Sören Kierkegaard (1813 bis 1855), Christ und Kirchenkritiker. Ein Lebensbild
(als Vorbereitung für die Studienfahrt des Deilinghofer Männer-und-Frauen-Abendkreises
„Auf den Spuren Kierkegaards nach Kopenhagen“ vom 24. bis 27. Mai 2001)



Den großen bebilderten Reisebericht unserer Kierkegaard-Fahrt, den K.-H. Wiencko verfasste, findet man unter
http://www.pastoerchen.de/kgaard.htm

Verfasst für den Vorbereitungsabend am 15. Mai 2001 im Deilinghofer Martin-Luther-Haus.
Nur für private Zwecke zu gebrauchen...
Nach dem Hackerangriff neu gestaltet im Juli 2005 zum 150. Todestag (11. November 1855)
 


Sören, Brigitte und Friedhelm...




I. Einleitungsteil - Hinführungen zu Kierkegaard

1. Kierkegaard und seine Zeit, ein Mann, der gegen den Strom schwamm im 19. Jahrhundert
„Kierkegaard, Soeren Aabye (1813-1855), dänischer Philosoph, Schriftsteller und Theologe, der mit seiner Konzeption einer Verpflichtung des Individuums zur Wahl nachhaltigen Einfluss auf die moderne Theologie und Philosophie, insbesondere auf die Existenzphilosophie, ausübte.“
So oder ähnlich wird in Lexika Leben, Werk und Bedeutung von Kierkegaard in einem Satz zusammengefasst. In einem Lexikon für Kinder wird sein Leben und Werk und was seine existentialistische Philosophie und Theologie besagt, in einem Satz so zusammengefasst:
„Soeren Kierkegaard ist der Philosoph ..., der von den menschlichen Grunderfahrungen Angst, Sorge und Tod ausgeht. Als Theologe war er der Meinung, dass jeder nur allein für sich Jesus Christus nachfolgen könnte. Jeder müsste unangepasst und kompromisslos einen persönlichen Leidensweg gehen.“
Man wird ihn abstoßend finden und faszinierend, dicht nebeneinander, das gehört bei ihm dazu: Faszinationskraft und Befremdung, ja Mitleid, das wechselt sich beständig ab, wenn man sein Leben und Werk betrachtet. Denn der Mann, der hier vorzustellen ist in diesem Lebensbild, war ein Original eigener Art. Nicht so sehr kann er von uns gesehen werden als strahlendes Vorbild und als Heiliger, dessen Leben irgendwie nachzuahmen wäre. Dazu war er viel zu viel Eigenbrödler und oft verlachter Sonderling, der obendrein mit seiner ihm eigenen Schwermut überaus stark belastet war. Er war eher eine prophetische Gestalt, ein Mann, der im 19.Jahrhundert eine oft vergessene Seite der biblischen Botschaft neu zum Leuchten brachte. In vielem gleicht er als solch eine prophetische Gestalt auch den beiden Blumhardts und Karl Barth (die wir im Zusammenhang der Studienfahrt 2000 näher kennen lernten). Karl Barth übrigens hat Kierkegaard überaus geschätzt und sich von ihm beeinflussen lassen, wie er sich von beiden Blumhardts, diesen „unregelmäßigen Verben“ in der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts hatte prägen lassen.
So wie es Karl Barth in der Krisenzeit nach dem ersten Weltkrieg darum gegangen war, Gott revolutionär neu zur Sprache zu bringen, Gott wieder Gott sein zu lassen und ihn nicht mehr mit jener satten bürgerlichen Zufriedenheit zu verkünden, die weithin in der Theologie der Vorkriegszeit und des gesamten 19. Jahrhunderts das Feld in Kirche und Theologie beherrschte, so wie Barth die unheilvolle Allianz von „Thron und Altar“ aufbrechen und Gott zu seinem Recht verhelfen wollte, genauso verkündete Anfang des 19. Jahrhunderts dieser Sören Kierkegaard, dass Gott und das Christentum anders und viel herausfordernder wäre nach biblischem Zeugnis, als es sich der satte Normalbürger in der Volkskirche vorstellte, ja dass man auch überhaupt anders zu denken habe, als es die Hegelsche Philosophie, die damals herrschende Lehre und Zeitgeist-Ideologie, betrachtete, wo man da in einem für jenes Jahrhundert charakteristischen Fortschrittsdenken, dem System Hegels gemäß, meinte, die Geschichte vertrage sich aufs beste mit dem Glauben, und es gehe immer besseren Zeiten entgegen – in einer geglückten Synthese von Christentum, Kultur und Welt, und da habe die Theologie und Philosophie die Welt zu erklären. Solche harmonisierenden Welterklärungssysteme nun sind Kierkegaard zuwider (auch das auf Hegel basierende marxistische System des Kommunismus wäre ihm zuwider gewesen), ihm geht bei solcher Wahrheitssuche und solchem Systemdenken das Recht des einzelnen Menschen verloren. Um das Recht des einzelnen Menschen, um die Existenz des Menschen vor Gott, geht es Kierkegaard vor allem, nicht um die „großen Bögen“ in der Geschichte, die Theologie und Philosophie meinen, erklären zu können. Schon Karl Barth hatte ja das herrschende Denken im 19. Jahrhundert, solche bürgerliche Fortschritts-Ideologie als lauen und laschen „Kulturprotestantismus“, abgelehnt, und viele Jahrzehnte vor ihm sah in ähnlich revolutionärer Sichtweise Sören Kierkegaard, wie solcher harmonisierende „Kulturprotestantismus“ dem Geist des wahren Christentums zuwider war, und seine Erzfeinde sollten ihm die bedeutenden Berliner Philosophen Hegel und Schelling werden.

