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[Zuerst veröffentlicht in: "VON DORT WIRD ER KOMMEN, ZU RICHTEN...",
Dieser Blumhardt-Aufsatz als PDF neuerdings auch hier.
Der Aufbau des Vortrags mit Wegweiser:
1. Hinführungen und Zugänge zum Thema: Aufzeigen des Problemhorizonts
2. "Sein wird die ganze Welt" - Bemerkungen zur heilsuniversalistischen Verkündigung des jüngeren Blumhardt bis Mitte der neunziger Jahre: Vatererbe und Vätererbe
3. "Ihr Menschen seid Gottes" - Zu Christoph Blumhardts Hinwendung zum Sozialismus in den Jahren 1896 bis 1906
(1.) Zum "Antwortschreiben" von 1899
(2.) Zum Eugster-Briefwechsel in den Jahren 1899 bis 1906
(3.) Zum Briefwechsel mit Richard Wilhelm
4. Wirken in der Stille - Zu Christoph Blumhardts 'Theologie der Krisis' in seiner Spätzeit (1906 bis 1919)
(1.) Zum Wirken in der Stille
(2.) Zur Krisis in der Spätzeit
5."Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn und weiter" - Zu Blumhardts Nachwirkungen auf Hermann Kutter, Leonhard Ragaz sowie Karl Barth und Eduard Thurneysen
(1.) Zu Kutter und Ragaz
(2.) Zu Barth/Thurneysen und Ragaz
6. "...ewig ausgemacht..." - Einige resümierende Bemerkungen zur Größe und zur Grenze des Blumhardtschen Heilsuniversalismus
Bedeutung einiger hier genannter theologischer Fachbegriffe
1. Hinführungen und Zugänge zum Thema: Aufzeigen des Problemhorizonts Wenn bei dieser TagungAnm.1 unter dem Gesichtspunkt 'Kirche und soziale Frage im 19.Jahrhundert' Beiträge aus der württembergischen Geschichte erörtert werden, dann kommt der eigentümlich faszinierenden Gestalt eines Christoph Blumhardt (1842-1919), Sohn und Nachfolger des begnadeten Möttlinger und Bad Boller Pfarrers und Seelsorgers Johann Christoph Blumhardt (1805-1880), besondere Aufmerksamkeit zu. So wie Vater Blumhardt in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gezogen wurde durch die wundersamen Möttlinger Ereignisse bei der 'Dämonenaustreibung' jener Gottliebin Dittus und der da sich anschließenden Erweckungsbewegung, wobei der ältere Blumhardt bekannt wurde als begehrter, höchst wirksamer, aber teilweise auch kritisierter Seelsorger, so gab es auch beim jüngeren Blumhardt eine einschneidende biographische Wende, die in der Öffentlichkeit als sehr spektakulär empfunden wurde, die stark kritisiert und beargwöhnt, aber teilweise auch maßlos bewundert wurde, und die ihn u.a. die endgültige Aberkennung der Pfarrerrechte kostete.
Gemeint ist, was hier am Ort, in Göppingen, just zum Jahrhundert-Wechsel passierte, als Christoph Blumhardt 1899 der hiesigen sozialdemokratischen Partei beitrat, sich als Sozialist bekannte und dann - 1900 gewählt - in der Zeit von 1901 bis 1906 im Stuttgarter Landtag sich für die Ziele der Arbeiterbewegung engagierte.
Um gleich beim 'genius loci' zu bleiben: Wir denken hier im Oetinger-Haus über Christoph Blumhardt nach. Da führt es nicht vom Thema ab, wenn man beiläufig daran erinnert, daß 1980 Gotthold Müller, ein guter Kenner des württembergischen Pietismus, vor dem ehrwürdigen Auditorium der württembergischen Landessynode in einem Vortrag Stellung bezogen hat zu dem dort behandelten, kirchenpolitisch brisanten Thema 'Kirche und Sozialismus'. "Sozialistische Motive in der württembergischen evangelischen Kirchengeschichte", so lautete der Titel des Vortrags, der im Sammelband "Kirche und Sozialismus" auch gedruckt vorliegtAnm.2
Müller schlägt da einen großen Bogen von den grandiosen chiliastischen Sozialutopien eines Friedrich Christoph Oetinger im 18. Jahrhundert bis hin zu unserem Christoph (Friedrich) Blumhardt und seinem Sozialismus auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Nun haben ja die kühnen 'großen Bögen', die man schlägt, in der Kirchengeschichtsbetrachtung, sicherlich ihre eigenen Probleme (zumal in einem solchen Vortrag wie dem Müllers mit offenbar auch kirchenpolitischer Abzweckung). In Blumhardts Werk jedenfalls erscheint Oetingers Name selten, und eine Berufung auf die ältere Pietismusgeschichte Württembergs kommt bei ihm nur an einigen wenigen Stellen vor. Aber innere theologische, näherhin: eschatologische Strukturanalogien sind bei den beiden württembergischen Reich-Gottes-Theologen Oetinger und Blumhardt in der Tat unverkennbar, namentlich, was die Bedeutung der universalen endzeitlichen Hoffnung für diese Erde anlangt und - aufs engste damit verbunden - die von beiden stärkstens betonte Wiederbringung aller Dinge am Ende der Zeiten. Von letzterer her betrachtet, gibt es in Württemberg tatsächlich so etwas wie den ''linken Flügel des Pietismus', einen vom Halleschen Pietismus abweichenden kreativen Traditionsstrang von universalistisch ausgerichteten Reich-Gottes-Theologen, eine Linie, die von Grundanschauungen Speners über Bengel, Oetinger, Philipp Matthäus und Michael Hahn bis hin zu Blumhardt Vater und Sohn zu verfolgen ist, wo im Zeichen des Reiches Gottes die heilsgeschichtliche Entwicklung auf die Erfüllung der 'Hoffnung besserer Zeiten' (das ist Speners diesbezüglicher Grundbegriff) zuläuft: auf das Reich Gottes auf Erden hin und - durch Krisen und schreckliche Gottesgerichte hindurch - auf die schließliche Apokatastasis panton zu, die als Harmonie von Mensch, Gott und Welt das 'happy end' darstellt. Dies hier Umrissene habe ich in meiner Monographie "Die 'Wiederbringung aller Dinge' im württembergischen Pietismus"Anm.3 ausführlich aufzuzeigen versucht.
Damit sind wir dicht bei unserer Themenformulierung, wo es heißt: 'Eschatologischer Universalismus und Engagement für den Sozialismus', und wo darübersteht: "...bebel- und auch bibelfest...". Wie paßt nun das zusammen: August Bebel und die Bibel, zumal doch Bebel selbst das Verhältnis von Christentum und Sozialismus bekanntlich als das von Wasser und Feuer bestimmte? Und wie paßt das zusammen: biblisch begründeter Universalismus des Heils und Sozialismus?
Einen ersten erhellenden Hinweis dazu kann man sogar aus dem Fernsehen erhalten: im Jahr 1986 strahlte das ZDF einen Dokumentarfilm über den Sozialismus Blumhardts des Jüngeren und die davon ausgehenden Wirkungen aus. Und in diesem Film von Gottfried Edel mit dem Titel "Aufbruch zum Reich Gottes" erklang im Vorspann bezeichnenderweise das Blumhardtsche Erweckungslied: 'Daß Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht. Sein wird die ganze Welt', immer im Wechsel mit dem anderen Siegeslied jener Zeit, dem Lied der Genossen: 'Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht', so daß sich da beide Melodien gleichsam vermischten: zwei Melodien, die ja stilmäßig durchaus nicht sehr weit auseinander sind, und auch zwei Liedtexte, die gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, sind doch beide Lieder vom gleichen Pathos getragen, vom Pathos des 'Vorwärts!', ' Vorwärts, auf ein großes und allumfassendes Ziel hin!'
Um den Ausdruck "...bebel- und auch bibelfest..." vollends zu klären, kommen wir wieder nach Göppingen. Es ist ein Zitat aus einem Wahltraktat bzw. Wahlplakat jener Zeit. Auf diesem steht in großen Lettern: "Zur Landtagswahl in Göppingen anno 1900." Und da sieht man die Konterfeis der vier hiesigen damaligen sozialdemokratischen Kandidaten, wobei die Fotos 'eingebaut' sind in eine werbewirksame politische Karikatur. Der Kandidat Genosse Blumhardt ist auf der linken Seite zu sehen, umrankt von Jakobinermützen und einem in die Höhe gehaltenen Schild mit der Jahreszahl "1789". Jeder der vier Kandidaten wird da mit einem gereimten Achtzeiler vorgestellt. Zu Christoph Blumhardt liest man Folgendes:
"Seitlich von ihm aber steht / Pfarrer Blumhardt, wie ihr seht. / Und es ist sein Manifest: / Bebel- und auch bibelfest. / Weil er keine 'Ordnungsstütze' / Trägt die Jakobinermütze / Hier der Mann auf seinem Bild / Mit dem feuerroten Schild."
