn im Theater ein Pfeffermünzküchelchen genommen wird.""Jede Nahrung ist ein Symbol", hat Jean-Paul Sartre im Gespräch Simone de Beauvoir gegenüber einmal geäußert. Er hat damit eine Formel für die Kultur des bürgerlichen Jahrhunderts gefunden, deren Mitbegründer Goethe war und an der noch wir - fast ohne es uns einzugestehen - partizipieren. Goethe hat wie kein anderer die Signatur dieses "entzweiten Jahrhunderts" geprägt, in dem Körper und Geist, Materialität und Ideal auf magische Weise zusammengezogen und zugleich strikt auseinander gesprengt erscheinen: An Essen war nie zu denken.
Professor Dr. Gerhard Neumann lehrt deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München

2) »Er kann ja laufen. Ihr könnt meinetwegen beide laufen; ich finde meinen Weg schon allein. Ich denke an meinen Vater in Amerika und brauche keinen andern hier. Meine Mutter sagt, wenn er kommt, ist er reicher und vornehmer und stärker als alle hier.«
»Es ist wahrhaftig Hagel dabei, und die Sache wird ungemütlich, Karl«, brummt Velten. »Na, bei schönem Wetter habe ich nichts dagegen, dass du die Märchenprinzess herausbeißt, Miß Ellen; jetzt hör auf mit deinem Schnack - und gehst du nicht willig, so brauch ich Gewalt, sagt Goethe, und nun komm, Herzchen -
Eine Wassermaus und eine Kröte
Gingen eines Abends spöte
Einen steilen Berg hinan.«
Der sechzehnjährige Signor Petruchio hat den Rock abgerissen und ihn dem sein wildes, phan-tastisches Köpfchen mit beiden Armen gegen den niederrasselnden Hagel- und Platzregensturm schützenden Kinde übergeworfen, das nur schwach widerstrebende aufgegriffen, und zwar mit dem fernern Zitat aus dem Sekundaner-Klassikertum:
»Da begann die Wassermaus zur Kröte:
Warum gehen wir des Abends spöte
Diesen steilen Berg hinan?«
fügt aber hinzu: »Eigentlich ist's umgekehrt: die Kröte hat das Wort. Ja, zapple nur, Kröte, kleine Riesenkröte! Diesen Abend sind wir noch in Deutschland, und deiner Mama Vereinigte Staaten von Nordamerika und sonstigen Herrlichkeiten können mir - kommen.«
Wie Helene und Velten von den Müttern empfangen werden, habe ich nicht in den Akten; was mich selber betrifft, so wird mein Vater wohl gesagt haben:
»Endlich könnten diese Dummheiten wohl aufhören. Allotria auf dem Kirchhofe! ... Und übri-gens scheinst du mir auch seit längerer Zeit schon dich einer recht überflüssigen, wenn nicht schädlichen Leserei zu ergeben. Bleib bei deinen wirklichen Büchern und meinetwegen auch älteren Poeten; aber lass mir diese dummen Romane und sogenannten neueren Dichter aus dem Hause, mein Sohn. Nebenan da zur Vernunft zu reden, hilft ja nicht; da lass ich den Narreteien allmählich" (aus: Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, 1893-95).

3) "Die Bekehrte" ist das Goethe-Gedicht betitelt aus: "Goethes schlechteste Gedichte", herausgegeben von Gottlieb Amsel, Salzburg/Wien 1999, S. 11 (das zweite Gedicht in diesem Bändchen), das mit den Versen beginnt:
"Bei dem Glanz der Abendröte / Ging ich still den Wald entlang. / Damon saß und blies die Flöte, / Dass es von den Felsen klang, / so la la!".

4) Nach Sigrid  Damm, Christiane und Goethe, Eine Recherche, Frankfurt (Insel) 1999, S. 45.

5) Willi Jasper, Faust und die Deutschen, Berlin (Rowohlt) 1998, S. 7.

6) Willi Jasper, a.a.O., S. 8.

7) Willi Jasper, a.a.O., S. 206.

8) Alle hier genannten Zitate aus: Willi Jasper, a.a.O., S. 131 f.

9) Willi Jasper, aa.O., S. 8 f.

10) Zitiert nach Willi Jasper, a.a.O., S. 91 f.

11) Vgl. z.B. Sigrid Damm, a.a.O., S. 90: Als Goethe Weimarer Minister war war, war seine Stimme damals im Jahr 1782 ausschlaggebend für den Herzog bei dem Todesurteil über die junge Kindesmörderin Höhn; da hat Goethe sehr schlampig recherchiert, fahrlässig geurteilt und damit das Todesurteil herbeigeführt.
Dazu kommt etwas möglicherweise Erschwerendes. Sein Votum war der Aufsatz, von dem es bei Damm heißt:
"Der Aufsatz ist selbst nicht überliefert. Das kann Zufall sein. Aber auch Vorsatz. Hat Goethe ihn später an sich genommen und verbrannt? Nachgewiesenerweise hat Goethe eigene, ihn belastende Akten, so 1799 im Atheismusstreit bei Fichtes Entlassung, zurückgenommen und vernichtet. Auch bei der Verbannung seines Dichterfreundes Lenz aus Weimar 1776 sind un-liebsame Zeugnisse von Goethe selbst oder ihm Zugetanen vorsätzlich und gezielt vernichtet worden. Gehört dieser Aufsatz von 1782 dazu? Es ist nicht mehr aufzuklären". De fakto wird bei Damm Goethe dargestellt als einer, der über Leichen geht; immerhin hatte es dort 30 Jahre lang keine Hinrichtung für Kindsmord gegeben (a.a.O., S. 91) - und jetzt ist in dieser delikaten Sache der Olympier das Zünglein an der Waage: sein Landesherr wäre da gerne liberaler gewesen, aber nach Goethes Votum unterschreibt er das Todesurteil. Genau in dieser Zeit dichtet er: "Edel sei der Mensch / Hilfreich und gut!" (a.a.O., S. 94). Vgl zum gleichen Thema auch Willi Jasper, a.a.O., S. 64: "Eine fast schizophrene Spaltung dokumentiert sich hierbei allerdings in Goethes Doppelfunktion als Künstler und Politiker. In der Dichtung entwarf er mitleiderhaschende Szenen der Gretchen-Tragödie, im Weimarer Staatsrat befürwortet er gleichzeitig die Todesstrafe bei Kindesmord lediger Mütter. Und der Kulturpolitiker Goethe fördert die Humanwissenschaften, während sein Dramenheld als Statthalter des Kaiserhofs 'ethnische Säuberungen' betreibt."


