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Dieses ist ein "Doppelpack" zum Volkstrauertag - oben die Predigt und unten (hier klicken) die Volkstrauertagsrede an den drei Mahnmalen in Deilinghofen, Brockhausen und Apricke.

Hintergrundsmusik im Internetexplorer zum einem traurig-besinnlichen Tag: In dir ist Freude in allem Leide

Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr,

15.11.98, in der Deilinghofer Stephanuskirche

DIE GNADE UNSERES HERRN JESUS CHRISTUS UND DIE LIEBE GOTTES UND DIE GEMEINSCHAFT DES HEILIGEN GEISTES SEI MIT EUCH ALLEN AMEN.

"Hoff, o mein arme Seele", das sangen wir grade am Volkstrauertag von der Hoffnung, liebe Gemeinde, aus Paul Gerhardts "Befiehl du deine Wege", geschrieben in einer Wahnsinnszeit vor dreihundertundfünfzig Jahren bald nach dem 30jährigen Krieg mit seinen Schrecken. Und von den globalen Schrecken dieser Welt und von der Weite der Hoffnung, die Christen haben dürfen, redet Paulus in Römer 8 im für heute vorgeschriebenen Predigttext. Hören wir Römer 8, Verse 18-23:

Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt [und in den Wehen liegt] und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.

Gebet: Herr, segne du dein Wort an uns - sei nun beim Reden und sei beim Hören, und schenke, daß es in uns dringt bis zum Herzen und unser Wesen bestimmt. Amen.

Liebe Gemeinde, mit unseren Konfirmanden, die nächstes Jahr konfirmiert werden, das sind immerhin 48 Jugendliche, die nehmen zur Zeit donnerstags im Unterricht durch, was eigentlich Schöpfung heißt - und was das heißt: "Ich glaube an Gott den Schöpfer". Wir fragen da, ob das nur immer alte Geschichten sind - mit Adam und Eva und Erdenkloß. Oder ob da für heute noch mehr dahinter ist für uns. Wie kann ich sagen: Gott ist mein Schöpfer, ich bin von Gottes Hand geschaffen, wies die Bibel sagt - wenn ich auf der anderen Seite weiß, wie ich natürlich biologisch entstanden bin und mich im Mutterleib entwickelt hab?

Solche Fragen stellen wir da im Unterricht - und ein wunderbarer Film half uns da sehr anschaulich weiter. "Von Gottes Hand geschaffen" - davon handelt er, dieser faszinierende Film mit dem Titel "Wunderwerk Mensch". Und die faszinierendste aller Szenen dieses Films will ich Ihnen schildern:

Ein großes Schreien und lautes Stöhnen ist da zu hören, als würde eine Frau sterben oder sonstwas. Man kommt erst gar nicht klar, worum es da geht. Nur das schmerzverzerrte Gesicht dieser Frau ist zuerst zu sehen dort - die scheint tausend Tode auf einmal zu sterben, und gleichzeitig ist trotzdem ist merkwürdigerweise Glück in ihrem Gesicht zu erkennen. Zwei kleine Mädchen, so acht und zehn Jahre alt, sind dabei, sie sehen der Mutter bei den Wehen zu, bei den Geburtswehen und bei der Geburt - und dann schließlich ist es soweit: ein letztes starkes Pressen und ein kleiner Winzling, erst noch von Blut verschmiert, kommt da ans Tageslicht, und bald liegt er da sauber auf des Vaters Arm und beide Mädchen, die jetzt große Schwestern sind, strahlen mit der Mutter und dem Vater um die Wette. Man sieht denen förmlich an, daß sie Zeugen eines Wunders waren, eines Wunders, ganz natürlich - "von Gottes Hand gemacht". Dies Lachen da in den Augen, das unbeschreibliche Staunen - das sagt aus nach dem Film: wir dürfen glauben an Gott, den Schöpfer.