Dies Plakat hat 80 Jahre später die SPD ein zweites Mal werbewirksam eingesetzt: es ist im Faksimile abgedruckt als Titelblatt zu einer 33-seitigen Dokumentation: "Christen in der Tradition der Arbeiterbewegung - Christen in der SPD (1830 - 1979)", herausgegeben vom Referat Kirchenfragen im SPD-ParteivorstandAnm.4.
Dieser Christoph Blumhardt eignet sich - seinem eigenen Willen diametral entgegengesetzt - vorzüglich für 'Traktate' und 'Plakate'. Er ist in derart plakativer Weise oft traktiert, ge- und mißbraucht worden: als Galionsfigur, um eine politische oder kirchenpolitische oder theologische Richtung zu stützen und zu legitimieren. Er eignet sich auch (wie sein Vater) ausgezeichnet als Kalenderzettelbeispiel und zur Hagiographie. So ist fast die gesamte wissenschaftliche Blumhardt-Literatur ein Ausdruck von (manchmal unkritischer) Bewunderung für diesen Mann und dessen Parteilichkeit und Vollmacht. "Ein Mann, der seiner Zeit voraus war", so oder ähnlich lauten die Überschriften der Arbeiten über den jüngeren Blumhardt. Und man könnte ihn mit Leichtigkeit für die Gegenwart - wie das ja theologisches Modespiel ist - 'aktuell' und 'relevant' machen: für rote, grüne, ökologische, evangelikal-kirchenkritische oder New-Age-Bewegungen. Aber genau das ist in diesem Vortrag nicht beabsichtigt. Für uns ist es 'relevant' genug, wenn neben der unbestreitbaren Größe und Faszinationskraft Blumhardts auch die fast nie wahrgenomme Grenze seiner eschatologischen Hoffnungsgedanken in den Blick tritt: daß er auch einer qualitativen Verflachung und Aushöhlung christlichen Hoffens Vorschub geleistet hat. So sei unser Thema auch als Frage zu verstehen: War Christoph Blumhardts Verkündigung wirklich nur so beispielhaft 'bibelfest', und war sein Sozialismus 'bebelfest'? Diesbezüglich ist auch von seinen Grenzen, die er hatte, Beträchtliches zu lernen, was für Theologie und Kirche 'aktuell' ist...
2. "Sein wird die ganze Welt" - Bemerkungen zur heilsuniversalistischen Verkündigung des jüngeren Blumhardt bis Mitte der neunziger Jahre: Vatererbe und Vätererbe Dieser Abschnitt stellt in sehr geraffter Form einiges Grundsätzliches zur Theologie und Verkündigung Christoph Blumhardts vor, wie sie sich bei ihm bis Mitte der neunziger Jahre, also vor seiner Hinwendung zum Sozialismus entwickelt hat. Dabei ist hier und bei jeder Beschäftigung mit Blumhardt das ein Hauptproblem, daß dieser in theologischer Hinsicht gleichsam als ein 'unregelmäßiges Verb' anzusehen ist. Zwar hat Blumhardt in beträchtlichem Maße als Theologe in die Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts hineingewirkt, aber paradoxerweise, ohne daß er selbst sich im strengen Sinn als 'Theologe' verstanden hat und ohne daß er mit theologischen Dingen so recht etwas zu tun haben wollte. Als einem vollmächtigen 'Charismatiker der Praxis' lag ihm seinem Wesen nach alles Theoretisieren und Systematisieren - in der Theologie und später dann entsprechend auch in der Politik - äußerst fern. Mehr noch: 'Dogma' und `System' waren ihm, der die Tübinger Universitätstheologie für sich mehr als schädliche Anfechtung erlebt hatte, geradezu Reizwörter, und allen Schulen und Richtungen der akademischen Theologie und deren Schulhäuptern stand er mit großer Skepsis und Reserve gegenüber.
Da ist es begreiflicherweise jetzt auch in der Darstellung nicht einfach, solch einem 'unregelmäßigen Verb', solch einem 'antitheologischen Theologen' mit stark charismatischem Einschlag, auf engem Raum in seinen Grundintentionen gerecht zu werden, einem Mann, der kein einziges 'richtiges' theologisches Buch geschrieben hat, sondern dessen gedrucktes Werk aus - äußerlich gesehen - literarisch sehr bescheidenen Gelegenheitsäußerungen besteht: aus Andachten, Predigten, Ansprachen und Briefen.Anm.5
Dringt man tiefer in diese Gelegenheitsäußerungen ein, so stellt man fest, daß es - bei aller Vielfalt der Ausdrucksformen und Mannigfaltigkeit der Anlässe - durchaus so etwas wie die für Blumhardt charakteristische Glaubens- und Hoffnungswelt gibt, einen innerlich in Zusammenhang stehenden Kosmos von Gedankengängen und Überzeugungen, dem er sich durchgängig verpflichtet wußte und der für jede Äußerung gleichsam im Hintergrund stand. Bei allen verschiedenen Akzentsetzungen und inneren Entwicklungen im Laufe seines langen Wirkens ist dieses letzte Konstante und für Christoph Blumhardt Typische, das, worauf es ihm im Letzten ankam, stets wahrnehmbar, freilich in Blumhardts Sinn nicht als starres Kontinuum und feststehende Norm, sondern als lebendiges Gottesgeschehen im Rahmen von Gottes gnädigem Heilshandeln, als dessen Verkündiger sich Blumhardt berufen wußte. Diese Eigentümlichkeit seines Denkens beschrieb Blumhardt in späterer Zeit, in jenem stürmischen Jahr 1899, einmal treffend und sachgerecht so:
"Das ist der wahrhaftige Blumhardt, wie er leibt und lebt, ... ich bin immer meinen ganz gleichen Weg gegangen, und wenn man meint, ich habe Schwankungen durchgemacht, so ist das gar nicht wahr. Ich bin immer bloß aus als innerlich derselbe aus einer Schale heraus und wieder in eine andere Schale hineingekommen, um wieder diese Schale zu durchbrechen und wieder in eine andere Schale hineinzugehen, damit ich sei ein Verkünder des Evangeliums, ein Verkündiger des Abendmahls Gottes unter allen Menschen".Anm.6Bei aller eigenen Skepsis gegen Theologie und Systematisierungen hatte in der Tat Christoph Blumhardt eine eigene theologische 'Linie', die er verfolgte und der er treu blieb, und seine Hoffnungsgedanken haben sozusagen ihren eigenen inneren 'Kanon' und ihr beschreibbares systematisches Herzstück als Mitte der Verkündigung. Kurzum: "Blumhardt ist strikter Eschatologe"Anm.7 und wußte sich als solcher in den Dienst einer Verkündigung gerufen, die Gottes universales Reich herbeihofft und in der Gegenwart bereits in Fragmenten wahrnimmt, ein Reich, das nicht in Worten besteht, sondern sich im Erweis des Geistes und der Kraft zeigt. Dabei ist seine Verkündigung durchgängig am Motiv des Sieges Jesu orientiert und an Gottes Reich, das kommt, um die Welt heilsam zu verändern und zu vollenden, dieser Erde und dem Diesseits zugute, dieser Erde für deren Rettung und Veränderung zu kämpfen ist im Horizont des kommenden Gottesreiches.
Besser als alle theologische Beschreibung gibt ein einfaches Blumhardt-Lied, vom Vater gedichtet im Jahr 1852, als Christoph 10 Jahre alt war, die Grundintention und die Zielrichtung der Verkündigung der beiden Blumhardts an; es ist das bereits eingangs zitierte Erweckungslied, dessen erste und letzte Strophe wie folgt lautet:
"Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht; / Sein wird die ganze Welt. / Denn alles ist nach seines Todes Nacht / In seine Hand gestellt. / Nachdem am Kreuz Er ausgerungen, / Hat er zum Thron sich aufgeschwungen. / Ja, Jesus siegt!
...
Ja, Jesus siegt! Wir glauben es gewiss, / Und glaubend kämpfen wir. / Wie Du uns führst durch alle Finsternis / Wir folgen, Jesus, dir. / Denn alles muss sich vor dir beugen, / Bis auch der letzte Feind wird schweigen. / Ja, Jesus siegt."Anm.8Was in diesem Vortrag 'Blumhardtscher Heilsuniversalismus' genannt wird, kommt in diesen beiden Strophen in geradezu klassischer Weise zum Ausdruck: die 'Grundmelodie' schon des älteren Blumhardt, die für seine Leute seit den wunderbaren Möttlinger Ereignissen in den vierziger Jahren anzustimmen war, als damals in mächtiger Weise die Gewalt des Bösen und Dämonischen gebrochen wurde.