Goethehass-Zusätze am 10.4.2006 und 26.8.2006 - Buchbesprechungen über Goethehass-Bücher im Deutschland-Radio und zu Börnes Goethe-Kritik (hier):
Im Gericht mit Goethe & Co.
"Die zehn Gebote eines Schriftstellers" von Stephen Vizinczey
Von Martin Grzimek
Der "Werther" sei eigentlich gar nicht lesbar, Autor war damals in Liebesdingen unbefleckt und zudem gefühlskalt. Goethe-Liebhaber werden sich über den Essayband des Ungarn Stephen Vizinczey wahrscheinlich ärgern. Neben Goethe geht Vizinczey in "Die zehn Gebote eines Schriftstellers" aber auch anderen literarischen Größen auf den Grund.
Goethe-Liebhaber werden sich über den Essayband des in Kanada lebenden Ungarn Stephen Vizinczey wahrscheinlich ärgern. Zumindest über den darin enthaltenen Aufsatz über unseren Nationaldichter unter dem eindeutigen Titel "Das Genie als Speichellecker". "Werther", schreibt Vizinczey, "Goethes einziger Roman über einen leidenschaftlichen Menschen, ist heute schlicht unlesbar. Goethe hat offensichtlich über etwas geschrieben, wovon er keine Ahnung hatte. An dieser Stelle darf man auch nicht vergessen zu erwähnen, dass Goethe mit siebenunddreißig Jahren noch mit keiner Frau geschlafen hatte. Anders ausgedrückt: Sein Verlangen nach einer Frau ist nie stark genug gewesen, ihm jenen Mut zu verleihen, der eine Zurückweisung riskiert hätte. In diesem Punkt treffen sich der korrupte, glattzüngige Beamte und der alles andere als große Dichter: Goethe nannte nur ein ziemlich begrenztes Gefühlsleben sein eigen. Schwache Männer aber sind dann am schwächsten, wenn es um Mitleid geht. Obwohl der Herzog Gnade walten lassen wollte, hat Goethe das Todesurteil eines echten Gretchen unterzeichnet, eines Dienstmädchens, das ihr Kind ermordet hatte."
Der provozierende Ton, in dem Vizinczey Goethe fehlende Leidenschaftlichkeit und angepasste Herrscherallüren als Charakterschwächen anlastet, ist signifikant für alle in diesem Band versammelten Essays aus drei Jahrzehnten kritischer Auseinandersetzung des Autors mit den Werken der Weltliteratur. Treffender als der deutsche Buchtitel "Die zehn Gebote eines Schriftstellers" lautet daher der der Originalausgabe: "Wahrheit und Lüge in der Literatur".
Original direkt HIER:
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07.04.2006
Als Popanz und schäbigen Charakter bewertet d‘Aurevilly Goethe
Ein bisschen Sauerkraut
Jules Barbey d‘Aurevilly Schmähschrift "Gegen Goethe"
Rezensiert von Joachim Scholl (die Rezension ist als MP3-Hördatei übrigens im Podcast direkt HIER zu kriegen)
"In Goethes deutschem Hirn ist immer ein bisschen Sauerkraut", schreibt der adlige Franzose Jules Barbey d‘Aurevilly. Für ihn war Goethe ein schlechter Schriftsteller und eine geistige Null. Seine Streit- und Schmähschrift "Gegen Goethe" entsteht ab 1870, während und nach der Belagerung von Paris durch die Deutschen.
"Kann man sein, was als ein Mann von Genie bezeichnet wird, und zugleich langweilig sein? Und wenn man ein unerhörtes Genie ist, kann man dann unerhört langweilig sein?" Es ist eine rein rhetorische Frage, die der französische Literat und Kritiker Jules Barbey d'Aurevilly (1808 - 1889) zu Beginn seines Essays stellt, der sich in der Folge zu einem der wütendsten literarischen Streit- und Schmähschriften der gesamten Literaturgeschichte auswächst.
Denn Goethe ist nach Meinung dieses adeligen Franzosen nicht nur ein langweiliger, sondern ein ausgemacht schlechter Schriftsteller, eine geistige Null, ein Popanz und schäbiger Charakter. Jeder Satz d'Aurevillys ist ein Hieb, ein Schlag gegen den "großen Goethe", wie er auch im Frankreich des 19. Jahrhunderts weithin verehrt wird.
D‘Aurevilly aber lässt nichts gelten: weder die Lyrik Goethes und die Dramen, noch die Romane und die naturwissenschaftlichen Schriften - alles wird verdammt, niedergemacht und bloßgestellt als minderwertige Leistungen eines mediokren, stumpfen Hirns, das mit glänzender Scharlatanerie die Welt glauben machte, es sei eines der besten des Säkulums. Der "Faust" - nur eine alberne Oper, zudem geklaut! Die Lyrik - lediglich Sprüche! Die "Wahlverwandtschaften" - sentimentales, dazu moralisch schlüpfriges Zeug!
Auf knapp 90 Seiten wütet, schäumt und rast der Kritiker - soll, kann man ihn und seine Ansichten ernstnehmen? Gewiss nicht! Aber witzig, originell liest sich d‘Aurevillys Pasquill schon, und richtig interessant ist der kulturhistorische Hintergrund, vor dem es geschrieben ist.
Die Schrift entsteht in mehreren Schüben ab 1870, während und nach der Belagerung von Paris durch die Deutschen. Der flammende Monarchist d'Aurevilly, wohlhabender Spross normannischer Aristokratie und Lebemann, ist natürlich empört angesichts der Niederlage seines Landes. Dass deutsche Kultur in Frankreich geschätzt wird, passt ihm schon lange nicht. Schon vorher hat er gegen die Schriften Goethes, die in zahlreichen Übersetzungen erscheinen, polemisiert und sich damit in absichtsvollem Gegensatz zum französischen Kritikerpapst jener Zeit, Charles-Augustin de Sainte Beuve, gestellt.
Es ist zunächst eine berufliche, dann auch private Fehde, die d'Aurevilly auf dem Rücken Goethes austrägt. Sainte-Beuve ist der König der Literaturkritik, d'Aurevilly möchte das auch sein. Nach Sainte-Beuves Tod 1869 erbt er dessen einflussreichen Posten im Blatt "Le Constitutionell". Der deutsch-französische Krieg kommt d'Aurevilly gerade recht, um das von Sainte-Beuve stark geprägte, positive Goethe-Bild Frankreichs endgültig zu zerstören.
Es ist dieser Kontext, der "Gegen Goethe" zu einem spannenden (und drolligen) Kapitel der Kulturgeschichte macht. Für den notwendigen Kommentar, ohne den d'Aurevillys Sottisen nur lächerlich blieben, sorgen die Anmerkungen von Gernot Krämer, der den Originaltext elegant übersetzt hat, sowie zwei Essays von Lionel Richard und Christian Hecht. Vor allem das launige biographische Nachwort des bekannten französischen Germanisten Lionel Richard schafft die Grundlage, d'Aurevillys Pamphlet einzuordnen und zu verstehen - und seine Ausfälle bisweilen auch zu genießen! Er hat an manchen Stellen gar nicht so unrecht, wenn er etwa bezweifelt, ob die vielen Goethe-Liebhaber den "Wilhelm Meister" wirklich zu Ende gelesen haben? Oder behauptet, dass "Dichtung und Wahrheit" der Gipfel dichterischer Selbststilisierung sei!
Mögen d'Aurevillys Argumente und Begründungen zwar durchweg absurd erscheinen, so liest man etliche Sätze dennoch mit Schmunzeln: "In Goethes deutschem Hirn ist immer ein bisschen Sauerkraut." Das ist gemein, klar, aber so ganz blöd wiederum nicht, oder?
Jules Barbey d‘Aurevilly: Gegen Goethe
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
Verlag Matthes & Seitz Berlin 2006
144 Seiten, 19,80 Euro
Im Original direkt HIER:
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http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/486174/ (zuletzt aufgerufen: 15.5.2020)

Gleicher Sender, gleiches Anti-Goethe-Buch andere Rezension:
28.08.2006
Barbey d'Aurevilly beschimpft Goethe und zerreißt seine Werke.
(Bild: AP) "Deutscher Plumpsack mit Sauerkraut im Hirn"
Französischer Kritiker verreißt Goethe und seine Werke
Rezensiert von Jörg Plath
Der französische Schriftsteller und Kritiker Jules Barbey d'Aurevilly rechnet in "Gegen Goethe" mit dem deutschen Dichter ab. Kein gutes Haar lässt der Pamphletist an dessen Romanen, Gedichten und Theaterstücken. Obwohl Goethe übel beschimpft wird, macht das Lesen dieser wortgewaltigen Attacken Spaß.
Manche Stunden sind der Lektüre und der Kritik hold, manche weniger. Jules Barbey d'Aurevilly hat 1870 mit recht ungünstigen Umständen zu kämpfen:

"Während die Preußen Paris bombardierten, las ich Goethe."
Die französische Ausgabe von Goethes "Sämtlichen Werken" war im Jahr des deutsch-französischen Krieges neu aufgelegt worden, und der Pariser Starkritiker sah sich militärisch wie kulturell angegriffen:
"Goethe bombardierte mich mit Langeweile. Von allen deutschen Geschossen, die über meinem Stadtteil niedergingen, waren die Sämtlichen Werke für mich das schwerste."
Nun hätte sich Barbey D'Aurevilly als kultureller Landesverteidiger inszenieren können. Doch die totale Mobilmachung bleibt dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Barbey D'Aurevilly kündigt lediglich an, Goethe "ein paar gezieltere, härtere, tiefer gehende Schläge zu versetzen", und beendet den ersten Absatz seiner Schrift "Gegen Goethe" mit der Frage, ob ein Genie langweilig sein könne. Das ist nicht nur eine "sehr französische Frage", wie er zugibt, es ist nach dem kriegerischen Auftakt auch eine sehr matte.
Jules Barbey d'Aurevilly filettiert seinen Gegenstand, den er einmal Wolfgang Goethe und dann nur noch Goethe nennt, mundgerecht. Zwischen Einleitung und Zusammenfassung nimmt er sich nacheinander die Theaterstücke, die Gedichte, die Philosophie, die Romane, Kunst und Reisen sowie die Wissenschaft vor, jedoch keineswegs vollständig und zuweilen mit Hilfe von falschen Zitaten.
Im Kapitel über die Romane wird etwa nur dem "Werther" die Gunst einer längeren Erwähnung zuteil: Der "kleine Roman, der so welk, so blass, so altmodisch wirkt", sei noch der beste. "Die Wahlverwandtschaften", die eigentlich "Das sentimentale Konkubinat" heißen müssten, und "Wilhelm Meister" habe wohl nie jemand ganz gelesen. Beide Romane seien "keine Bücher (…), nicht einmal mehr schlechte, sondern nicht mit Namen zu bezeichnende, nicht wiederzugebende, unlesbare Dinge". Weshalb Barbey D'Aurevilly von ihnen schweigt. Das ist kein kursorisches, sondern ein ignorantes Verfahren.
Der zum Katholizismus konvertierte Kritiker wettert gegen den deutschen Protestantismus, er vermisst die psychologische Figurenzeichnung, und in Goethes Dramen fehlen ihm die drei Einheiten der Handlung, der Zeit und des Ortes.
Findet also wenigstens Goethes klassizistisch gebaute "Iphigenie in Tauris" Gefallen? Nein, sie sei "eine Imitation des griechischen Theaters."
Der Ruhm des Weimarers, den Napoleon 1808 auf dem Erfurter Fürstenkongress empfing, gründete sich in Frankreich vor allem auf Madame de Staëls einflussreiches Buch "Über Deutschland". Mag sein, dass Barbey D'Aurevilly bei seinen Lesern Goethe-Kenntnisse voraussetzen durfte und sie nicht in extenso wiederkäuen musste.
Ob das auch für die Metaphysik gilt, die zum Verständnis von Klassik und Deutschem Idealismus nicht unwichtig ist? Der Pamphletist erwähnt die Metaphysik im Kapitel über die Romane mit drei Sätzen:
"Die unschuldigen Deutschen, diese falschen Biedermänner aus Deutschland haben die Metaphysik erfunden, um ihre Heuchelei zu verstecken. Sie sind pfiffig, trotz ihrer Schwerfälligkeit und Einfalt. Die Metaphysik ist die Tarnkappe ihrer Unmoral, wenn sie unmoralisch sind."
Mag sein, dass der Autor wusste, was Metaphysik ist, verraten wollte er es nicht.
All das wäre Barbey D'Aurevilly nachzusehen, träte er wenigstens zu polemischen Höhenflügen an. Doch der "Faust" ist ihm eine "literarische Krupp-Kanone", "Werther" der "Pistolenschuss des Jahrhunderts". Goethe nennt er einen "bedürftigen Monogamisten", der geboren sei für das Konkubinat, außerdem einen "Gimpel", "Dekorateur", "Imitator", "Opernmacher", "ewigen Arrangeur", "Papierzuschneider", "Langeweiler", "ambitionierten Tausendsassa", einen "deutschen Plumpsack" mit Sauerkraut im Hirn, einen "trägen Prahlhans der Laster seines Geistes", eine "Leseratte" und "Gipsarbeit" und "aller Welt Bastard".
"Gegen Goethe" ist eine lärmende, oft plumpe Beschimpfungsarie, keine geistreiche Polemik.
Jules Barbey d'Aurevilly ist hier zu Lande als Autor des Romans "Die Teuflischen" und des Essays "Vom Dandytum" bekannt. Als Kritiker führte er stets eine spitze Feder. Seine Grobheiten in "Gegen Goethe", so Lionel Richard in einem instruktiven Nachwort, seien auch ein Vatermord: Barbey d'Aurevilly habe den Goethe-Verehrer und Kritikerpapst Charles-Augustin de Sainte-Beuve erst lange erfolglos umworben und dann bekämpft. Das Goethe-Bashing gilt eigentlich dem Konkurrenten.
Erstaunlicherweise macht das Buch dennoch Freude. Es ist ein sorgfältig übersetztes und ediertes Schmuckstück mit hilfreichen Anmerkungen, zudem hübsch garniert mit zahlreichen Goethe-Porträts, die ein Essay von Christian Hecht vorstellt als auf unterschiedlichem Niveau scheiternde Versuche, einen Dichterfürsten zu malen. So kann man es lesen als einen sardonischen Gruß zum 257. Geburtstag des Geheimen Raths.

Jules Barbey d'Aurevilly: Gegen Goethe
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen von Gernot Krämer
Mit einem Nachwort von Lionel Richard und einem Essay von Christian Hecht
Matthes & Seitz, Berlin 2006
144 Seiten, 19,80 Euro
Textversion im Original HIER zu finden: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/535554/
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Der gereimte Knecht im Gegenlicht
Über einen von Christoph Weiß herausgegebenen Sammelband zu "Ludwig Börnes Goethe-Kritik"
Von Heidi-Melanie Maier
Besprochene Bücher ...
Man darf Goethe nicht nicht mögen. Und besonders schwierig gestaltet sich der Umgang mit Goethe-Kritik, wenn diese von einem anerkannt klugen Menschen stammt. Denn es lässt sich dann schlechterdings sagen, dass derjenige Goethe nicht verstanden habe. Neid könnte man unterstellen, aber mit analytischer Tiefenpsychologie tun sich die meisten Literaturwissenschaftler zu Recht schwer. Deshalb nimmt man die Kritik artig ernst, verweist aber auf die Holzschnittartigkeit, in der Goethe vom jeweiligen Kritiker gezeichnet wird. Zumeist heißt dies dann "Goethe im Gegenlicht" - so auch im Nachwort von Inge Rippmann zu dem von Christoph Weiß herausgegebenen Bändchen "Ludwig Börnes Goethe-Kritik": "Goethe erscheint hier weitgehend im Gegenlicht, das heißt im Licht seiner Kritiker und Gegner, insbesondere im Licht, in dem ihn Börne sieht. In einer solchen Beleuchtung wird keine ganzheitliche Gestalt erkennbar, es werden lediglich Konturen wahrnehmbar; der selbstgeworfene Schatten des visierten Gegenstandes erschwert das Erkennen einzelner Züge." Und dann beeilt man sich noch zu sagen, dass die begeisterte, unreflektierte Verehrung Goethes ebenfalls unzulänglich sei.
Undifferenziertheit kann man Börne nicht vorwerfen. Börne war zunächst einmal ein ausgezeichneter Kenner des Goethe'schen Werks. Er verehrte das Frühwerk - Werther, Götz und Egmont - sowie das lyrische Werk. Börnes Kritik an Goethe war vielmehr gesellschaftspolitischer und stilkritischer Natur und bezog sich deshalb auch in erster Linie auf Goethes autobiografisch orientierte Werke. Zum einen sah Börne bei Goethe mangelndes politisches Bewusstsein, das er vor allem an dessen selbst konstatiertem Ignorieren der Französischen Revolution festmachte: "Hier muß ich noch einer Eigenthümlichkeit meiner Handlungsweise gedenken. Wie sich in der politischen Welt irgendein ungeheures Bedrohliches hervorthat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste." Zum anderen kritisierte Börne bei Goethe das Formprimat, in dem er vor allem eine emotionale Teilnahmslosigkeit sah.
Dies alles ist in dem vorliegenden Band - sowohl in den versammelten Textstellen als auch in dem von Inge Rippmann nicht anders zu erwartenden kenntnisreichen Nachwort - nachzulesen. Wirklich Neues findet sich darin nicht. Rippmann hatte die Kernpunkte ihres Nachwortes bereits in einem Aufsatz in dem 2004 erschienenen Band "Goethe im Vormärz" des Forums Vormärz-Forschung veröffentlicht. Die Worte Börnes zu Goethe, die ja immerhin den Großteil des Bandes ausmachen, sind in der Zusammenstellung amüsant zu lesen. Eine solide Edition nach den Erstdrucken: Für den über die Goethe-Rezeption Arbeitenden ist dies also ein nützliches Bändchen, erspart es doch das mühevolle eigene Zusammensuchen und Nachlesen. Und Börnes Kritik an Goethe ist durchaus berechtigt, kenntnisreich und noch dazu wortgewaltig: "Ich habe Göthe's und Schillers Briefe zu Ende gelesen; das hätte ich mir nicht zugetraut. Vielleicht nützt es meiner Gesundheit als Wasser-Kur. Mich für meine beharrliche Diät zu belohnen will ich mir die hochpreißlichen Rezensionen zu verschaffen suchen, die über diesen Briefwechsel gewiß erschienen seyn werden. Ich freue mich sehr darauf. Was werden sie über das Buch nicht alles gefaßelt, was nicht alles darin gefunden haben!"
Einen etwas fahlen Nachgeschmack hinterlässt das Fazit des Nachwortes. Anstatt die Kritik Börnes unharmonisiert stehen zu lassen und ernst zu nehmen, betont Rippmann zum Schluss ihrer Ausführungen die Verbundenheit Börnes mit Goethe. Qua Kritik offenbare sich Börnes Zugewandtheit zu Goethe, immer wieder tauchten "Signale seiner Hochschätzung" auf. Und so schließt sich der Kreis: Alle lieben Goethe, selbst seine schärfsten Kritiker.
Christoph Weiß: Ludwig Börnes Goethe-Kritik.
Wehrhahn Verlag, Laatzen-Grasdorf 2005.
107 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN 3932324692
Original der obigen Rezension unter: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7957 (zuletzt aufgerufen am 15.5.2020)