Jener Film also, liebe Gemeinde, kommt nicht aus ohne Gleichnisse, um Gottes Schöpfermacht zu beschreiben. Und in diesem großartigsten aller Gleichnisse und Bilder tritt es ganz elementar auf und geht einem durch und durch: das ist das Wunder der Schöpfung, da durch alle Wehen und Leiden hindurch hat für Christen Gott seine Hand bei, wenn da eine Frau "guter Hoffnung" ist - wie man früher so schön sagte - und wenn die gute Hoffnung in Gestalt eines solchen Winzlings ans Tageslicht kommt. Vor der Taufe gestern hat's die Taufmutter Kasprzyk auch noch mal für sich so beschrieben, genau wie in dem Film: diesen Umschlag von Leiden und Wehen in eine riesengroße Hoffnung, und das Endergebnis ihr kleiner Louis: ein Wunder, von Gott geschenkt.

Haben Sie gemerkt, lieber Gemeinde, daß wir mit dieser Geschichte, die ich Ihnen schilderte, längst schon mitten drin sind in unserem Predigttext aus Römer 8? Was will Paulus da? Er will die Riesenhoffnung der Christen beschreiben! Er will beschreiben, warum Christen Menschen sind, die "guter Hoffnung" sind! Und er kann's nicht anders als mit diesem Bild der Geburt, mit dem Bild der in den Wehen liegenden schwangeren Frau in ihren Leiden. Hören wir mal auf den zentralen Vers mitten in unserem Predigttext:

Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet - so heißt es wortwörtlich in der neuen Lutherübersetzung, aber nach dem griechischen Urtext ist das da von Paulus aufgegriffene Bild noch viel plastischer: denn um die Wehen geht es da; und so heißt der gleiche Vers nach der urtextgenauen Elberfelder Bibel übersetzt auch so: Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.

Ja, was will Paulus den Christen in Rom da beschreiben - und wie sollen wir das für uns uns vorstellen? Er will nichts anderes als Jesus seinen Herrn großmachen und beschreiben, daß mit dem Kreuz von Golgatha und mit dem Ostermorgen die "neue Schöpfung" begonnen hat, die neue Schöpfung, die wie die erste Schöpfung ganz in die Weite gehend alles umfaßt - nicht nur die Seele des Einzelnen in seinem stillen Kämmerchen, sondern die ganze Welt mit allem Drum und Dran, mit allen Menschen und sogar den Tieren und der nichtmenschlichen Kreatur. Ja, er will zeigen, daß er, der am Kreuz starb und am Ostermorgen auferstand als der Herr über alles, der Herr über beide ist, die Christen, die ihn kennen und der Nichtchristen, die ihn noch nicht kennen und ihn kennenlernen sollen, ja, Paulus will das zeigen, daß dieser, mit dem die "zweite Schöpfung" begann, so wie es oben bei uns an der Spitze des Stephanusaltars hier zu sehen ist, der Christus pantokrator ist: der Herr, der die ganze Welt in seiner Hand hat, wie es da jedes Kind sieht: er hat die Weltkugel in seiner rechten Hand wie ein König seinen Reichsapfel.

Und wenn wir das verstanden haben, liebe Gemeinde, dann kommen wir mitten hinein in unseren Predigttext, dann ist er uns nicht fremd, dann spricht er uns an, dann spricht er sehr direkt in unsere Situation hinein.

Denn so Fragen stellen alle Leute, wie sie da gestellt werden und aufgegriffen von Paulus in Römer 8. Was bitteschön mit all den Leiden ist, mit den Warumfragen, an denen Menschen rumknacken, was bitte ist mit all dem Tod in unsrer Welt, und all der Vergänglichkeit und der Schuld, mit all den Mächten des Bösen, die gar nicht zu passen scheinen zu der Riesenhoffnung, die Christen geschenkt ist. Wie paßt das alles zusammen: die Hoffnung und all das Weh? Wie paßt das nach dem Ostermorgen zusammen, wo Christen doch da erfaßt wurden und erfaßt werden von seiner neuen Hoffnung, die stärker ist als der Tod!? Und warum ist der Tod und all das Leid immer noch so mächtig?