2. Bezeichnende Zitate auf dem „Hinweg“ zu Kierkegaard
 



Ich beginne hier mit dem Anfang der letzten Deilinghofer Predigt in der Heiligen Nacht, da begann am 24.12.2000 die Predigt in der Stephanuskirche so:
„Ich möchte statt dessen etwas schräg anfangen, um in unsern gehörten Predigttext reinzukommen, mit den Gänsen nämlich. Ich stell mir vor, die Gänse könnten reden. Dann würden sie gewiss auch ihre eigenen Gottesdienste halten, höchstwahrscheinlich auch feierliche Festgottesdienste in der Heiligen Nacht. Und sie kämen überdies natürlich jeden Sonntag zusammen, und ein Gänserich würde predigen. Und ich stelle mir vor, der wesentliche Inhalt seiner Predigt wäre dieser: "Liebe Mitgänse, schaut welch hohe Bestimmung haben doch wir Gänse! Welch hohes Ziel hat doch der Schöpfer in uns gesetzt! Mit unseren Flügeln können wir Horizonte überwinden und in entfernte Lande, an gesegnete Gestade fliegen! Ja, das ist seine Liebe und sein Licht, zu überaus Großem sind wir, die Gänse, berufen!" So der Gänserich-Pfarrer ungefähr, jedenfalls in meiner Vorstellung. Und die Gänse? Die säßen ganz still und unbeweglich da, sehr feierlich angerührt. Und zu den schönsten Stellen der Predigt würden sie bedächtig ein wenig mit dem Kopf nicken - und nach dem Gottesdienst würden sie noch ein wenig dazu schnattern. Aber eins, liebe Gemeinde, eins würden sie mit ihrem gesunden Gänse-Alltagsverstand ganz bestimmt nie und nimmer tun: Sie würden nicht fliegen! Denn das wissen sie ganz genau: dass eine Gans nicht zum Fliegen da ist, und dass - würden sie recht hoch hinauswollen - dies ein böses Ende nähme... Fliegen also würden die Gänse nicht; und so kämen sie Sonntag für Sonntag (und am 24.12. auch nachts) zur Predigt, still und unbeweglich, nickend, schnatternd, angerührt und: ... nicht fliegend! So bis an ihr Lebensende. ... Jenes schöne Gänsemärchen, das ich erzählte ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Es ist weit über 100 Jahre alt, und es ist die berühmte Gänsegeschichte des bekannten dänischen Theologen, Schriftstellers und Christen Sören Kierkegaard, eines der wichtigsten Männer Dänemarks, der ungeheuer stark auf die gesamte europäische Philosophie- und Geistesgeschichte ausgestrahlt hat. Dieser Kierkegaard hatte ein glühendes Herz für Jesus, einen brennenden Glauben und einen ganz wachen und kritischen Verstand - und gerade deswegen fand er Kirche grausam, jene ach so gemütliche und betuliche dänische Volkskirche in seiner Zeit. "Christentum ist Brandstiftung", das hatte er den Kirchenleuten kritisch wie ein Prophet entgegengeschleudert, "und ihr macht da was warmes Gemütliches drauf und regelt das Feuer, das von Jesus ausgeht, auf Zimmertemperatur herunter, macht dann eure traditionellen Feste und Traditionen, wo niemals was Ansteckendes draus folgt, wo folgenlos über Liebe und Licht gelabert wird."