'Jesus ist Sieger!', das war der laute Ruf, unter dem der stärkste 'Dämon' aus der besessenen Katharina Dittus, Gottliebins Schwester, am Ende des 'Kampfes' ausgefahren warAnm.9, und in der darauffolgenden Möttlinger Buß- und Erweckungsbewegung war dieser Satz gleichsam Signum der Vollmacht und Motto-Wort: 'Jesus ist Sieger, Gottes Reich kommt!'
Man kann sagen, daß für den älteren Blumhardt dieser erkämpfte Durchbruch keineswegs bloß ein indviduelles Geschehen an einzelnen Kranken war: die dort gewonnene Überzeugung vom Sieger-Sein Jesu wurde von ihm als Angeld für Größeres und Universales angesehen, denn im Horizont des Sieger-Seins Jesu war für ihn Reich-Gottes-Geschehen für diese Welt im Anbruch, denn - so heißt es im wichtigsten Siegeslied der gesamten Möttlinger und Bad Boller Blumhardt-Bewegung -:
"Jesus ist der Siegesheld, / Der all seine Feind besieget. / Jesus ist`s, dem alle Welt / Bald zu seinen Füssen lieget. / Jesus ist`s, der kommt mit Pracht / Und zum Licht führt aus der Nacht".Anm.10Die beiden hier zitierten Lieder des älteren Blumhardt entsprechen sich ja textlich aufs engste; sie weisen in einzigartiger Weise - besser als lange theoretische Erörterungen das können - auf die Blumhardt-Art hin, auf den Quellort, die Grundtendenz, den Umfang und den Zielpunkt Blumhardtscher Hoffnung: Das Reich Gottes, das aktuell im Kommen ist, das ist für Blumhardt Vater und Sohn 'ewig ausgemacht', zielt auf diese Welt, wo durch Widerstände, Kämpfe und Gerichte hindurch die Gewalt des Bösen gebrochen wird, bis am Ende in der Vollendung 'alle Welt bald zu Jesu Füßen liegt', denn: 'daß Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht. Sein wird die ganze Welt.'
Das alte eschatologische Grundmuster des oben sog. 'linken Flügels' im württembergischen Pietismus, nämlich das universalistische Reich-Gottes-Denken in heilsgeschichtlicher Ausprägung, bei dem chiliastisches Gedankengut und das Plädoyer für die schließliche Apokatastasis eine große Rolle spielen, kam seit den Möttlinger Ereignissen gleichsam in einer authentischen Neuauflage unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts zum Zuge, freilich mit einigen wichtigen eigenständigen und von den Schwabenvätern im 18. Jahrhundert abweichenden Akzenten. So teilten beide Blumhardts nicht die Meinung ihrer Vorgänger, daß dem letzten Buch der Bibel hermeneutisch eine Sonderrolle zukommt, wodurch bei ihnen die streng heilsgeschichtliche Systematik des alten württembergischen Pietismus, das strenge chiliastische 'Fahrplandenken', aufgeweicht wurde. Und was das Wiederbringungsmotiv anlangt, hatte der ältere Blumhardt erheblich mit sich zu ringen gehabt, bevor er sich ab 1872 öffentlich dazu bekannte. All das habe ich an anderer Stelle, in "Pietismus und Neuzeit", Jahrgang 1983Anm.11, näher zu belegen versucht.
Solch ein Rekurs auf das Vatererbe und auch auf das Vätererbe ist unabdingbar, wenn man die - z. T. sehr vom älteren Blumhardt und erst recht von der davorliegenden pietistischen Tradition abweichende - Eigenständigkeit und das ganz Neue in Christoph Blumhardts Reich-Gottes-Verkündigung recht verstehen will und besonders: wenn man die Motive für seine spätere Parteinahme zugunsten der Arbeiterbewegung in der Tiefe begreifen will. Man kann wohl sagen, daß Blumhardt soz. den Kinderschuhen des Erweckungspietismus des 19. Jahrhunderts je länger, desto mehr entwachsen war; viele Äußerungen, in denen er sich kritisch mit dem Pietismus und der Erweckungsbewegung seiner Zeit auseinandersetzte, belegen das. Aber die Grundmelodie des Erweckungsliedes 'Jesus ist der Siegesheld' und das andere ebenfalls in seiner frühen Kindheit entstandene Lied 'Daß Jesus siegt', wurde von ihm weitergesungen oder anders gesagt: die für ihn geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung der Möttlinger Ereignisse, gaben seiner Verkündigung Prägung und Orientierung sein Leben lang. Wie keinem anderen Menschen wußte er, der mitten im Möttlinger 'Kampf' Geborene, sich seinem Vater verpflichtet, und jene Gottliebin Dittus, war ihm von Kindheit an in Möttlingen und ab 1852 in Bad Boll neben der Mutter die allernächste weibliche Bezugsperson.
Gleichwohl war es nicht Christoph Blumhardts Art, das Erbe des Vaters zu konservieren; er 'wucherte' mit ihm wie mit einem anvertrauten Pfund, in progressiver Weise und im Sinne jenes 'Vorwärts', das er bei seinem Vater kennengelernt hatte, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Sohn wie der Vater (ähnlich wie viele württembergischen Pietisten vor ihnen) mit 'revelatio continua' rechneten, mit fortschreitendem Offenbarwerden des Gnadenhandelns Gottes auf dieser Erde, so daß mit der Zeit kraft des heiligen Geistes man dem Reich Gottes innerlich und äußerlich näher käme. Von daher war eben vieles, was den Sohn vom Vater trennte, im Sinne des Sohnes zu interpretieren als innere Kontinuität zum Ererbten, ein Sachverhalt der zwischen Oetinger und Bengel, z. B. ganz ähnlich zu beobachten ist.
Jedenfalls war es für Blumhardt von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß er, der auserwählte Nachfolger des Vaters, von diesem am Sterbebett am 25. Februar 1880 gesegnet wurde mit den Worten: "Ich segne dich zum Siegen"Anm.12; auf dieses Segensvermächtnis kam der jüngere Blumhardt sehr oft zu sprechen, ebenso wie auf das bezeichnende andere Wort des sterbenden Vaters: "Der Herr wird seine milde Hand aufthun zur Barmherzigkeit über alle Völker"Anm.13 . Genau dies sollte der Sohn stets beim Wort nehmen, so sehr, daß - woran der Vater noch nicht denken konnte - August Bebel und Genossen mit dieser universalen Siegesverkündigung zu tun bekamen.
Der heutige Bonner Systematiker Gerhard Sauter beschreibt in seiner Blumhardt-Dissertation von 1962 dieses Vater-Sohn-Verhältnis zutreffend, wenn er zu Christoph Blumhardt ausführt:
"Sein Vater hatte den Satz: 'Jesus ist Sieger!' zum Zentrum seiner Predigt, gemacht. Chr. Blumhardt hatte ihn inhaltlich nur nachzusprechen. Aber er hatte ihn in seine Zeit hineinzusprechen, und dabei erwies sich die grundsätzliche, theologische Ausführung, die sein Vater dem Thema der Gottesherrschaft gegeben hatte, als Grenze, die zu überschreiten war. Dies galt ... nicht in Bezug auf die Sache, sondern im Blick auf die konkrete, aktuelle Zuspitzung ... des alten Themas".Anm.14 Und einen ganz wesentlichen Punkt im Blick auf solche Transzendierung nennt die gleiche Arbeit, wenn es da heißt: "Christoph Blumhardt zielt - weniger durch biblizistische Erwägungen gehemmt als sein Vater - deutlich auf eine Apokatastasis, eine 'Allversöhnung' als eschatologisches Ziel".Anm.15Ein guter Kenner und großer Bewunderer Christoph Blumhardts, nämlich Helmut Gollwitzer, ist es gewesen, der mich zunächst durch seine schriftlichen Arbeiten und dann durch persönliche Kontakte und Hilfestellungen auf die Tragweite des Blumhardtschen Apokatastasisgedankens aufmerksam gemacht hat. Daß dieser Gedanke für Blumhardts Verkündigung konstitutiv ist und eine Menge mit dessen Zugang zu sozialistischen Gedanken zu tun hat, geht indirekt und direkt auf Anregungen von Gollwitzer her zurück, der mir die Augen dafür öffnete, daß dieser Gesichtspunkt in der Blumhardt-Forschung nicht nur beiläufiges Interesse verdient.Anm.16
Immerhin war dieser Gedanke in der Blumhardtbewegung kein x-beliebiges Durchschnittstheologoumenon, wie man es heute z. T. sehen mag, wo es common sense zu sein scheint, daß das Endgericht ausgeblendet wird und alles nach dem Motto läuft: ' Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel, weil wir so brav sind'. Im Württemberg des vorigen und des 18. Jahrhunderts stand bei dem Plädoyer für die Allversöhnung Tieferes zur Debatte. Es war positives Signalwort den einen, und Reizwort den andern, ein Punkt, an dem sich die Geister schieden, die Geister der lutherischen und lutherisch-pietistisch geprägten Christen einerseits und andererseits der Christen, für die die spekulativ-chiliastische Sicht der Heilsgeschichte über alles ging und denen die Befürwortung der Wiederbringung in Württemberg "fast zu einem Schiboleth geworden ist"Anm.17, stand dieser Begriff doch für ein ganzes Programm, für einen Typus pietistischer Reich-Gottes-Erwartung. Ganz Entsprechendes ist übrigens - mutatis mutandis - bis heute zu beobachten, bei der theologischen Grundfrage inwiefern eine von Luther fortführende universalistische 'eschatologia gloriae' vertretbar ist.