Die folgende Rezension ist der Webseite http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6297&ausgabe=200309 entnommen (zuletzt aufgerufen am 15.5.2020)

Ende gut. Alles Goethe
Ein Sammelband über Goethes Kritiker
Von Frauke Nowak
...
Wie betreibt man Goethepolitik? Man veranstaltet eine Ringvorlesung an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität unter dem Stichwort "Goethes Kritiker" und veröffentlicht anschließend einen Sammelband.
Trotz der eindeutigen Umschlagabbildung des Bandes und trotz des Vorwortes - auf beide komme ich zum Schluss meiner Rezension zu sprechen - habe ich mir den Band näher angesehen. Zwölf chronologisch geordnete Beiträge beginnen mit Goethes literarischem Ruhm und reichen bis in die Gegenwart. Behandelt werden Lichtenberg (Spätaufklärung), Fr. Schlegel und Novalis (Romantik), als weitere Zeitgenossen Goethes: Kleist, Heine, die Eheleute Varnhagen. Fontane wird als exemplarischer Vertreter des 19. Jahrhunderts dargestellt. Die zweite Hälfte der Beiträge ist dem 20. Jahrhundert vorbehalten: Thomas Mann, Heidegger, Arno Schmidt, Hans Blumenberg, siehe da: Eckhard Henscheid, und dem US-amerikanischen Historiker W. Daniel Wilson, der den politisch aktiven Goethe, das Regierungsmitglied, den Minister Goethe mit gesundem Misstrauen und umfassender archivarischer Kleinarbeit aufarbeitet. Ausgewählt wurden ausschließlich Kritiker - bis auf Rahel Varnhagen, die als Goetheanhängerin dargestellt wird, die ihren respektlosen, jüngeren Ehemann auf den "rechten" Weg der Goethe-Rezeption weist.
Lichtenbergs ablehnender Reaktion auf den "Werther" wird in einem soliden Beitrag von Gerhard Neumann genauer nachgespürt. Dabei verteidigt Neumann aus der Perspektive der "Heutigen" die Leitformeln des Wertherschen Bildungsweges in ihrer von Goethe bewusst konstruierten Aporie gegen die vehemente Kritik Lichtenbergs. Es wird zwar deutlich, warum dem Spätaufklärer die religiöse Aufladung menschlicher Sinnlichkeit und eine damit verbundene 'empfindsame' Bildungsidee zeitlebens zuwider bleibt. Bei Neumann erscheint Goethe jedoch als noch immer interessanter Vordenker der modernen Individualität und Subjektivität. Lichtenbergs Kritik bekommt die dienende Rolle eines "Brennspiegels", die "den kulturellen Konflikt, welcher der Geburt unserer Moderne und ihrer Konstruktion von Individualität zugrunde liegt", exemplarisch verdichtet.
Hendrik Birus' Artikel ist inmitten der Auseinandersetzung um die Romantik situiert. Er rekonstruiert die zunächst positive, dann jedoch ablehnende Bewertung des "Wilhelm Meister" durch Fr. Schlegel und Novalis. Während Novalis Ende 1799 tatsächlich einen eklatanten Wechsel hin zu schärfster Kritik vollzieht, etabliert sich Schlegel aus der Sicht germanistischer Tradition mit seiner berühmten "Charakteristik" des "Wilhelm Meister" zunächst als einer der ersten ernstzunehmenden "literarischen Kritiker". Indem Birus den Doppelsinn der vordergründig bejahenden und positiven Meister-"Charakteristik" noch einmal gemeinsam mit den erst später publizierten prinzipiellen Einwänden Schlegels darstellt, gibt er einen detaillierten Einblick in den nicht allein ästhetisch motivierten Kritikansatz der Romantik an Goethe.
Der Beitrag von Erich Meuthen gehört in den Themenbereich um Kleists literarische Gegnerschaft zu Goethe. Diese wird am Beispiel des Konzepts der "schönen Seele" ästhetisch verortet. Meuthen versucht, die verdrängte rhetorische Dimension der idealistischen Ästhetik am Beispiel dieses Prestige-Begriffs zu entfalten und so zu einem einheitlichen Interpretationskonzept der "Iphigenie", der "Penthesilea" und des "Käthchen von Heilbronn" zu gelangen. Aus dieser Perspektive scheitert mit "Iphigenie" gewissermaßen auch die idealistische Ästhetik, im Hinblick auf die "Penthesilea" wird sie aber dadurch, dass Penthesilea als schöne Seele gelesen wird, in ihrer Konzeption wieder bestätigt. Die massive, vielschichtige und theoretisch anspruchsvolle Kritik Kleists an Goethe verliert sich in einer unkritischen Begriffsspielerei mit rhetorischen und ästhetischen Begrifflichkeiten und wird - durch den Wissenschaftler unkenntlich gemacht - entschärft.
Als einer der weiteren "prominentesten Kritiker Goethes" kommt Heinrich Heine in einem Beitrag von Günter Häntzschel zur Darstellung. Dieser Beitrag entspricht in seiner devoten Haltung vielleicht am direktesten den im Vorwort genannten Intentionen der Herausgeber. Wenn Heine Goethe verteidigt als jemanden, an dem "(s)pätere Zeiten [...] noch vieles [...] entdecken (werden), wovon wir jetzt keine Ahnung haben", so liest Häntzschel dies als klarsichtige Vorwegnahme einer später nachfolgenden wissenschaftlich fundierten Hochschätzung für Goethes Person und Werk: "(D)ie Hinwendung zu einer historisch-kritischen Position hat sich bei Heine schon vorher eingestellt." Heines Verdienst sei, "eine übergeordnete Perspektive (einzunehmen), Goethe in größeren Zusammenhängen (zu rezipieren) und neue Beurteilungskriterien (anzuwenden)." Häntzschel freut sich über das Fundament für ein "progressive(s) Bild Goethes und zugleich der deutschen Klassik", das Heine in dem "Schulstreit zwischen Klassik und Romantik" (Birus) legt. Unter dem Stichwort "Abtrennung der Kunst von der Wirklichkeit" kritisiert Heine zwar mit den "Goetheanern" auch den Urheber dieser "Verkultung" und spricht in diesem Sinne auch vom Ende einer "Kunst"-periode. Häntzschel jedoch lässt sich nicht ernsthaft auf diese Kritik ein. Goethes Werk bekommt aus der Sicht dieses Wissenschaftlers den Status des notwendigen Vorbildes zugewiesen. Im Sinne der Interpretation eines Aufeinandertreffens zweier "gegensätzlicher Naturen" kann sich das Heinesche Werk neben Goethe behaupten, hat aber einfach einen anderen "Charakter". -
Nach einem Beitrag von Konrad Feilchenfeldt zum Goethe-Kult des Ehepaars Varnhagen (Instrumentalisierung Goethes als Mittelsmann und Medium des Paares, Initiation der Goethe-Gemeinde, Goethe als Sozialisationsfaktor für Deutschland, subjektivistische Goethelektüre als 'Kunst der Interpretation'), bildet der Text zu Fontane den Brückentext zwischen Goethes Zeitgenossen und dem 20. Jahrhundert. In Fontanes Haltung zu Goethe spiegelt Walter Hettche die divergierenden Rezeptionsformen des 19. Jahrhunderts. Fontanes scharfe Ablehnung der bildungsbürgerlichen, kulturnationalen Vereinnahmung steht dabei im Kontrast zu seiner "stillen Goethe-Lektüre, die die Literatur als schützenden Fluchtraum vor den Widrigkeiten des Lebens versteht [...]. Als Goethe-Kritiker im eigentlichen Sinn kann man Fontane kaum bezeichnen, wenn man Goethe-Kritik als Kritik am Dichter und seinem Werk versteht. Die hat Fontane zwar auch geübt, aber weit mehr ist er doch ein Kritiker der Goethe-Rezeption seiner Zeit gewesen."
Alle diese Beiträge tasten den "kulturellen Status" Goethes gewissermaßen nicht an. Ob dies für das 20. Jahrhundert gelingen wird? Bevor ich zum numerisch zweiten Teil der Beiträge komme, möchte ich an dieser Stelle eine inhaltliche Einteilung des Bandes unternehmen. Der überwiegende Teil der Beiträge beschäftigt sich mit Männern, die literarisch-schriftstellerisch gearbeitet haben bzw. arbeiten (Henscheid) und auch auf dieser Ebene, der literarisch-schriftstellerischen, eine Auseinandersetzung mit Goethe und seinem Werk gesucht haben: entweder im Hinblick auf ihr eigenes Dasein als Schriftsteller oder im Hinblick darauf, dass sie eine Position zu konkreten Goetheschen Werken einnehmen. Dieser Vorrang einer literarischen Herangehensweise gilt auch für Thomas Mann, der in dem Beitrag von Wolfgang Frühwald als politischer Literat inszeniert wird. Im Goethejahr 1932 tritt Mann als emsiger Kämpfer für einen "europäischen", "friedlichen", "humanen" und "bürgerlichen" Goethe auf, gegen die - wie Frühwald schreibt - "deutschnationalen", "kriegerischen" und "germanisch-kampfgierigen" Entfacher eines "Weltenbrand(es), wie ihn die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte." Frühwald sieht Manns "literarisch-intellektualistische Dekadenzgeste" (die einhergeht mit einem aus Einsicht in das schwache Menschenlos "sittlichen Benehmen" (Mann)) in den real inszenierten Untergängen der Nazis, ihrer "Realpolitik" unterliegen. Es scheint, als hätte man einfach damals mehr auf Mann, auf Goethe, hören sollen, um "Weltenbrand", Unheil, Holocaust zu vermeiden.