Wörtlicher als in dieser Predigt, in der ich die Gänseparabel von Kierkegaard frei nacherzählte, liest man es bei Kierkegaard so: „Ein Haufen schnatternder Gänse wohnt auf einem wunderbaren Hof. Sie veranstalten alle sieben Tage eine herrliche Parade. Das stattliche Federvieh wandert im Gänsemarsch zum Zaun, wo der beredtste Gänsereich mit ergreifenden Worten schnatternd die Herrlichkeit der Gänse dartut. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, wie in Vorzeiten die Gänse mit ihrem mächtigen Gespann die Meere und Kontinente beflogen haben. Er vergaß nicht dabei das Lob an Gottes Schöpfermacht zu betonen. Schließlich hat er den Gänsen ihre kräftigen Flügel und ihren unglaublichen Richtungssinn gegeben, dank deren die Gänse die Erdkugel überflogen. Die Gänse sind tief beeindruckt. Sie senken andächtig ihre Köpfe und drücken ihre Flügel fest an den wohlgenährten Körper, der noch nie den Boden verlassen hat. Sie watscheln auseinander, voll Lobes für die gute Predigt und den beredten Gänserich. Aber das ist auch alles. Fliegen tun sie nicht. Sie machen nicht einmal den Versuch. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken. Sie fliegen nicht, denn das Korn ist gut, der Hof ist sicher, und ihr Leben bequem.“
„Die Christenheit hat Schluss gemacht mit dem Christentum, ohne das recht zu wissen“, das sagte Kierkegaard an einer anderen Stelle in genau der gleichen Stoßrichtung, wobei er mit der „Christenheit“ immer die gängigen Kirchenchristen meint und mit dem Christentum den biblisch bezeugten Glauben mit einem Fundament.
Wen wundert es da, dass dieser Kritiker des äußerlichen Kirchenglaubens auch die gängige kirchliche Praxis mit Taufen und Konfirmationen mit beißendem Spott belegte: da meinte Kierkegaard einmal, mit dem Grundglaubensbekenntnis: „Der Mond ist aus weißem Quark“ statt des Wortes „Gott“ könnte man genauso schöne Tauf- und Konfirmationsfeiern gestalten, wo so richtig die Tränen fließen, wenn sich der Pastor auf der Kanzel ins Zeug legt. Und zur Taufpraxis in der Kirche führte Kierkegaard aus: „Da ist so ein Mensch – was man so einen Christen nennt: dessen Glaube darin besteht, dass er keinen hat. Er heiratet und bekommt Familienzuwachs. Ein Pastor träufelt mit Anmut ein paar Tropfen Wasser über den Kopf des süßen kleinen Kindes. Und das wagt man Gott zu bieten unter dem Titel: Heilige christliche Taufe.“
All diese Anstöße und Anstößigkeiten, diese Ärgernisse in der Kirche haben nach Kierkegaard eine Ursache: Jesus und seine Botschaft wurde ausgemerzt, sein "skandalon", also: dass er ein Skandal und Anstoß war, dass er paradox war, dass er „ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses“ war, wurde kirchlich ausgeschieden. Zu Jesus, dem Grundparadox im christlichen Glauben, zu Jesus, dem anstoßerregenden, sehr paradoxen Messias Gottes, führte Kierkegaard selbst aus: „Da war nichts zu sehen außer: ein gewöhnlicher Mensch, der durch Zeichen und Wunder und dadurch, dass er sagte, er sei Gottes Sohn, in einem fort die Möglichkeit des Ärgernisses setzte.“
Das war überhaupt der erste Satz von Kierkegaard, den ich in meinem Leben hörte. Er faszinierte mich sehr, und Ich merkte ihn mir - aus einer Religionsstunde in der Quarta oder Untertertia in Schwerte, als unser Religionslehrer Dr. Weichenhan (der spätere Iserlohner Superintendent) uns erklärte, was im Sinne Kierkegaards Jesus als „skandalon“, als Anstoß und Paradox bedeutete.
Wer nun genau war dieser Sören Kierkegaard, der Christ und Kirchenkritiker?