Der ältere Blumhardt jedenfalls hatte gerade um diesen Fragenkreis noch leidenschaftlich gerungen und innerlich daran gelitten, und wenn sein Sohn diesbezüglich sehr viel forscher voranschritt, so sind doch alle seine Statements zu diesem Punkt von einer großen Leidenschaft geradezu durchzittert: Er wußte, daß er gerade diesbezüglich nicht das Gewöhnliche und den common sense zu verkünden hatte, sondern sein ihm aufgetragenes Evangelium. Dazu schreibt Eugen Jäckh, der Blumhardt-Biograph, ganz angemessen:
"Was im Vater Blumhardt ein in heißem Ringen erkämpfter Glaube war, das war im Sohne eine ruhige, klare, felsenfeste Gewißheit... Er wußte sich von Gott dazu berufen, das Evangelium zu verkündigen, das niemanden verdammt".Anm.18Wenn wir uns die Verkündigung des jüngeren Blumhardts schon vor Mitte der neunziger Jahre ansehen, stoßen wir auf Schritt und Tritt auf dieses sein Evangelium, das niemanden verdammt, auf die Überwindung von Gericht und Hölle durch das kommende Reich Gottes und auf schärfste Abrechnung mit den Kirchenlehren und Konfessionen, die mit Gottesstrafen Angst verbreiten und 'Scheidungen' unter den Menschen aufrichten. Ja, Blumhardts Kritik an der verfaßten Kirche, ihrem Dogmatismus und Konfessionalismus ist über weite Strecken aufs engste mit der Kritik am starren Dogma des Endgerichts verbunden, so als wäre mit dieser Lehre alles Böse, Intolerante und Trennende in die Kirchengeschichte hineingekommen, vor allem die pharisäische Verdammungssucht, die er immer wieder in diesem Zusammenhang anprangerte.Anm.19
Dagegen stellte er die neue Linie, die nach seiner Sicht mit seinem Vater in die
Kirchengeschichte gekommen ist; darüber äußerte sich Blumhardt am 16. Juli 1887
(an diesem Tage wäre der Vater 82 Jahre alt geworden) in einer Andacht in derart charakteristischen und für das Thema Heilsuniversalismus, Vater- und Vätererbe aufschlußreichen Weise, daß wir hier aus dieser Rede zwei längere Abschnitte zitieren:
"Was ihr heute als tägliches Brot von christlichen Gedanken esset...., das war in jenen Tagen, da mein Vater geboren wurde, nicht vorhanden. Auch die Gedanken des Reiches Gottes in dieser Art waren nicht vorhanden. Es waren wohl noch die Schwingungen von Bengel her, da man in etwas kleinlicher Weise auf die Zukunft Jesu Christi wartete - etwa im Jahr 1836 -, aber an die Sachen alle, wie sie jetzt auch die Christenheit bewegen, hat kaum jemand gedacht; namentlich an tatsächliche Wunder, an Krankenheilungen durch Gebet und Flehen... Das, was in meinem Vater glänzte als Gottestat, war vollständig neu"Anm.20, und geradezu etwas Prophetisches - so heißt es wenig später, wäre Johann Christoph Blumhardts Gebet um "eine neue Ausgießung des heiligen Geistes" gewesen, "denn daran hängt doch alles".Anm.21 Der Vater wird weiter als ein ausgezeichneter, vollmächtiger Mann Gottes geschildert, der jeglichen frommen Egoismus verhindert habe, und damit kommt diese Andacht zu einem überaus bemerkenswerten Schluß, wenn es da heißt:
"Deswegen wartete ein Mann wie unser seliger Vater auch am Ende der Welt nicht auf Fluch, sondern auf Segen, weil er den Mut hatte, aus Glauben zu leben, - wie er auch der erste war, der das Grausen vor dem Weltende weggenommen hat aus der Menschheit. Er ist der Mann, der am Ende der Zeiten gesandt ist, der Welt zu verkündigen, daß sie nicht auf Fluch, sondern auf Segen Gottes warten soll, - die Welt, auf die durch den Heiland der Segen Gottes niedergeflossen ist, darf nicht in Verdammung aufhören, sondern muß in Beseligung aufhören. Das ist aus Glauben geredet, - alles andere ist aus Unglauben oder aus Werken geredet. Die meisten Kirchen stellen Sätze auf, nach welchen man verloren geht, - das heiße ich aus Werken gerecht oder verdammt werden. Aber wir wollen im Glauben Taten tun, daß auch die Welt beseligt wird; denn der Herr unser Gott wandelte uns den Fluch in Segen, - nicht weil wir die Gerechten sind, sondern weil er der Gerechte ist; weil er uns lieb hat, kommt es endlich, endlich nach langem Harren dazu, daß die Kreatur sich noch beseligt fühlen darf".Anm.22In diesem Text sieht man gleichsam ins Innerste Blumhardtscher Hoffnung hinein, wie es sich dem Sohn darstellte: die Kontinuität zum Vater wird aufs stärkste betont, ist dieser doch der von Gott wunderbar Bevollmächtigte in der Endzeit, beauftragt das Neue zu bringen, das 'vollständig Neue', im Vergleich mit dem etwa die chiliastischen Berechnungen und Zukunftserwartungen einen Johann Albrecht Bengel mit seinem Jahr 1836 als Millenniumsbeginn unbedeutende 'kleine Brötchen' waren, und höchstens Vorabschattungen von dem Gewaltigen, was seit Möttlingen in die Kirchengeschichte hineinkam.Anm.23 Aber erst recht ist dieser Text für den Blumhardtschen Heilsuniversalismus von Interesse: der Sohn sah den Vater als den ersten in der Kirchengeschichte, der das Grausen vor dem Weltende aus der Welt schaffte, als eine prophetische Persönlichkeit der Endzeit, von Gott beauftragt, statt der falschen Kirchenlehren in Vollmacht auf die Wiederbringung aller hinzuweisen! An dieser Stelle ist für den jüngeren Blumhardt der status confessionis gegeben: allein auf der Seite der Wiederbringung ist Glauben, während die andere Seite dem Alten, dem Unglauben und der Werkerei verfallen ist, wobei sich bereits in diesem Text zeigt, daß solche Wiederbringungsüberzeugung für den jüngeren Blumhardt alles andere als ein 'sanftes Ruhekissen' ist; im Gegenteil: sie soll - so sah er es - gerade starker Motor sein und befähigen, im Glauben "Taten zu tun, daß auch die Welt beseligt wird". Ganz genauso hatten es viele pietistische 'Freunde der Wiederbringung' auch gesehen in seiner Heimat seit vielen Jahrzehnten, aber darauf, daß auch deren Trachten ganz darauf ging, 'das Grausen vor dem Weltende aus der Welt zu schaffen', erwähnte er nicht, sah er doch den alten Pietismus qualitativ kategorial davon geschieden, was in Johann Christoph Blumhardt offenbar wurde. Diese Beobachtung übrigens, daß andere Theologen der Tradition, wenn sie in seiner Verkündigung genannt werden, sehr oft dazu dienen, nur Kontrast und Negativfolie zu sein, vor dem das Möttlinger Geschehen an Glanz gewinnt, die kann man an vielen Stellen bei der Lektüre der Blumhardtschen Schriften machen.