Die Fragen, die Paulus da aufgreift für die Christen der jungen Gemeinde in Rom, die sollten noch aktuell werden - gerade dort in der gleichen Welthauptstadt Rom, denn das wissen wir aus der Geschichte: eine kurze Zeitspanne später trat dort ein Verrückter auf, ein Herrscher mit Namen Nero - wie wir wissen im Jahr 64: der selber als Herr angebetet sein wollte und mit dem die blutige Verfolgungszeit genau da in Rom begann - die Christen werden den wilden Tieren vorgeworfen und die Masse ergötzt sich dran, und Rom wird von Nero abgebrannt und die Christen sollen es gewesen sein, und wer weiß: Ich denke bei all dem Unermeßlichen, was da um des Glaubens Willen ausgehalten wurde, da mögen viele Christen dort an unsere Worte des Paulus im Brief nach Rom gedacht haben und sich daran aufgerichtet haben: daß sie es sich noch bis zu ihrem gewaltsamen Tod einprägten, wie Paulus es beschrieb und bezeugte: Denn ich bin überzeugt, daß dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden. Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt [und in den Wehen liegt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.

Das heißt im Klartext, liebe Gemeinde: Wenn noch so viel Weh in den Menschen bohrt, wenn noch so viel Zentnerlasten auf Menschen liegen und sich Herrscher zu Herren und Göttern erklären: ER, der eine, Christus, der Pantokrator, hat die ganze Welt in seiner Hand, ja, wenn Weh und Kreuz auf den Menschen liegt, dann dürfen es Christen mit Paulus und unserm Predigttext so sehen wie bei einer Frau in den Wehen: die ganze Schöpfung stöhnt und seufzt nach Erlösung - auch die Christen sind da nicht ausgeschlossen, sie stöhnen und seufzen unter all dem Weh und dem Kreuz und sterben manchmal 1000 Tode - aber in dem allen haben Christen einen Ausblick auf die große Hoffnung hin, indem sie ans Kreuz blicken und auf die Hoffnung des Ostermorgens und da in allen Schmerzen wissen: es ist wie bei einer Geburt - das neue Leben ist im Kommen, Gottes "neue Welt", seine "neue Schöpfung", mitten in der alten.

Ich muß nicht viel erklären, wie jene Seufzer und das Stöhnen sich heute laut macht - wir stöhnen nicht mehr unter einem Nero wie die Römer damals, wir stöhnen über unsere heutigen Katastophen. Und wir haben z.B. noch vergangenen Montag hier in der Mahnandacht in großer Betroffenheit an die Anfänge der Judenverfolgung in Deutschland gedacht am Jahrestag der sog. Reichkristallnacht, als die große Schuld in unserm Land begann, sich in teuflisches Grauen umzusetzen, wir haben dran gedacht, wie dann 24.000 Russen hier in Hemer starben und als Leichen ohne Sarg aus dem Stalag über die Jübergstraße zum Duloh hochgefahren wurden. Ja, wir denken hier an so viel Stöhnen, das Christen mit Nichtchristen teilen, wo die Christen das Weh von Krankheit und Todesängsten und das Verhängnis von Schuld so zu schaffen macht wie denen, die von Jesus nicht wissen wollen. Doch mitten in all den Ängsten, wo das Kreuz über den Christen wie den Nichtchristen liegt und über der ganzen Welt und aller Kreatur, da wissen Christen - als die "ersten Freigelassenen der neuen Schöpfung" - von der "guten Hoffnung", daß das Kreuz nicht das letzte ist und Gottes neue Schöpfung einmal am Ende stehen wird, und daß es bis dahin wie mit einer Geburt ist: unter Seufzen und Weh wird wie in den Wehen Gottes neue Schöpfung geboren.