II. Kierkegaards Herkunft: Vatererbe und Kindheit
Viel von dem sehr Befremdlichen und Mitleiderregenden, das wir oben andeuteten, kommt in diesem Abschnitt zum frühen Lebensweg Kierkegaards schon vor.


 

Kierkegaards Eltern

Als jüngstes von sieben Kindern eines recht begüterten Wolltuchmachers wurde Sören Aarbye Kierkegaard am 5. Mai 1813 in Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks, geboren. In seiner Geburtsstadt verbrachte er fast sein ganzes kurzes Leben; er wuchs auf in einer guten und vornehmen Gegend: mitten in Kopenhagen am Nytorf 2 (heute steht da die Hausnummer 27). Sein Geburtsjahr 1813, das war in einer bemerkenswerten Phase der dänischen Geschichte.
Denn die Zeitalter Napoleons mit dessen Kriegen und dessen Fall - das war für das Königreich Dänemark eine besonders schicksalsträchtige Geschichtsphase. Bis dahin war Dänemark die führende Macht in Nordeuropa gewesen, jetzt kam es beim Abbeben der napoleonischen Kriege gerade im Jahr 1813 zum dänischen Staatsbankrott. 1814 wurde Norwegen von Dänemark getrennt, mit dem es in Personalunion als Doppelmonarchie verbunden war, und ging eine Union mit Schweden unter dem schwedischen König ein n. In den gleichen Jahren gab es in Dänemark eine einzigartige Blüte der Wissenschaften, der Künste und der Literatur - bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Was wirtschaftlich und politisch verloren wurde, wurde an im Blick auf das kulturelle Leben gewonnen. Ein halbes Jahrhundert lang gab Dänemark eine bemerkenswerte kulturelle Blüte. Nur ein uns allen vertrauter Kopenhagener Schriftsteller und Zeitgenosse sei hier genannt: der wegen seiner Märchen bekannte Hans Christian Andersen (1805 bis 1875), mit dem sich der junge Kierkegaard 1838 stark auseinandersetzte.
Nicht nur die nationale Geschichte, auch die Familiengeschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf Kierkegaard. Sören war also das siebte und jüngste Kind des Kaufmanns Michael Pedersen Kierkegaard (1756 bis 1838, Bild links), der aus dem westjütländischem Dorf Säding (im Süden von Skjern, 20 km vom Meer entfernt) stammte. Bei der dortigen Dorfkirche lagen zwei Pachthöfe, die der Kirche Abgaben zu entrichten hatten, und von daher stammte der Familienname: „Kierkegaardene“ hieß dann entsprechend „Kirch-Hof“. Jene Gegend und auch die Familie von Sören Kierkegaards Vater war stark vom strengen lutherischen Pietismus geprägt, der von Norddeutschland nach Westjütland vorgedrungen war. Eine bezeichnende damit zusammenhängende Szene im Kindheitsleben des Vaters hat ganz sicherlich tiefe Spuren auch im Leben des Sohnes hinterlassen: Michael Kierkegaard, in großer Armut in einer großen Geschwisterschar aufgewachsen, hatte einst Schafe auf der Heide zu hüten. Hungrig und heruntergekommen, wie er war, stellte er sich auf einen Hügel und verfluchte dabei Gott; das sah er danach als eine unvergebliche Sünde an, die Gottes ewige Strafe nach sich zöge, eine traumatische Erfahrung, die sich dann durch das ganze lange Leben gezogen hatte und von der er mit 82 Jahren vor seinem Sterben dem Sohn erzählte.