Man könnte nun an Hunderten von Beispielen aufzeigen, wie stark der eben angedeutete Grundgedanke der Wiederbringung schon vor den neunziger Jahren Blumhardts Verkündigung Prägung und Orientierung verlieh. Pars pro toto sei hier ein zweiter überaus charakteristischer Text zitiert, der beispielhaft zeigt, in welcher Weise ihm die erwartete Wiederbringung aller Dinge positiv zum Motor des Wirkens wurde. Blumhardt führt am 1. Juni 1888 (an seinem eigenen 46. Geburtstag) für seine Hausgemeinde aus:
"... glaubt nicht, daß wir jetzt gleichsam am Ziel sind oder etwas haben, worin wir ruhig sein können; sondern es muß dieses neue Erbarmen über mich kommen und über mein Haus, über meine Kinder, über alle, die jetzt auch hier sich anschließen... [Wollte] man mich zum unglücklichsten Menschen machen und zum allerverzweifeltsten, dann soll man mich allein in den Himmel setzen... Will man mich aber recht glücklich machen, dann lasse man alle Leute in den Himmel hinein und mich zuletzt. Das, meine ich, sei vom Heiland so gemacht und so gewollt; es ist jetzt da wie ein neuer Gedanke, der in der Stille heraustreten muß, und das predigt auch die Weltgeschichte, und die ganze Entwicklung der Menschheit geht darauf hin, nämlich auf einen internationalen Himmel. Jetzt könnt ihr sagen, was ihr wollt, aber es darf nicht mehr deutsch sein und nicht mehr englisch und nicht mehr russisch sein, sondern international. - Das muß auch mein Haus repräsentieren. Dazu hat es der liebe Gott schon zeichenartig in den vierziger Jahren werden lassen ... So stehe ich in Verbindung mit einer Menge Leuten; wenn ich es sagen würde, mit wem ich alles in Verbindung stehe, da würden sie schon über mich herfallen und mir vorwerfen: der Blumhardt hat es ja mit den Ungläubigen! Ja, liebe Leute, ich habe es freilich mit den Ungläubigen, ich hab's mit der ganzen Welt, noch viel mehr als ihr wißt, und ich hoffe auch, daß ich es noch in viel größerem Umfang mit der ganzen Welt zu tun bekomme, ja ich bin stolz zu sagen: Ich bekomme es noch mit aller Welt zu tun! Ich will es noch mit den Muhammedanern und den Buddhisten zu tun haben, weil ich sie alle in den Himmel hineinkriegen möchte vor Gott... Ich will nicht hinauf in den Himmel, wenn andere Leute in die Hölle fallen. Es ist genug, daß sie Jahrtausende in die Hölle gefallen sind, jetzt müssen sie in den Himmel hinauf, und ich hoffe, daß der Zug hinauf noch so stark wird, daß wir sie noch aus der Hölle heraufziehen. Meint ihr, wir wollen sie darinnen liegen lassen? Das fällt mir nicht im Schlaf ein. Es werden die Kräfte des Reiches Gottes noch mit solcher Wucht kommen, daß die Zugkraft nach oben bis in die unterste Hölle dringt, und wer dann den Namen des Herrn anrufen wird, der soll errettet werden, mögen die Theologen streiten, solange sie wollen. Schließlich macht das Reich Gottes nicht die Theologie".Anm.24In diesem Text von 1888 zeigt sich besonders schön die Apokatatasishoffnung als antreibende und nach vorwärts transzendierende Kraft, und in dieser Erwartung eines 'internationalen Himmels' deutet sich auch schon an, wie sich dem jüngeren Blumhardt später die Melodie 'Daß Jesus siegt' mit der der 'Internationale' aus seiner Perspektive verband. Freilich: Aufklärerische Bagatellisierung der Hölle, als ginge es nur um ein Gedankenspiel, lag Blumhardt in seinem biblischen Realismus fern, das zeigt dieser Text ebenso, schlechthinnige Leugnung von göttlichen Gerichten war überhaupt nicht seine Sache, aber - hier voll konform mit der alten württembergisch-pietistischen Tradition -: die Gerichte stehen ganz im Dienst des guten, herrlichen Endes, auf das sie hinzielen.
Bezeichnend ist, daß am Abend seines Geburtstags 1888 Blumhardt seiner Hausgemeinde einschärfte, die an jenem Tag gehörten Dinge für sich zu behalten:
"... die, die nachgeschrieben haben, die dürfen es nicht abschreiben! Es gehört nicht vor fremde Ohren; ich habe euch als meine Freunde genommen und mein Herz ausgeschüttet. Vermehrt nicht die Feindschaft durch unvorsichtiges Verbreiten solcher Worte! Ihr spürt, daß ich aus dem Geist Gottes heraus rede, und nicht wie ein Mensch, der sich wichtig machen will... Das Bad Boll kann mir heute aufhören, aber was der Herr mir gezeigt hat, innerlich nach der Schrift, was werden muß zum Heil der Menschen, das ist's, was mich täglich bis in den letzten Blutstropfen hinein erschüttert und bewegt, mich schwach macht, aber auch stark macht".Anm.25Auch beim jüngeren Blumhardt lag also ein leidenschaftliches letztes Ringen um das Wiederbringungsproblem vor, das nicht nur seinen Kopf beanspruchte, und dahin gehört z. B. auch, daß er in ähnlicher Vertraulichkeit seiner Hausgemeinde wenig später im gleichen Jahr sagen konnte, er habe es in einem "Gesicht"Anm.26 visionär erschauen dürfen, daß gerade die Christen es mit dem eschatologischen Seligwerden schwer haben, schwerer als die Heiden.Anm.27 Äußerungen wie die hier genannten haben übrigens den Protest eines Friedrich von Bodelschwingh hervorgerufen, der es brieflich eine Irrlehre nannte, daß Blumhardt zu viel auf eigene Eingebungen gebe, und seine Vermutung, Blumhardt sei eigentlich seelisch krank, rief lange Zeit schwere Verstimmungen zwischen Bethel und Bad Boll hervor.Anm.28
Das alles ist hier nicht zu vertiefen, so wie wir in diesem Rahmen auch auf Blumhardts innere Entwicklung in den wichtigen Jahren 1888 bis 1896 leider nur en passant zu sprechen kommen können. Es war die Zeit, in der Blumhardts Losungswort für die Bad Boller Hausgemeinde lautete: 'Sterbet, so wird Jesus leben!' Die Gefahren einer möglichen triumphalistischen Selbstverherrlichung des Blumhardtschen und Bad Boller Wesens traten ihm in diesen Jahren in sehr selbstkritischer Weise vor Augen, und jetzt hieß es in einer Art 'theologia crucis' für Blumhardt und die Seinen: "Jesus ist der Siegesheld, der auch unser Fleisch besieget"Anm.29, d. h. Blumhardt ging es in dieser Zeit verstärkt um Buß- und Gerichtspredigt: das Fleisch, das Um-sich-Selbst-Kreisen ist mit Jesus in den Tod zu geben, und nicht zuletzt das 'fromme Fleisch' der blind-begeisterten Blumhardt-Anhänger, an denen er so sehr litt in jener Zeit, daß er mit Beginn des Jahres 1894 die Hausandachten vorübergehend einstellte und die kirchliche Arbeit - Gottesdienste und Abendmahl-Halten - ganz nach Boll-Dorf delegierte. Nur was Sterben kann, wird leben, schärfte er in dieser Zeit ein, und der Gesichtspunkt der Krisis war in seinen Äußerungen allgegenwärtig. Doch freilich war ihm dies mitnichten ein Rückfall hinter die von ihm gewonnene und erschaute Einsicht von der Wiederbringung. Daß er unter Gericht Reinigung und Bußerneuerung verstand, mithin Zubereitung zur Wiederbringung, das blieb klar bestehen, so wie es seine Gemeinde beispielsweise in der Weihnachtspredigt des Jahres 1894 hörte:
"Es geht aufs Gericht los, auf die Krisis, nicht zu Verdammnis - das ist auch so verkehrt, daß wir Gericht und Verdammnis immer verwechseln! - sondern auf eine Krisis... Diese Krisis wird das letzte Gericht bringen, auf das muß es los... Glaubet mir's, dieses Streben nach Seligkeit, da wir statt Krisis Seligkeit spüren wollen, ist ein Morphium..., aber es hält nicht Stich, denn Krisis kommt, Umklammerung kommt, Gericht kommt..., denn unser Fleisch muß niedergeschlagen werden, bis wir vom Kopf bis zum Fuß erneuert sind..., und anders muß es werden, so wahr als Gott im Himmel ist".Anm.30
3. "Ihr Menschen seid Gottes" - Zu Christoph Blumhardts Hinwendung zum Sozialismus in den Jahren 1896 bis 1906 Was aus dieser Zeit nun in unseren Blick tritt, ist der interessanteste Zeitraum in Blumhardts Wirksamkeit, umstritten damals bei Freunden und Gegnern und umstritten heute in der Blumhardt-Interpretation. An den Anfang ist eine vielleicht auch etwas 'plakative' und überpointierte These zu stellen, wenn wir betonen: Das eigentlich 'Revolutionäre' und Weltbewegende, das worauf es Blumhardt ankam, ist bereits in der bisherigen Darstellung seines Heilsuniversalismus hinreichend zum Ausdruck gekommen, und da ist Blumhardts Hinwendung zum Sozialismus nicht mehr (aber auch nicht weniger) als eine Veranschaulichung und Konkretion. Sauter hat völlig recht, wenn er zu bedenken gibt: "Blumhardts Verständnis des Sozialismus steht und fällt mit seiner Zukunftserwartung (nicht umgekehrt!)".Anm.31
In unserm Zusammenhang anders ausgedrückt: Auf dem Hintergrund der Blumhardtschen Reich-Gottes- und Allversöhnung-Eschatologie, und allein von daher, werden im Tiefsten die Motive klar, die es ihm möglich machten, sich mit den Sozialdemokraten zu solidarisieren. Von Blumhardts eigenem Selbstverständnis her gesehen, war diese Allversöhnungs-Eschatologie so etwas wie ein revolutionärer Sprengsatz, mit dem die verödete und verkrustete Kirchlichkeit seiner Zeit mit ihrem grenzenziehenden Konfessionalismus und Dogmatismus aufsprengbar war; mehr noch: jene im vorigen Abschnitt vorgestellte Sicht von überaus dramatischem Gerichtsgeschehen auf das schließliche umfassende Heil für diese Erde zu, das war in Blumhardts Sinn keine Sache der kirchlichen Binnensicht und auch keine Bad Boller Sonderlehre für den stillen Winkel, das war ihm eine Sache des Weltgeschehens und der Menschheitsentwicklung - nach vorwärts, auf eine erneuerte Erde und den von ihm erhofften 'internationalen Himmel' zu, wo es weder Schranken, Grenzen und Scheidungen mehr gibt und wo 'die Verdammten dieser Erde' nicht mehr Verdammte bleiben, weil ganz global 'die ewige Verdammerei' aufgehört hat. Und da täusche man sich nicht: diese Allversöhnungsüberzeugung, wie wir sie hier im Blick haben, war für Blumhardt nicht nur theologisch-theoretische Angelegenheit, daß man die Höllenvorstellung intellektuell problematisiert und dann intellektuell überwindet; ihm ging es vielmehr - seinem biblischen Realismus entsprechend - bei der Losung: 'Die Hölle muß weg!' eben nicht zuletzt auch um die 'Hölle auf Erden'Anm.32, welche die Mächtigen den Schwachen bereiten.