Und Paulus schärft uns ein: Hör sehr aufmerksam auf das Seufzen und Stöhnen neben dir - auf all das Erlösung-Suchen in unserer Welt, verbinde es mit deinem eigenen Seufzen, wisse dich im Weh mit andern verbunden, aber wisse auch, daß du dabei in Gottes Hand bist und all die, die stöhnen, mit hineinziehen kannst in den Glauben an den, der Erlösung schenkt, daß sie mit dazu gehören zu der neuen Schöpfung in Jesu, die im Werden ist wie in einer Geburt. Der 14jährige Konfirmand mit seinem Stöhnen und seinem Suchen nach Sinn, der bis jetzt an Gott nicht glauben kann, der soll dann genauso dazu gehören zu dieser neuen Geburt wie die alte Frau, die dem Tode nah ist und ihre Seufzer stöhnt, die sonst keiner hören will, das was russische Christen in ihrem Elend stöhnen gehört genauso dazu wie das, was alleingelassene Alte im Altersheim stöhnen - das Stöhnen von Frau Edler über Andreas gehört dazu und das Stöhnen des Mannes, dessen Frau mit knapp über 30 starb und den ich heute mit seien beiden Kindern besuche, auch: sie alle sollen welche an die Seite kriegen, die als Christen ihr Stöhnen teilen und anstiften, mitten im Weh da nach oben auf den Herrn über alles zu sehen, der am Ende Recht behalten wird und der der Garant einer Riesenhoffnung ist: daß es für Seufzende und Stöhnende unter dem Kreuz Erlösung gibt - hier schon und dann in Ewigkeit. Und der Friede Gottes... Amen.

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Rede an den drei Mahnmalen zum Volkstrauertag am 15.11.98 in Deilinghofen, Brockhausen und Apricke

zum Anfang der Rede vgl. im Internet eine Predigt aus der Predigtdatenbank der Göttinger Predigten

(Link ist empfehlenswert; da kann man sinnvoll 'klauen'...)

 

Meine Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger dieses Ortes!

"Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" Dieser sehr pessimistisch klingende Satz des französischen Philosophen Gabriel Marcel hat es in sich: "Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!". Stellen wir uns das doch mal vor: Die Toten der Kriege und Verbrechen würden nicht schweigen, sondern reden, schreien, klagen. Das ist eine furchtbare Vorstellung! Wenn die Toten nicht schweigen würden, dann würden sie uns sicherlich ununterbrochen ins Gewissen reden, sie würden uns warnen, uns anflehen: Hört auf mit dem Unfrieden, mit dem Haß, mit dem Rassismus, mit dem Morden. Sie würden uns fragen: Wie konnte das geschehen? Wir verstehen nicht, weshalb so viele weggeschaut haben, einfach nicht wahrnehmen wollten, was damals geschehen ist.

Aber es ist nun mal so: Die Toten schweigen. Nur deshalb können wir heute am Volkstrauertag der Toten gedenken, die durch Kriege und Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben. Denn eigentlich muß man doch verrückt werden, wenn man bedenkt, daß Millionen und Abermillionen Menschen auf den Schlachtfeldern, in den Bombennächten, auf der Flucht, in der Gefangenschaft und in Konzentrationslagern ihr meist junges Leben gelassen haben. Nur weil die Toten schweigen, können wir heute damit leben.