Sören Kierkegaard war viel stärker von seinem Vater geprägt als von seiner Mutter. Der Vater hatte ihn ja erst im relativ hohen Alter von 57 Jahren als jüngsten Sohn bekommen, da war die Mutter immerhin auch schon 45 Jahre alt. Für die Beziehung der Eltern ist es bezeichnend ist, dass man da etwas merkte, dass Sören der „Sohn der Magd“ war, den aber der Vater zum Lieblingssohn erkor und dessen Erziehung ganz und gar „Chefsache“ blieb – mit der Folge, dass Sören fast keinen Umgang mit anderen Kindern und eigentlich überhaupt keine Kindheit hatte. Der Vater hatte nach dem Tod der ersten Frau (diese Ehe blieb kinderlos) seine zweite Frau 1797 heiraten müssen (auch das so eine brisante Lebenserfahrung für Menschen aus einem pietistischen Umfeld), nachdem er sie, Anne Soerendatter Lund, die ehemalige Hausangestellte, geschwängert hatte, wo dann außer diesem Kind in dieser Ehe noch die fünf anderen älteren Geschwister von Sören folgten. Erwähnenswert ist, dass jener Fluch, unter dem der Vater sich fühlte, auch als eine Art Kierkegaardscher Familienfluch gesehen und erlebt wurde: Man sprach da von dem Schicksal, dass die Nachkommen alle in frühen Jahren sterben würden und der Vater sie alle überleben würde, wie es dann auch weitgehend eintraf. Die Karriere, die der aus einfachen Verhältnissen stammende Michael Kierkegaard als erfolgreicher Handelsherr und dann begüterter Rentier mitten in Kopenhagen machte (auch den Staatsbankrott von 1813 überstand die Familie ohne finanziellen Schaden), wurde vom Vater Kierkegaard gesehen als eine Art irdisches Abbüßen der großen Schuld, Gott verflucht zu haben.
So wie man sich im Herkunftsdorf in Westjütland zu pietistischen Gemeinschaften gehalten hatte, so war auch in Kopenhagen der Pietismus, hier die Gemeinschaft der Herrnhuter, das geistliche Zuhause der Familie Kierkegaard. Dabei ist der vom Grafen Zinzendorf geprägte Typ des Herrnhuter Pietismus vielen der Studienfahrtteilnehmer ja von der Deilinghofer Studienfahrt des Jahres 1998 bekannt.
Zwei Kirchen, die in Kierkegaards Kindheit eine Rolle spielten, seien hier noch genannt: am 3. Juni 1813 wurde Sören in der Kopenhagener Heilig-Geistkirche getauft, und am 20. April 1828 wurde Sören im Kopenhagener Dom (der Frauenkirche oder „Vor Frue“-Kirche) als fast 15jähriger konfirmiert. Sein Konfirmator war ein später sehr berühmter Mann, Kierkegaards späterer Widerpart: Pastor J. P. Mynster , der dann Bischof in Dänemark werden sollte.