In dieser Weltsicht erhielten für Blumhardt dann im hier angegebenen Zeitraum die Sozialisten eine - man könnte sagen - 'heilsgeschichtliche Rolle' zugesprochen, nämlich einerseits Gottes Gerichtswerkzeuge zu sein, die die versagende Christenheit in Krisis und zur Buße zu treiben hatten, andererseits wurden sie dann immer auch als göttliche Werkzeuge der Gnade angesehen, als Leute die unbewußt und 'anonym' Gottes Willen im Geiste Jesu taten - nach Jesus Weise in Solidarität mit des Elendesten; als solche hatten sie nach Blumhardts Sicht eine göttliche Berufung, von der sie selber gar nichts ahnten: einen Beitrag zu leisten, auf daß es mit der Welt besser würde, auf die Vollendung zu. Wieder sehr pointiert, aber in die rechte Richtung weisend ausgedrückt, läßt sich sagen: Blumhardt ließ sich in seinem sozialistischen Engagement nicht in den Sozialismus vereinnahmen, sondern er vereinnahmte gleichsam den Sozialismus in seine Konzeption.
Wie stark 'vereinnahmend' seine Verkündigung in den Jahren ab 1896 wurde, kann man in den Blumhardt-Schriften aus jener Zeit auf fast jeder Seite eindrucksvoll belegt finden, z. B. im 3. Band der Auswahl von Robert Lejeune, die er unter das Motto jener Zeit gestellt hat: "Ihr Menschen seid Gottes", und das ist notabene für Lejeune keine theologische Überschrift über einen Zeitraum, sondern ein göttliches Losungswort, das dieser für seine Verkündigung 'von oben'Anm.33 erhalten hat, um die Welt daran zu orientieren.
Auch wer diesem hohen prophetischen Selbstanspruch nicht ganz folgen kann, wird rein theologisch, nüchtern betrachtet diesen Satz: "Ihr Menschen seid Gottes" als die Mitte der Blumhardt-Verkündigung jener Zeit ausmachen. Unter diesem Losungswort kam das bisher mit Allversöhnungs-Eschatologie Umschriebene mit geradezu prophetischer Wucht zum Ausbruch, und an zahlreichen Stellen ist zu bemerken, wie gerade der auf die Spitze getriebene eschatologische Heilsuniversalismus, dem sozusagen 'alle Sicherungen durchgebrannt' sind, auch eine Gefahr für Blumhardt wurde: daß da das Prophetische ins Ideologische und das Christliche in rein säkularen Fortschrittsoptimismus umzuschlagen drohte.
Was in jenem Zeitraum für Blumhardts Verkündigung das Motto "Ihr Menschen seid Gottes" bedeutete, sei hier an einem exemplarischen Text aus dem Jahr 1896 gezeigt, in dem auf für Blumhardt typische Weise alle - ob sie es wollen oder nicht - zu Christus und seiner Liebe 'vereinnahmt' gesehen werden:
"Die Liebe Gottes zerschmelzt alles andere... Das ist die Liebe Gottes, die nie und nimmer jemand zugibt, der nicht geliebt würde. Ich sage es kühn vor aller Welt, vor den Himmeln und vor der Unterwelt: Es ist alles geliebt..., und kein einziger Mensch soll sich verworfen fühlen... Meine lieben Freunde, wir haben es bis jetzt nicht genug gewagt, Jahrhunderte hat man's nicht gewagt zu sagen: Jesus ist geboren, und darum sind alle Kreaturen die Geliebten".Anm.34"Ihr Menschen seid Gottes", das hieß für Blumhardt in jenen Jahren: "Die Liebe Gottes ist der Schlüssel der Welt in der wir leben"Anm.35, und wie sich da Türen erschließen können, das demonstrierte Blumhardt bezeichnenderweise so:
"Von jeder Kanzel und in jeder Mission sollte verkündigt werden: 'Ihr Menschen seid Gottes! Ob ihr noch gottlos seid oder schon fromm, in Gericht oder in Gnade, in Seligkeit oder in Verdammnis, Gottes seid ihr... Ob ihr tot seid oder lebendig, ob ihr gerecht seid oder ungerecht, ob ihr im Himmel seid oder in der Hölle, ihr seid Gottes...` Predigt einmal so, dann habt ihr andere Erfolge als mit dem abgekappten Evangelium, das mit der einen Hand anbietet und mit der anderen Hand wieder nimmt. Wenn doch endlich der christliche Zorn aus den Herzen heraus wäre! Wenn doch endlich die Verdammungssucht aufhören würde! ... Unser Glauben muß ein Leuchten sein von Gott sein; in den Strom des Glaubens müssen wir die Leute hineinziehen... Wenn aber wir Hindernisse in den Strom werfen, wie kann es dann einen Strom geben, der die Leute mitreißt".Anm.36Genau auf dem Hintergrund dieser Gedanken ist auch, wie oben umrissen, die Wurzel und Triebkraft von Blumhardts Hinwendung zum Sozialismus zu verstehen: diese eschatologische Konzeption von der allumfassenden Liebe Gottes ermöglichte ihm den Zugang dazu und ließ dann zu, daß verwandte Gedanken aus dem Sozialismus für Blumhardts eigene Konzeption fruchtbar werden konnten: er vereinnahmte Sozialistisches, ohne sich selbst vereinnahmen zu lassen.
Wenn hier das Gesamtthema heißt "bebel- und auch bibelfest", und wenn da vom sozialistischen Engagement die Rede ist, dann hätte man - zugegebenermaßen - das hier zur Debatte stehende Verhältnis Blumhardts zu politischen, sozialen und sozialistischen Frage auch völlig anders angehen können, nämlich in der Weise einer zeitgeschichtlichen Untersuchung. Man hätte darauf hinweisen können, daß Blumhardt von jeher politisch und sozial interessiert war, die Bibel immer neben der Zeitung las, daß er im Blick auf das Thema Kirche und soziale Frage im 19. Jahrhundert bemerkenswerte Kontakte zu Adolf Stoecker etwa unterhielt, dessen Wirken er je länger, je mehr kritisch gegenüberstand. Man hätte im Blick auf den Sozialismus näher darauf eingehen können, daß er sich ab Anfang der neunziger Jahre lektüremäßig damit beschäftigte, so las er Werke von August Bebel, Franz Mehring und Franz Staudinger, und man hätte schließlich analysierend Blumhardts praktische Arbeit als Parteipolitiker und Parlamentarier der Sozialdemokratie, etwa seinen dortigen Standort zwischen Bebelianern und Revisionisten oder seine Haltung zum Klassenkampf darstellen können. Das alles ist sicherlich wichtig, gut und richtig; Klaus-Jürgen Meier etwa hat 1978 eine solche Untersuchung vorgelegt in seiner Dissertation, die den Titel trägt: "Christoph Blumhardt. Christ - Sozialist - Theologe".Anm.37
Gleichwohl kommt man auf diesem Wege allein der Bedeutung des 'prophetischen Sozialismus'Anm.38 bei Blumhardt nicht hinreichend auf die Spur. Denn auch als Sozialist war er ein 'unregelmäßiges Verb', ein letztendlich auch auf diesem Gebiet überhaupt nicht 'dogmatisch' oder literarisch interessierter Genosse, dessen Position nach außen gesehen keineswegs originell oder aufregend war, sondern höchstens blasser Durchschnitt; dementsprechend war auch sein Landtagswirken keineswegs ein glänzender Siegeszug: wenn man es objektiv betrachtet, hat er da schon nach kürzester Zeit resigniert und 'schlappgemacht'.