Meine Damen und Herren, eine Rede wie diese will den schweigenden Toten eine Stimme verleihen. Und um solch eine Rede zu verstehen, muß der, der redet, sich frei machen von all dem was in der Gesellschaft heute gang und gäbe ist: von der Meinung, die überall die Spatzen von den Dächern zu pfeifen scheinen, daß man doch wahrlich genug geredet und geklagt habe über Deutschlands Schicksal und Schuld, über Weltkrieg 1 und Weltkrieg 2 und über all die Riesenschuld in Nazideutschland zumal. Und um eine Rede wie diese zu verstehen, muß der, der hier hört, - paradox genug - jene Stimmen mithören von denen, die gar nicht reden können, sondern schweigen. Und wer hier hört, muß sich frei machen genauso - von der Versuchung, hier nur noch aus Tradition und Pflichtgefühl zu stehen und drinnen nichts mehr zu fühlen, nichts mehr verarbeiten zu wollen. Jener radikale Satz von Gabriel Marcel rechnet u.U. auch damit, daß der Mensch gar nichts aus der Geschichte lernen kann, eben weil er auf die schweigenden Stimmen nicht hören kann und so alles von vorn beginnen läßt.

Verehrte Zuhörer, der Mensch ist so angelegt, daß man vergißt, verdrängt und harmonisiert, und dazu gehört, daß man sich eben auch an große Zahlen gewöhnen kann: die vielen Millionen, die auf dem Schlachtfeldern und an den Kriegsschauplätzen umkamen, die werden irgendwann mal so etwas wie nur Statistik, die vielen Hunderttausende, die unter Zwangsherrschaft Fürchterlichstes erlebten, die lassen uns kalt; unter Umständen sagen uns 6 Millionen umgebrachter Juden überhaupt nichts mehr - sechs Jahrzehnte danach.

Ja, fast auf den Tag genau vor sechs Jahrzehnten in der Nacht vom 9. zum 10. November '38 war der fürchterliche Auftakt der Judenverfolgungen, der Beginn eines vollkommen beispiellosen Völkermordes in der von den Nazis beschönigend sogenannten Reichskristallnacht. In der ging eben nicht nur das Kristall der jüdischen Schaufenster zu Bruch, mit der Nacht wurde eine teuflische Geschichte gestartet, die ursächlich ganz viel mit dem dann bald beginnenden zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Nebenan in der Stephanuskirche haben eine ganze Reihe von Christen - Jüngere wie Ältere - am vergangene Montag der Ereignisse von 1938 gedacht, in dieser Schreckensnacht, in der nicht nur über 7000 jüdische Geschäfte, 29 Warenhäusern und beinahe sämtlichen Synagogen, 265 an der Zahl, zerstört wurden und 91 Menschen starben, sondern in der unterirdisch viel viel mehr zu Bruch ging, was Zahlen gar nicht ausdrücken können.

Da sagen Geschichten schon viel mehr. Es gibt Geschichten, in denen die Toten hörbar reden. Vor einem Monat sahen dreißig Deilinghofer Jugendliche bei unserer Freizeit in Brandenburg den Film "Schindlers Liste", den drei Stunden-Film, der erschütternd das Schicksal der Juden beschrieb und den schlitz-ohrigen Mut des Deutschen Schindler, der es möglich machte (obwohl er nach der Parteizugehörigkeit Nazi war), daß Hunderte von Juden gerettet wurden. Jeder Jugendliche, der da saß, all die 14- bis 18-jährigen, die dann aufgewühlt über diese Geschichte diskutierten, merkten sehr bald, daß die Toten von damals sprechen und uns etwas zu sagen haben. Und wir kamen mit den Jugendlichen auf aktuelle Geschichten aus ihrer Lebenswelt von heute: daß es unvorstellbarerweise zahlreiche Jugendliche an den Schulen in Hemer gibt, die illegale unter dem Ladentisch verkaufte Kassetten hören mit Nazi-Liedern, in denen grölend gefordert wird, daß Juden verrecken sollen und wieder ab ins Gas gehen sollen, am besten mit heutigen Ausländern zusammen. Wir kamen drauf, daß Jugendliche in Hemer unter dem Ladentisch alte Hakenkreuzabzeichen kaufen können und sich am Felsenmeer treffen und eine Welt wünschen, die wieder unter dem Zeichen des Hakenkreuzes solch einen Führer hat.