III. Die Zeit von 1830 bis 1842 – die Jugend, die Ausbildung, das Verlobungs-Drama und das Studium Sören Kierkegaards, auch dann in Berlin bei Schelling

Von der Schwermut des Vaters hatte Sören Kierkegaard viel mitbekommen, auch für seinen eigenen Weg. Am 30. Oktober 1830 schrieb sich der 17jährige zum Studium an der Kopenhagener Universität ein, war dann auch einen Monat später ganz kurz Wehrdienstleistender in der Königlichen Garde, wo er aber als dienstunfähig ausgemustert wurde. Von März bis 1831 bestand er seine Examina (Latein, Griechisch, Hebräisch und Geschichte mit Magna cum Laude, Mathematik mit Summa cum Laude, ferner Philosophie und Physik summa cum Laude).
 

Regine Olsen

1837 sah der fast 24jährige Sören Kierkegaard zwischen dem 8. und 12. Mai bei einem Besuch Frederiksberg seine große Liebe, die damals 15jährige Regine Olsen (1822-1904), zum ersten Mal. Im Herbst dieses Jahres arbeitete er zwischenzeitlich als Lateinlehrer in der „Borgerdydskolen“, der Schule, die er als Kind selbst besucht hatte. In dieser Zeit beteiligte sich Kierkegaard in unterschiedlichster Weise am gesellschaftlichen Lebens Kopenhagens: Er arbeitete auch als Journalist und publizierte Artikel zu Themen der Tagespresse, er war Mitbegründer eines Musikvereins usw. 1838 starb Kierkegaards hochbetagter Vater (die Mutter war 1834 gestorben), was ihm Anlass wurde, zügiger sein Studium zuende zu bringen. Im Juli 1840 legte er seine theologische Staatsprüfung ab, und zwei Monate später verlobte er sich am 10. September mit Regine Olsen. Im Jahr 1841 verfasste er seine Doktorarbeit: „Der Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates“. Nach dem Studium der Theologie an der Universität in Kopenhagen legte Kierkegaard am 3. Juli 1840 seine Staatsprüfung ab. Seine Doktorarbeit zum Thema „Der Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates“ entstand 1841 und umfasste 300 Seiten, die – in jener Zeit eine Seltenheit – auf dänisch verfasst waren, obgleich die mündliche Verteidigung lateinisch geführt werden musste.
Die Zeit vom Herbst 1840 bis zum Herbst 1841 wurde ein rätselhaftes Jahr. Während Kierkegaard sich auf ein normales Leben vorbereitete, das Allgemeine realisieren, wie er es nannte, setzte er dazu an, die Hoffnung zu zerstören und damit Konflikten den Weg zu eröffnen, die ihn zum schöpferischen Künstler und Denker machen sollten.
Seine Verlobung mit Regine (Bild von ihr oben) fand am 10. Oktober 1840 statt und dauerte ein Jahr und einen Tag. Als er sich aus Liebe verlobte, wusste er, dass eine Ehe, die Verbindung zwischen der natürlichen, gebildeten Bürgertochter Regine Olsen und seiner schmerzerfüllten Schwermut, unmöglich war. Wohl auch aufgrund einer Schwäche, von der niemand etwas erfahren soll, obwohl sie (wie Kierkegaard einmal schrieb) "alles erklärt". War es jener Familienfluch, den der wir nannten? Waren es moralische Skrupel, weil er sich nach einer Opernaufführung des „Don Giovanni“ so aufgegeilt und enthusiasmiert hatte, dass er „ein Frauenzimmer aufgesucht“ hatte? Es gibt Argumente dafür, dass Kierkegaard, wie Dostojewski, zeitweilig an Epilepsie gelitten hat. Nach dem dänischen Gesetz wurde 'Fallsucht' genau wie Aussatz als "ansteckende und abstoßende Krankheit" betrachtet. Während der Verlobungszeit, die auch ihre süßen Stunden hatte, versuchte Kierkegaard, Regine dazu zu bewegen, die Verlobung zu lösen. Vergeblich.