Genau dieses Ergebnis hat einige frömmere konservative Freunde Blumhardts damals (und heute) dazu verleitet, seinen Parteieintritt gleichsam als 'Betriebsunfall' herunterzuspielen und seine Landtagstätigkeit als von Anfang an zum Scheitern verurteilte Angelegenheit zu bagatellisieren, eine schnell zu vergessende Episode voller Anfechtungen.Anm.39 Aber das ist ebenso verfehlte Hagiographie wie das umgekehrte häufige Streben, ihn als strahlenden Kronzeugen eines religiösen Sozialismus hochzujubeln.
Die Originalität des Blumhardtschen Sozialismus - und Sozialist, der er geworden war, blieb er entschieden bis ans Ende! - lag weder auf dem theoretischen Gebiet noch in der praktischen Arbeit, sie lag im Theologischen: daß er mit seiner universalistischen Reich-Gottes-Konzeption, die nicht einmal den Sozialismus als gefährlich 'verdammen' mußte, für viele andere Christen und Theologen theoretisch und praktisch wichtige Neuaufbrüche bewirkte und ermöglichte.
Dies ist hier als Abschluß dieses Abschnittes kurz an drei Beispielen zu zeigen, die Hinweis geben auf die Art des Reich-Gottes-Sozialismus der Jahre 1899 bis 1906 bei Christoph Blumhardt: wir zeigen (1.) anhand des "Antwortschreibens an seine Freunde" von 1899, wie Blumhardt seinen Schritt in die Partei theologisch legitimiert sieht, zeigen dann (2.) anhand des Blumhardt-Briefwechsel mit Howard Eugster-Züst, dem berühmten Appenzeller Weberpfarrer, wie Blumhardt seinen eigenen Sozialismus sah und wie er damit Eugster, seinen engsten Schüler, praktisch inspirierte, und wir zeigen (3.) am Briefwechsel mit Richard Wilhelm, wie Blumhardt gerade in seiner 'politischsten' Zeit wesentliche und modern anmutende Neuaufbrüche der Missionstheologie anregte. Dabei geben die beiden hier genannten Briefwechsel und das "Antwortschreiben" für das Verständnis des Blumhardt-typischen Sozialismus weit mehr her als seine politischen Reden, die er im Landtag oder für die allgemeine Öffentlichkeit hielt.
(1) Zum "Antwortschreiben" von 1899:
Bei diesem handelte es sich um einen Rundbrief, im November des Jahres geschrieben und an Vertraute gerichtet, die z. T. über seinen Parteieintritt sehr irritiert waren, und Blumhardt machte darin deutlich, daß er sich in diesem Schritt - getreu seiner Form von Reich-Gottes-Hoffnung - von Gott geführt wußte:
"Heute hat mich Gott aus dem 'vertraulichen' Kreise herausgeführt und ohne mein Suchen an die Öffentlichkeit gebracht. Ich mußte der arbeitenden, heute nach Millionen zählenden Klasse die Hand reichen, und unter diesen Millionen der Partei, welche diese Massen heben, bilden und zur Geltung bringen will. Ich reichte die Hand als der, der ich bin, als Nachfolger Christi".Anm.40Dieses 'Müssen', von dem Blumhardt schrieb, war ihm durchaus ein 'eschatologisches Müssen' im Dienste des Reiches Gottes, für das er sich berufen fand, und gerade auf diese uns schon bekannte Thematik von Gericht und allumfassendem Heil kam Blumhardt im "Antwortschreiben" ausführlicher zu sprechen, wenn er da Christus als bloßen Jenseitstrost ablehnte und schrieb:
"... daß alle Geschlechter auf Erden gesegnet genannt werden können. Das predige ich so lange schon, als ich praktisch tätig zu sein in der Lage war".Anm.41Und das, was den Sozialisten ihr universales 'Endziel des Friedens' bedeutete und der ähnliche Weg dahin, das machte es Blumhardt - um diese innere Verwandtschaft wissend - leicht, sein Reich-Gottes-Endziel mit dem der sozialistischen Bewegung zusammenzusehen, wobei im Reich-Gottes-Geschehen Gott mithilfe der Sozialisten das heilsame Gericht übt, so sah es Blumhardt, das auf sein allumfassendes Ziel hinführt. So liest man im "Antwortschreiben":
"Wenn wir alle die Worte Jesu und der Apostel, die auf das Endziel der Menschheitsgeschichte hinzielen, zusammenstellen, so finden wir, daß Jesus sich sehr wohl mit den politischen und sozialen Entwicklungen beschäftigt... Darum... als Nachfolger Jesu... gehen wir durch alle Entwicklungen hindurch und haben das endliche Ziel des Friedens im Auge. Dieses Endziel aber kann nicht ohne erschütternde Umwälzungen kommen. Wie die Geißel, welche Jesus schwingt im Tempel zu Jerusalem, so wird auch noch eine Geißel kommen über das ganze ungerechte Wesen des Menschen... Die sozialistische Bewegung aber ist wie ein Feuerzeichen am Himmel, welches Gericht angekündigt". Anm.42Dabei konnte für Blumhardt das Gericht selbstverständlich nicht das letzte Wort behalten konnte, sondern der Sieg, das gute Ende für alle, so wie es Blumhardt im letzten Satz des Rundbriefs noch einmal hervorhob:
"Solches Endziel ist das Reich Gottes auf Erden, des Gottes, der ein Heiland ist aller Menschen". Anm.43(2.)Zum Eugster-Briefwechsel in den Jahren 1899 bis 1906:
Dieser ist anzusehen als die ergiebigste und wichtigste Quelle, um Blumhardts Haltung zum Sozialismus zu verstehen. Er liegt seit 1984 gedruckt vor, wobei der Band fast 450 Seiten umfaßt. Der Titel lautet: "Politik aus der Nachfolge" , und eine solche verfolgte Howard Eugster-Züst, der berühmte Appenzeller Weberpfarrer und Gewerkschaftsgründer und spätere Schweizer Nationalrat, aber der Band belegt: Es war Jesus-Nachfolge als geradezu bedingungslose Blumhardt-Nachfolge. Eugster, der von der Schweiz aus mehr als 50 Mal Bad Boll besuchte, war durchweg geradezu ein Jünger seines Meisters Blumhardt, und dazu der einzige aus dem engeren Freundeskreis, der nach Blumhardts Parteieintritt das diesem sofort nachtat und Schweizer Sozialdemokrat wurde. Natürlich können hier aus diesem umfangreichen und z. T. sehr intimen Briefwechsel nur einige ganz wenige Aspekte angeführt werden, die in unserm Zusammenhang für die Jahre 1899 bis 1906 wichtig sind.