Zwei Beiträge (zu Blumenberg und Wilson) beschäftigen sich mit Kritikern, die eine dezidiert philosophische bzw. wissenschaftshistorische (Wilson) Frage in der Auseinandersetzung mit Goethes Person und Werk verfolgen. Natürlich ist die philosophische Dimension gewissermaßen nie ausgeschlossen, jede Auseinandersetzung impliziert philosophische Positionen. Jedoch zieht die historische Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Wissenschaftsdisziplinen eine grundsätzliche Veränderung der Herangehensweise nach sich. Die akademische Gemengelage Lichtenbergs als Naturwissenschaftler, Philosoph, Literat trifft weder für Blumenberg noch für Daniel Wilson zu, die als Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts mit ihren Publikationen unbestritten akademischen Fachrichtungen zuzuordnen sind. Blumenbergs Interesse richtet sich auf Goethes eigentümliche Dämonisierung des Todes, dessen obstinate Abwehr ("den Tod [...] statuiere ich nicht") und seine gleichzeitige Selbstvergottung als Prometheus. Goethes Realitätsverweigerung findet einen scharfsichtigen und intelligenten Interpreten: "Goethe verleugnet als wunden Punkt, was Blumenberg als conditio humana anerkennt." Ethel Matala de Mazza spannender Beitrag zeigt, wie "Blumenberg [...] eine Art kritischer Mythologie [betreibt], die Goethes Arbeit am eigenen Mythos analysiert und entmythisiert. Die Auseinandersetzung mit dem Mythos Goethe gestaltet sich als Rekonstruktion und Dekonstruktion zugleich." - W. Daniel Wilson wird von Hartmut Reinhardt als gnadenloser "Ermittler" inszeniert, als schnüfflerischer Detektiv, der Goetheforschung mit eigentlich fachfremden Fragen aus dem Bereich der eigentlich unangebrachten "political correctness" betreibt. Wilsons Antworten zu den Fragen nach dem politisch aktiven Goethe können von dem Ermittler Hartmut Reinhardt wissenschaftlich nicht disqualifiziert werden, aber wir haben ja noch Goethe selbst: "Seine [Wilsons, F.N.] Leistungen in der historischen Materialforschung bleiben unanfechtbar, wobei die biographische und politikgeschichtliche Ausrichtung auf Kosten der ästhetischen Wahrnehmung dominiert. Doch Einseitigkeiten dieser Art gehören zu den "Grenzen der Menschheit", um die nicht zuletzt Goethe selbst gewusst hat." Reinhardts Beitrag beendet den Band - warum ich diesen Beitrag in seiner Ausrichtung für den ärgerlichsten halte, wird vielleicht im Folgenden deutlich.
Heidegger gehört nicht in die Reihe derjenigen Wissenschaftler, deren Publikationen zu einer in Demokratie institutionalisierten Universität gehören. Seine Auseinandersetzung mit Goethe wird in ihrer brutalen politischen Dimension in einem exzellenten Beitrag von Clemens Pornschlegel aufgearbeitet, den ich für den erfreulichsten und wichtigsten Beitrag des Bandes halte.
Dieser Beitrag gibt meiner Ansicht nach die einzige ernsthafte Antwort auf die von den Herausgebern im Vorwort formulierte Frage nach dem heutigen Umgang mit Goethe.
Pornschlegel untersucht in seinem Beitrag sparsame, "beiläufige" Aussagen Heideggers zu Goethe. "Versgehüpfe, Reimgeklingel, Singsang. Heideggers Auseinandersetzung mit Goethe" lautet der etwas irreführende Titel seines Aufsatzes. Irreführend deshalb, weil Umschlag und Vorwort des Sammelbandes nahe legen, es könne sich um das "gerade-Rücken" eines verfehlten Umgangs von Heidegger mit Goethe handeln. Etwa so, als habe Heidegger die Goetheschen Werke, ihre Ästhetik und Qualität aus Verblendung oder Desinteresse nicht begriffen und verfehle deshalb den wesentlichen Teil dessen, was Goethe uns Nachgeborenen zu bieten hat. Weit gefehlt. Pornschlegel rekonstruiert aufmerksam, sorgfältig und elegant eine Auseinandersetzung um "große" deutsche Denktraditionen und bringt Begriffe ins Spiel, die Vergangenheit und Gegenwart bestimmen.
"In Heideggers Auseinandersetzung mit Goethe geht es nicht um philologische Details, nicht um Werkdeutungen und Lesarten. Umso offenkundiger und grundsätzlicher geht es um den Status des Namens 'Goethe', das heißt, um das richtige Emblem und um den richtigen Namen des kulturellen Bezugspunkts der Deutschen. Mit Heideggers Verschweigen und Nennen des Namens 'Goethe' steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Frage nach der dichterischen Referenz der Nation, die Frage nach dem wahren Vorzeige-Spiegel deutscher Identität." Und hier gilt zunächst, dass Hölderlin Goethe vorzuziehen ist: "weil er nämlich 'das deutsche Seyn am weitesten hinaus- und vorausgeworfen' habe. [...] Hölderlin - nicht Goethe - ist der Vorsager und Schöpfer der deutschen Welt, und zwar deswegen, weil er die große Zeitenwende, den Neu-Anfang der Götter vorausgedichtet habe. In ihm fänden die Deutschen endlich zu ihrer weltgeschichtlichen Bestimmung, zu ihrer, wie Heidegger unablässig wiederholt, 'deutsch-griechischen Sendung'." Damit verbindet sich gleichzeitig der Versuch, die "behagliche Kulturimmanenz aufzusprengen und eine Goldschnitt-Klassik in die Luft zu jagen, die keine Antworten mehr gibt. Sie war und ist keine Wiederholung der anfänglichen Griechen, sondern Weimarer Prinzessinen-Klatsch oder Stoff für lungenkranke Sanatoriumskonversation." Pornschlegel rekonstruiert nun, was dahinter steckt, "wenn Heidegger 1950 an Hannah Arendt schreibt, er lerne mit der Zeit Goethe verstehen, wenn er ab 1955 seine Gedankengänge mit Goethemaximen schmückt und kein einziges Wort mehr über seine früheren Verurteilungen verliert, also kein Wort mehr zu den Versuchen, 'Kultur' und 'Bildung' zu verabschieden". Einerseits fällt diese Umorientierung exakt zusammen mit Heideggers eigener 'politischer Zäsur', dem Wechsel von "kulturrevolutionäre(r) Aufbruchsstimmung [...] (zu) trotzig-gelassene(r) Verwindung desselben 'Aufbruchs'": "Die Weimarer Stunde schlägt in Todtnauberg genau dann, wenn Deutschland, wie zu seligen Xenienzeiten, als souveräne Nation wieder einmal verschwunden ist, nur vorhanden in den heilig stillen Herzensräumen seiner Dichtung."
Ein 'deutsches' (somit nicht nur: Heideggerisches) Problem ergibt sich deshalb, weil es einen Zusammenhang zwischen der Konzeption des Goetheschen "Weltbürgertums", der Konzeption von "Humanität" und "Kultur" und dem abstrakt-verherrlichenden antisemitischen Deutsch-Nationalismus gibt. Anders gesagt: das Heideggersche Problem ist ein deutsches Problem - und Goethe ist nicht die Lösung. Der um 1800 entstandene deutsche Kulturnationalismus fungiert "zugleich als Ersatz und Transzendenz einer territorial konstituierten Staatsnation" und weist der Figur des Dichters als Repräsentant eines spirituellen Imperiums genau die Rolle zu, die Hölderlin ab etwa 1910 bekommt. Die Problematik einer kultisch-religiösen Aufladung eines geistigen, kulturellen Bezugssystems jenseits der Niederungen der profanen Politik entsteht mit Schillers, mit Goethes "Hilfe" um 1800. Die "Kultur", und zwar die von Goethe und Schiller, war "insgeheim je schon kultisch aufgeladen [...]. Es saß nämlich ein reichstheologischer Zwerg in ihr, der die Deutschen, aufgrund der translato imperii von 1800, zu den unvordenklichen Trägern der religio genau dieses Reiches, zu geistigen Weltbeherrschern bestimmt hatte. Und er hatte sie eben nicht zu einem Volk werden lassen, das sich die res publica zu Eigen gemacht und sich durch das politische Handeln seiner Mitglieder definiert hätte." Das Weltbürgertum, das Goethe entwirft, sein supra-nationaler Kosmos etwa in den "Wanderjahren" schließt die moderne Staatlichkeit mit Parteibildung und Mehrheitsverhältnissen aus. "[D]ie 'Cultur'- und Bildungs-Räume der deutschen Dichtung [waren] seit 1800 immer auch dazu da [...], den Traum von der Wiederkehr des alten Reiches und seiner über-staatlichen Einheit - ob Welt, Abendland oder Europa - zu bewahren und weiterzutragen, kurz, [...] die deutsche Dichtung [war] - neben der Philosophie - stets auch die Erbin dieser imperialen Ideologie [...]. Humanität und Interesse an der politischen Neu-Ordnung Deutschlands schlossen sich gegenseitig aus. 'Jeder verrichte sein Amt, jeder tue seine Pflicht', beschied Goethe den Revolutionären."
Die nach 1945 stattfindende eilige Besinnung der Deutschen auf die Humanität, Bildung, Kultur und das Weltbürgertum "unserer Klassiker" funktioniert nicht und niemals. Sie ignoriert den inneren Zusammenhang zwischen Kulturnationalismus und kultischer Bestimmung der Nation. "Der kultische Nationalismus nach 1910 wird [...] als die Wiederkehr des seinerzeit in die Kultur Verdrängten lesbar, als Wiederkehr genau jener das Welt-Reich tragenden Religion nämlich, die in Bildung und Wissenschaft vorübergehend ausgelagert worden war und die dann im schlechthin unübersetzbaren, deutschen Präfix "Welt-" Karriere machte: als Weltliteratur, Weltgeschichte, Weltstadt, Weltgeist." 'Welt' aber, dieser Goethesche Tick (H.J.Schrimpf), ist "nur ein anderer Name für das in Geschichte, Kulturentwicklung, zuletzt dann in die Abfolge der Klassenkämpfe übertragene eine Welt-Reich, für die neue Ökumene, die vornehmlich den Deutschen zu denken und zu dichten aufgegeben ist, jenseits aller Politik. 'Welt' war [...] nur ein anderer Name [...] für die deutsche Unfähigkeit, eine etwas beschränktere territoriale Souveränität und moderne politische Institutionen auszubilden."