Eine Geschichte, wenn sie authentisch und wahr erzählt wird, sagt als Gegenmittel mehr als Tausend guter Mahnungen und als viele statistische Zahlen. Ich denke da an Geschichten wie die des mutigen Schindler dort im Film, ich denke aber auch an viele Geschichten, die ich in meinem Beruf hörte und erfuhr.

m Da ist genau vor 80 Jahren am Kriegsende des 1. Weltkriegs der Deilinghofer Pfarrer Niederstein, der - allem Hurra-Patriotismus und der Kriegsbegeisterung seiner Zeit zum Trotz - der Nachwelt ein Dokument hinterließ, wie schwer er daran trug, daß seine ehemaligen Konfirmanden auf den Schlachtfeldern andere Menschen töten mußten, daß sie zum Teil umkamen und viele im Krieg den Glauben verloren.

Da ist der alte Mann, ein Witwer, der mir vorige Woche noch erzählte, wie Stalin ein Teufel wie Hitler für ihn war und wie der kommunistische Terror des Stalinismus ihn psychisch und körperlich fertiggemacht hatte und wie er jahrelang nach dem Krieg dann im schlimmsten DDR-Gefängnis im Loch von Bautzen kaputtgemacht wurde.

m Da ist die Flüchtlingsfrau aus Apricke, die immer wieder betont, daß kein einziger Einheimischer begreifen könnte, was im Krieg für die Vertriebenen vorfiel und wie sich das in die Lebensgeschichte bis zum heutigen Tag einbrannte, daß man über diese schrecklichen Vergewaltigungen durch russische und polnische Soldaten nicht hinwegkommen könnte. Die Frau erzählte mir auch, daß es sie viel gekostet habe, nicht mehr von dem Russen und dem Polen zu reden, als wären alle Russen und alle Polen so, wie sie es bei der Vertreibung erlebte.

m Da ist ebenfalls aus Apricke der Mann, der am Ende seines Lebens mir sagte, er sei der Hölle von Stalingrad entkommen als 18jähriger durch einen "Heimatschuß" - und das genau wäre für ihn unverlierbar der Beginn gewesen, daß er zum Beten gekommen sei.

In solchen Geschichten mitten unter uns sind Erfahrungen verwahrt, die um keinen Preis jemals vergessen werden dürfen. Vielleicht hat Gabriel Marcel Recht: "Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!", vielleicht hat er Recht mit der darin steckenden Vermutung, daß der Mensch nicht ohne weiteres etwas aus der Geschichte lernen kann.

Wer von uns sich aber einen Glauben und ein Gewissen bewahrt hat, nicht nur für sich selbst, sondern auch in weiteren Zusammenhängen, der möge trotzdem darauf hören, hören auf diese Stimme, damit um Gottes willen nicht alles wieder von vorn beginnt.

So gedenken wir auf diesem Hintergrund hier an diesem Mahnmal der Opfer in diesem Jahrhundert in zwei höllischen Kriegen, der gefallenen Soldaten, der Gefangenen, Vertriebenen und Verschleppten, der Vergewaltigten und Gefolterten, der Menschen, die in Lagern umkamen und die im Teufelssystem von braunen und roten Terrorregimes falschem Gehorsam unterworfen wurden und besonders derer, die deren Opfer wurden. Wir gedenken der Opfer in den Kriegsgebieten unsere Tage, besonders der massenweise vergewaltigten Frauen und der zusammengeschossenen Kinder. Wir denken an uns selbst, an unsere Friedlosigkeit; wir denken in unserm Verantwortungsbereich an unsere gefährdeten Jugendlichen, die neu mit Teufeleien zu flirten können meinen. Und wir beten, daß Menschen mit Zivilcourage und Selbstkritik weiter für ein Leben kämpfen mit Sinn und Verstand. Ich erlaube mir, mit einem Gebet um wahren Frieden zu schließen: "Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr, Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, du unser Gott alleine." Amen. Ich danke Ihnen.