Interessant für uns sind da bereits zwei Briefe von Ende März 1896: da leistete Blumhardt Eugster, der in innerer Not war - es ging um eine kleine Trübung im Verhältnis zwischen beiden - seelsorgerlichen Trost mit den bezeichnenden Worten:
"Es ist ... gut, wenn Du darauf achtest..., daß Du absolut nichts hören und sehen wolltest, als was direkt vom Reiche Gottes an Dich kommt... Die grosse, all-umfassende Versöhnung über aller Kreatur... sei in dieser Zeit Deine Freude..., auch in der Verkündigung des Evangeliums, welches eben darin besteht"Anm.45, und Eugster nahm diese Blumhardt-Worte so direkt, wie sie gemeint waren und antwortete:
"Es kam mir der Entschluß: Du legst die Bibel ganz an die Seite und lässest sie ganz auf der Seite, an das Wort aus dem Reich Gottes dich allein haltend"Anm.46, eben an Blumhardts Wort.Aus diesem Briefwechsel geht auch hervor, daß Blumhardt sich in seinem universal ausgerichteten Reich-Gottes-Sozialismus je länger, je mehr verraten fühlte, wenn der 'real existierende Sozialismus' der Partei ihm anfocht mit Verhaltensweisen, die ihn an das Elend der Kirche erinnerten: Parteizwang, Grabenkämpfe, Rechthaberei und Verdammungssucht. Stets ging es ihm um sozialistische Prinzipien, nie primär um die Programme: im Blick auf die Prinzipien berührten sich für ihn Reich Gottes und Sozialismus, in Bezug auf die Programme mußte Blumhardt in der sozialdemokratische Partei ähnlich traurige Erfahrungen machen wie in der Kirche. Diese Desillusionierung bei gleichzeitigem Festhalten am sozialistischen Prinzip brachte Blumhardt am 3. Dezember 1902 besonders klar zum Ausdruck:
"Das Stadium, in dem wir stehen, ist darum kein angenehmes, denn es entwickelt sich der Trotz des Klassenkampfes, wie ihn die Sozialdemokratie vertritt. Da steht Trotz gegen Trotz, und es schweigt der höhere Ton des Reiches Gottes. Das Allumfassende des Sozialismus in Christus, der allen Menschen gleich hoch gegenüber steht, hat heute keinen Boden zur Verwirklichung"Anm.47, jedoch heißt das nicht Rückzug; so wurde Eugster ermahnt: "Für Dich handelt's sich nur darum, sehr weise zu sein, treu und fest auf der Seite des seufzenden Volkes und verschanzt mit Glauben gegen den Hochmut des herrschenden kapitalistischen Prinzips".Anm.48Genau das ist das Kernproblem: wissend um die Unzureichendheit des real existierenden Parteisozialismus hat man kritische Solidarität zu üben und denen unten nah zu bleiben, so sah es Blumhardt, wobei aber das Eigentliche des 'wahren' Sozialismus' nur im Blick auf das Reich Gottes zu sehen ist: das 'Allumfassende des Sozialismus in Christus', das blieb auch dann für Blumhardt bestehen, als er sich vom Parteialltag und der praktischen Arbeit dort - hierin ganz im Gegensatz zu Eugster - stark entfernte als er sich 1906 aus dem Landtagsgeschäft zurückzog. Und Eugster-Züst, oft ähnlich desillusioniert wie sein Meister, blieb bis zuletzt dem Blumhardtschen Sozialismus, nämlich der Auffassung vom 'Allumfassenden des Sozialismus in Christus', mithin der Allversöhnungs-Eschatologie seines Lehrers, treu. In seiner glanzvollen gewerkschaftlichen und politischen Karriere ließ er sich jeden einzelnen wichtigen Schritt von Blumhardt absegnen, denn - so schrieb er schon 1900 an diesen - :
"Wenn ich ein Sozialdemokrat bin, so bin ich's schliesslich in Deinem und nicht im gewöhnlichen Sinn".Anm.49(3.) Zum Briefwechsel mit Richard Wilhelm:
Einen ähnlichen ihm vertrauten Musterschüler hatte Blumhardt in Richard Wilhelm, der die Blumhardt-Tochter Salome geheiratet hatte. Richard Wilhelm, in Bad Boll Blumhardts Vikar, wurde später (1899) China-Missionar und dann ein literarisch stärkstens wirkender und bis heute bekannter Sinologe. Blumhardt verstand seinen Schwiegersohn gleichsam als Blumhardt-Außenstation in Asien. Und die hier zur Genüge vorgestellte Allversöhnung-Eschatologie wurde da - genau in unserem Zeitraum - höchst aktuell für die Frage der Mission. Auch das ist hier nur äußerst knapp anzureißen. Deutsche Kolonialpolitik in China zur Jahrhundertwende, das war für Blumhardt, allein schon um der Wilhelms willen, ein politisches Spezialgebiet, wie man sonst kaum eins bei ihm ausmachen kann. Welche Bedeutung in diesem Briefwechsel die Allversöhnungs-Eschatologie gewinnt, kommt schon im Brief an Wilhelm am 31. Juli 1899 zum Ausdruck: "der Jesus, der nicht zu verdammen, sondern zu erretten gekommen ist"Anm.50 , war da das Problem, zu dem Blumhardt dem Schwiegersohn in China schrieb:
"Freilich, wie Du schreibst, kommen wir mit den harten Stellen der Schrift in Verlegenheit. Doch ich möchte darauf aufmerksam machen, dass die schroffen Worte Jesu nur den Frommen gelten, nicht den Heiden und Sündern... Also den oberen Zehntausend, nicht dem Proletariat der Völker gelten die harten Worte. Sind wir Jesusnaturen geworden..., so wurzeln wir bald in den Massen, die selig werden müssen...,... und dann werden wir unter Umständen auch zornig über Pharisäer und Schriftgelehrte ... und alles Pfaffenregiment. Diesem gilt der Zorn Gottes. Den Völkern niemals". Anm.51Das sind Sätze, die für Wilhelm ein ganzes missionstheologisches Programm enthalten sollten. Dazu muß man bedenken, daß Blumhardt eine tiefe Parallelität zwischen Wilhelms Missionswerken in China und seiner eigenen Tätigkeit in der Sozialdemokratie sah, denn er selbst, so schrieb er am 29. Oktober 1901, wäre von Gott den Sozialisten, also "den europäischen Heiden"Anm.52 ausgeliefert worden und Wilhelm eben den seinigen Heiden in Asien. Und da galt es beidesmal nach Blumhardt, den Begriff 'Heide' und die damit gemeinte Sache restlos zu überwinden, im Zeichen des Satzes: 'Ihr Menschen seid Gottes!' Der letztgenannte Brief zeigt uns mit wünschenswerter Deutlichkeit und sehr programmatisch, wie für Blumhardt die neue Missionsstrategie aussah, eine Missionsstrategie, die - wie man auch aus dem Briefwechsel ersieht - Richard Wilhelm mit bewundernswerter Konsequenz befolgte. Seine Richtlinie war im genannten Brief von Blumhardt so vorgesteckt:
"Nun aber ist eine neue Zeit. Der Geist der Wahrheit will ins materielle, ins politische, soziale und industrielle Leben hinein und von da aus Grund legen zu geistiger Bildung; Politik und alles, was damit zusammenhängt, muss sich beugen unter den Willen Gottes, und aus dem natürlichen Leben des Menschen soll eine geistige Bildung erstehen, damit nicht mehr Gutes gepredigt werde ohne Kraft, es tatsächlich auszuführen. In dieser Zeitenwende stehen wir, und darum wirst Du kaum anders geführt werden können als so, dass Du auch eine Art politische Rolle spielen musst. Die Chinesen müssen sich zeitgemäß materiell und politisch bilden und entwickeln; was von Gott im Geist notwendig ist, wird dann von selbst kommen. Ich sehe für Dich den Anfang darin, dass Du schon vermittelnd zwischen den Chinesen und den Deutschen tätig zu sein Veranlassung bekommen hast. Dass Du Pfarrer bist, wird mehr und mehr Nebensache werden. Jeder Prophet oder prophetisch arbeitende Mensch wird auch politisch werden, und Dein Beruf scheint mir in die Welt der Chinesen hineinzuführen, und gibt Dir Gott die Herzen, dass sie Dir vertrauen können, dann kommen sie ins Himmelreich, auch ohne dass sie Christen heissen. Aus dem Sumpf der christlichen Kirchen sind die Menschen schwerer herauszuführen als aus der Barbarei des Heidentums. Sind doch die christlichen Völker nur übertünchte Barbaren, die in Selbstbetrug leben. Also scheue Dich kommenden Falles nicht, Heide mit den Heiden zu heissen, wenn Du nur im Geist des Willens Gottes stehst. Auch hört der christliche Gemeindebegriff jetzt auf; es fängt die Ernte an, und alle Völker und das Volksganze kommen in Behandlung. Darum nur keine Separation mehr, sei's dogmatische, sei es liturgisch-gemeindliche. Sitten und Einrichtungen, Ordnungen und Anbetungen werden sich dann schon finden. Ich hoffe, Du wirst Dich auszeichnen dürfen als Freund der Menschen und wirst Deinen Schutz bei den Chinesen finden, wenn auch eine Zeitlang Dein Verhältnis zu den europäischen Sitten in die Brüche kommen sollte".Anm.53Vieles von dem hier Vorgeschriebenen trat praktisch ein. Wilhelm, sich von 'Tauferei' und 'Bekehrerei' zurückhaltend, wurde ein solcher Philanthrop um Gottes willen, er wurde einer, der in einzigartiger Weise eine 'Brücke zwischen Europa und China' schlug, wobei der Konfuzianismus ihn stark in den Bann zog. Den genannten Liebesaspekt hielt er fest, aber aus dem christlichen Glauben hat es ihn später weit hinausgetragen hin zu esoterisch-gnostischem Gedankengut mit christlicher Übermalung.Anm.54
Damit können wir uns in einem sehr viel kürzeren Abschnitt der Blumhardtschen Spätzeit zuwenden.