Der Aufsatz von Pornschlegel ist deshalb wichtig, weil er nicht davor zurückschreckt, der eigenen wissenschaftlichen Arbeit einen im guten Sinne "aktuellen" Sinn zu geben. Mit der kulturphilosophischen Einordnung von Goethe als deutsches Emblem mischt er sich in den Prozess einer öffentlichen Meinungsbildung vehement ein: "Dass die a-politische Humanitätskultur und der neo-mythologische Seinskult zwei Seiten ein und derselben Weigerung waren, das Reich und seine Verheißung zu verabschieden, dass beide dazu beigetragen haben, dass die politischen deutschen Wirren derart unzivilisiert ausfielen, wie sie zuletzt ausgefallen sind, wäre also die schwierige, andere Lektion. Sie ist zwar seit Erich Auerbachs Bemerkungen zu Goethe nicht sonderlich neu, dennoch aber wert, wiederholt zu werden. Denn beide, Humanitätskultur und Seinskult, klammern den institutionalisierten Streit um die Macht aus ihrer Welt aus."
Sein Plädoyer lautet, an den französischen Goetheforscher Jean-Pierre Lefebvre anschließend, auf einen historisch distanzierten, entmystifizierten und interessierten Umgang mit Goethe - und zwar nicht deshalb, weil der historische Goethe als politische Person irgendwie Dreck am Stecken hat (siehe Reinhardts Beitrag zu D. Wilson).
Pornschlegels Beitrag formuliert einen Standard historischer Reflexion, den die anderen Beiträge nicht erreichen und meine Empfehlung geht dahin, seinen Beitrag als argumentatives Zentrum des Sammelbandes zu begreifen. Deutlich wird mit diesem Beitrag: es gibt keinen "eigentlichen" Goethe jenseits von Vereinnahmungen, auf den man sich als FachwissenschaftlerIn heute beziehen könnte. Dies wird - allerdings auf etwas andere Weise - auch bei Eckhard Henscheid deutlich, dessen Interesse einerseits dem unvollkommenen Goethe gilt und dessen "Spielereien" mit Goethes Person und Werk von Sven Hanuschek dargestellt werden.
Goethe hat als Name und Werk einen fragwürdigen Status in der deutschen Geschichte und (immer wieder in der) Gegenwart, der durch Pornschlegels Beitrag präzise herausgearbeitet wird und durch die Ergebnisse der übrigen Beiträge direkt und indirekt unterstützt wird.
Pornschlegel macht gleichzeitig deutlich, warum es sich für Fachwissenschaftler lohnt, um anderes als um diesen fragwürdigen Status zu streiten. Und damit komme ich zur eigentlichen Konzeption des Bandes, die aus der Umschlagabbildung ebenso herauszusehen ist wie aus dem Vorwort der Herausgeber herauszulesen.
Die Herausgeber Karl Eibl und Bernd Scheffer betonen im Vorwort, die Auswahl der Beiträge erhebe keinen Anspruch "weder auf Systematik noch gar auf Vollständigkeit". Die Beiträge sind auf den ersten Blick tatsächlich sehr heterogen, was den Blickwinkel der Auseinandersetzung und Darstellung angeht. Aber geht es den Herausgebern wirklich um einen losen historischen Überblick über einige beliebige kritische Stimmen zu Goethes Person und Werk?
Mit dem Verweis auf die unvollständige Nicht-Systematik, durch die scheinbare Heterogenität der Beiträge unterstützt, soll deutlich werden: Es gibt viele verschiedene Versuche, Goethe (den Einen) zu kritisieren. Dabei geht es nicht um Goethe, "es geht um den Streit um Goethe, um die Geltung eines noch immer als klassisch eingestuften Nationalautors und den Umgang mit ihm." Die fragwürdige Frage nach der Geltung von Goethe als "Nationalautor" wird auf eine Weise angesprochen, als besäße sie nicht nur aktuelle Relevanz, sondern als könne sie unter Umständen auch bejahend beantwortet werden. Der Verweis auf das Niveau der Kritiker folgt: "Goethes Kritiker, wie sie in diesem Band versammelt sind, markieren Positionen des Streits um Goethe. Deshalb konnten wir die schnellen Verurteiler ebenso wenig brauchen wie die blinden Verehrer." Signalisiert wird: Wir haben es hier mit anspruchsvoller Kritik zu tun. Da jedoch diese "Ansprüche" an die Kritik an Goethe nicht genauer expliziert werden - die Herausgeber stellen sich, man glaubt es kaum, ein "Sowohl-Als-Auch, [...] [ein] Einerseits-Andererseits, [...] ein Ja-aber oder [...] Nein-aber" vor -, sieht sich die Leserin einerseits der willkürlichen Auswahl der Kritiker und andererseits der jeweiligen Darstellung durch die Autoren der Beiträge ausgeliefert. Das Renommée der öffentlich veranstalteten Ringvorlesung trägt dann zur Normbildung bei. So suggeriert der Band: Dies sind die relevanten Positionen des Streits um Goethe. Damit lässt sich der Verweis auf die "Nichtsystematik" getrost als rhetorische Geste verbuchen.
Vor allem aber wird versucht, einen letztlich emotionalen Umgang mit Goethe zu institutionalisieren: "Wichtig" waren den Herausgebern die "'Wohlwollenden', die gleichwohl ihr Unbehagen nicht unterdrücken konnten, und die 'Mißwollenden', die gleichwohl sich zum Respekt gezwungen sahen." Differenzierte Emotionalität als das gemeinsame Stichwort, unter dem Kritiker versammelt werden? Diese Kategorie lässt sich - wenn kritisch darstellbar - in ihren Aussagen jedoch letztlich nicht kritisieren; Emotionen sind bekanntlich nicht kritisierbar. Im Vorwort wird sie zum Maßstab der Auswahl der Beiträge gemacht. In einem Kampf Mann gegen Mann - Kritiker gegen Goethe. Leider haben sich einige Autoren tatsächlich auf diesen fragwürdigen argumentativen Rahmen eingelassen, anstatt die doppelte Ebene der Auseinandersetzung - einerseits der Kritiker, der sich mit Goethe auseinandersetzt, zweitens: der Autor des Beitrags, der sich wiederum mit der Auseinandersetzung des Kritikers auseinandersetzt - genau zu reflektieren.
Hans-Edwin Friedrich beginnt seinen Beitrag zu Arno Schmidt mit einem humoristischen Gestus, der Schmidt als unbeugsamen Gallier im Kampf gegen eine übermächtige Schar von Goethebefürwortern auftreten lässt - ein kleines, witzig-spitzfindiges Asterixmännchen "von beeindruckender Chuzpe", der gegen die drögen Goethekultiker des Nachkriegsdeutschlands kämpft und sich mit der Abwendung von Goethe seine eigene "Geburtsurkunde des Schriftstellers Schmidt konstruiert". Der humoristische Gestus lässt sich aber weder von der Sachlage (siehe Pornschlegel) noch der Darstellung her rechtfertigen. Friedrichs distanziert-humoristischer Gestus löst sich im Verlauf seiner Darstellung in Nichts auf. Stattdessen freut er sich mit dem Leser darüber, dass Arno Schmidt in seinen späteren Jahren zu einer "Klärung" seines Verhältnisses zu Goethe findet. Diese "Klärung" besteht im wesentlichen darin, die literarische Größe Goethes trotz ihrer vorher kritisierten "Weltflucht" anzuerkennen und für sich als kanonisierender Schriftsteller Wege zu finden, den gleichen Rang einzufordern und zu erreichen. "Differenzpunkte (werden) eingeebnet zu Meinungsverschiedenheiten zweier Gleichgesinnter" - eine späte Versöhnung findet trotz aller Vorbehalte statt. Friedrich nimmt als Wissenschaftler eine gönnerhafte Rolle ein, der die Kritik eines aufbegehrenden und ehrgeizigen Jungschriftstellers darstellt, der mit den Jahren einen Weg findet, seinen Frieden mit dem großen Meister zu machen. Wissenschaftler als gönnerhafte Besserwisser, die das Konzept Goethes literarischer Größe (und alles was damit gesellschaftlich zusammenhängt) mit keinem Wort hinterfragen?
Genau dies ist der Knackpunkt der gesamten Auseinandersetzung. Wie geht man mit Goethe um? heißt nicht nur: wie ist da jemand umgegangen? sondern auch: wie gehe ich, der (Literatur)wissenschaftler, nun wiederum damit um? Dass es nach dem Willen der Herausgeber dabei letztlich um die Festigung des Goetheschen Denkmals geht und die Kritik an Goethe so eine genaue Funktion bekommt, wird schon durch die Umschlagabbildung sichtbar:
Dort finden sich nicht etwa Abbildungen der Kritiker, sondern der Meister selbst. Wir sehen den späten Goethe grauhaarig, ernsten Blickes als gut ausgeleuchtete Person in einem dunklen Zimmer vor uns. Seine Arme sind hinter dem Rücken verborgen, er ist mit Hausmantel und Schal bekleidet, aufrecht und frontal steht er da und blickt uns an. Sein Kopf ist leicht nach rechts gedreht, so dass sein Blick, durch die leichte Drehung des Kopfes verursacht, aus den Augenwinkeln skeptisch und prüfend auf den Betrachter trifft. Außerdem bekommt dadurch Goethes Antlitz gewissermaßen Profil. - Hinter dem stehenden Goethe befindet sich an der rückwärtigen Wand des Raumes ein großer Holzrahmen. Dieser umrahmt aus dem Bildhintergrund Portrait und Büste des Mannes, der de facto einige Schritte davor, lebendig, im Zimmer steht: noch nicht im Rahmen und dennoch gerahmt.
Um diesen Mann geht es: würdig, abwartend wirkt Goethe, alt, aber in tadelloser klassisch-dynamischer Haltung mit Standbein und Spielbein. Die Darstellung strotzt aufgrund dieser Details vor Vitalität, der Titel des Gemäldes: "Goethe im Arbeitszimmer, seinem Schreiber John diktierend", von 1829/31 weist zusätzlich darauf hin. Geistige Schaffenskraft, Produktivität bis ins hohe Alter, das ist Goethe - als Mensch, als Mann, als Persönlichkeit. Wir sehen Goethe vor uns - und nun kommen die Kritiker.
Der Titel und die Umschlagabbildung geben die Richtung vor: hier wird zwar mit "nein, aber" und "sowohl-als-auch" operiert. Letztlich jedoch rennen namenlose Scharen gegen Einen, der sehenden Auges unerschütterlich steht und die Kritik aushält. Wie lautet der letzte Satz des Sammelbandes so schön? "[...] Goethe hält es aus". Unser Goethe, dieses Bild von einem Mann, es bleibt trotz aller Kritiker.
Wie gesagt: ein Band, mit dem Goethepolitik betrieben wird.

Zu diesem Buch
Karl Eibl / Bernd Scheffer (Hg.): Goethes Kritiker. Paderborn: mentis 2001. 217 S. Kartoniert. EUR 36,00. ISBN: 3-89785-143-1 findet sich im Internet die große Rezension von Franka Marquardt, 'Wohl-' und 'Misswollen'. Goethe-Kritiken von Georg Christoph Lichtenberg bis W. Daniel Wilson, die HIER nachzulesen ist.
Den Klappentextt des Werkes von Eibl und Scheffer lesen Sie HIER:
Vom ersten großen Erfolg, dem Werther, bis in die Gegenwart ist Goethe ein umstrittener Autor geblieben. Zunächst war er den Aufklärern ein Dorn im Auge, dann den Frommen, schließlich linken wie rechten Wortführern politisch engagierter Literatur. Aus alledem floß schon zu seinen Lebzeiten das Urteil zusammen, daß Goethe ein Wüstling, ein Höfling, ein undeutscher Diener des Zeitgeschmacks sei. Das Spektrum der Kritiker, das dieser Band enthält, reicht von den Goethe-Zeitgenossen Lichtenberg, Novalis, Kleist, Heine, Varnhagen über Fontane, Thomas Mann, Martin Heidegger und Arno Schmidt bis zu Hans Blumenberg, Eckhard Henscheid und W. Daniel Wilson. Diese Namen repräsentieren nicht die Schmähkritik, sondern die ernsthafte Bemühung um kritische Aneignung dieses Autors, der es auch seinen Verehrern nicht immer leicht macht.
 


Weiteres, das inhaltlich dazugehört:
Faber, Richard: Der Tasso-Mythos. Eine Goethe-Kritik
Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg 1999, ISBN 3826017463, broschiert, 400 Seiten, 34,77 EUR
Zum Inhalt dieser Goethekritik HIER: http://www.perlentaucher.de/buch/1514.html

Fambach, Oscar: Goethe und seine Kritiker. Die wesentlichen Rezensionen aus der periodischen Literatur seiner Zeit, begleitet von Goethes eigenen und seiner Freunde Äußerungen zu deren Gehalt. In Einzeldarstellungen, mit einem Anhang: Bibliographie der Goethe-Kritik bis zu Goethes Tod. Düsseldorf 1953


Zusätze dazu (August 2009):
Günter B. Merkel, Goethe ungeschminkt, Vernichtendes zu Werk und Charakter eines Gecken, SWP-Buchverlag Wilhelmsfeld, ohne Jahr

Drei Zitate über Goethe aus diesem Buch:
S. 80: Was ich erfuhr, hat mir den Charakter dieses aufgeblasenen Gecken noch um ein gutes Teil ekelhafter und verächtlicher gemacht. (Friedrich Heinrich Jacobi)
S. 86: Goethe ist der Montblan unserer Literatur, denn keinen frostigeren Gesellen gibt es auf Gottes Erdboden. Sein Herz ist von einer Eiskruste umgeben, in der er seine Feindbilder über Jahrzehnte einfrieren könnte. (Jean Paul)
S. 90: "Wenn Goethe die Empfindung seines Herzens besingt, dann ist die beabsichtigte Wirkung eiskalt kalkuliert (Rahel Varnhagen)


Last not least:
Tilmann Jens, Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift, Patmos Düsseldorf, 5. Auflage, 2009

Der Name Tilmann Jens wird oben schon nicht weniger als siebenmal (!) genannt: erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens, sechstens und siebtens!
Drei weitere Zitate über Goethe noch aus diesem Buch:
S. 54: Dir ward ein hoher Geist, hast du je die Niedrigkeit beschämt?
Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du je das Recht verteidigt?
Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst nur immer dein eigner Wächter. (Ludwig Börne 1830)
S. 92: Goethe ist nicht bestimmt, das Wohltätige, was herzliche Verbindung geben kann, sich zu eigen zu machen. Ich beneide auch seine einsamen Stunden nicht, denn er muß doch manchmal eine dunkle Ahndung davon haben, daß es nicht gut ist, daß der Mensch allein stehe. Ich habe auch keine Sehnsucht nach seiner Nähe; mir ist gottlob! die Welt noch nicht wieder so eng gewesen als in seinen immern! (Ernestine Voss an Charlotte Schiller 1805)
S. 112: "Liebe hat ihm immer gefehlt... Der wahre Grund dazu ist doch wohl das früh in ihm waltende schaffende Genie und die Phantasie gewesen. Wo sich die Natur einen solchen
eigenen und inneren Weg bahnt, da wird es unmöglich, sich einem anderen Wesen in der Wirklichkeit uneigennützig hinzugeben, und ohne das ist keine Liebe denkbar... Ich glaube nicht, daß außer den Stunden und Zeiten des glücklichen Hervorbringens Goethe eigentlich glücklich und reich in sich beschäftigt ist. (Wilhelm von Humboldt an seine Frau 1819)

Im Mai 2020 kam noch dazu als Tipp von Pfr. i.R. Walter Sohn (aus Hemer-Brockhausen) ein Text von Tanja Stern (zuletzt aufgerufen am 12.5.2020):
Warum ich Goethe hasse
Er war der Prototyp des arrivierten, von Speichelleckern umschleimten Erfolgsautors. Doch nicht nur die Mitwelt, auch die Nachwelt erhob Johann Wolfgang von Goethe  zum größten Dichter, der je gelebt hat. Warum gerade ihn? An seinem Werk allein kann es nicht liegen. Eher an dessen Repräsentanz. 
Ist doch sonnenklar, warum ich Goethe hasse: Er ist der Prototyp des arrivierten, verwöhnten, vollgefressenen Erfolgsliteraten. Finanziert von der politischen Macht, umschleimt und göttergleich verehrt vom kulturbeflissenen Spießertum und egomanisch alles eigenständige Leben und Blühen um sich erstickend. Als Autor weit überschätzt und als Mensch – sagen wir es offen – doch ein ziemliches Schwein.
Die Frage ist nur, warum stehe ich mit dieser Ansicht so allein? Auf der ZDF-Liste der „Größten Deutschen“, die 2003 im Rahmen einer Mitmach-Show gekürt worden sind, rangiert Goethe selbstredend unter den ersten Zehn, während Schiller abgeschlagen auf Platz 68 gelandet ist – weit hinter Karl May, weit hinter Heino und meilenweit hinter Dieter Bohlen. Wie ist es möglich, dass die Deutschen so wählen – also jetzt nicht in Bezug auf Heino und Bohlen, sondern in Bezug auf Goethe und Schiller? [...]
[...]
[...]
In diesem Sinne: Fuck you Göhte!

Der gesamte Text ohne die Auslassungen direkt HIER:
=> 
https://monatsblatt.tanja-stern.de/texte/literatur/15-warum-ich-goethe-hasse.html

Und das ist ein schönes Schlusswort hier:
Fack ju Göhte!
 

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