Am 11. August 1841 sandte er ihr den Ring zurück. Sie beschwor ihn, von diesem Bruch Abstand zu nehmen; er willigte ein, löste aber am 11. Oktober die Verlobung endgültig. Seine Handlungsweise sorgte für Aufregung in der Familie von Staatsrat Olsen und erregte in weiten Kreisen Aufsehen. Am 25. Oktober reiste Kierkegaard nach Berlin, wo er Vorlesungen des Philosophen Schelling besuchte, der ihn enttäuschte. Vom Schmerz über seine Handlungsweise wurde er im Rausch der Inspiration erlöst.
Sören Kierkegaard war kein Mensch, der sich anderen gern mitteilte, und doch hat Kierkegaard aus Berlin mehr Briefe als sonst in seinem Leben geschrieben. Dieser sein längster Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt dauerte ca. fünf Monate und kann gewissermaßen als eine Flucht aus seinem Heimatwohnort Kopenhagen angesehen werden. Denn als Kierkegaard am 25. Oktober 1841 seine Reise nach Berlin an Bord eines Dampfers Richtung Stettin antrat, war es gerade 14 Tage her, dass er seine einjährige Verlobung mit Regine Olsen, Tochter eines Dezernenten in der Finanzhauptkasse, des Etatrats Terkel Olsen, gelöst hatte. Eine Entlobung wurde in den Kreisen, denen Regines Familie angehörte, leicht zu einem öffentlichen Skandal, und obwohl Kierkegaard in den Briefen an seine Freunde immer wieder betonte, dass er nicht aus Angst vor einer Aussprache oder einem öffentlichen Ärgernis in Kopenhagen nach Berlin fuhr, lässt sich eher das Gegenteil vermuten.
Immer wieder hat er die Ex-Braut übrigens bis kurz vor seinem Tod in Kopenhagen getroffen, ohne sich ihr zu nähern; in seinen diesbezüglichen Tagebuchäußerungen merkt man, dass das jedes Mal für ihn wie eine innere Explosion gewesen war...
Es ist im Jahr 2000 bei Piper-Verlag ein biographischer Roman herausgekommen, auf den hier zu verweisen ist: Finn Jor, „Sören und Regine, Kierkegaard und seine unerfüllte Liebe“. Der Roman setzt in Kopenhagen am 11. November 1896 ein, am 41. Todestag Kierkegaards. Eine grauhaarige und zittrige alte Frau sitzt da im Schaukelstuhl und denkt an ihre Jugend zurück: Regine Schlegel, geb. Olsen, die Frau, die durch ihre Liebe zu Dänemarks (wie erst die Nachwelt urteilte) größtem Philosophen in die Geistesgeschichte eingegangen ist. Nachdem Regine Witwe wurde und jetzt hochbetagt die alten Zeiten Revue passieren lässt, steht ihr Sören vor Augen, dessen Geschichte sie in diesem Roman der Schriftsteller Finn Jor erzählen lässt. Wir werden bei der Studienfahrt auf den Spuren Kierkegaards Ausschnitte aus diesem bemerkenswerten Roman hören.
In Berlin angekommen, suchte Kierkegaard das Hotel in der Mittelstraße 61, in der Nähe der Universität, auf. Da er jedoch Ärger mit seinem Hauswirt hatte, zog er zwei Monate später in die nahe gelegene Jägerstraße 57 um und bewohnte dort ein Appartement mit Blick auf den Gendarmenmarkt; dort an der Jägerstr. 57 findet sich heute eine Gedenktafel, dass Kierkegaard dort logierte.
Der berühmte Philosoph Philosoph Schelling (Bild) war im damaligen wissenschaftlichen Berlin der Mann der Stunde, Schelling, ein Tübinger Jugendfreund des noch bedeutenderen Philosophen Hegel (im Tübinger Stift hatte Schelling mit Hegel und Hölderlin in als Studiosus einem Zimmer gewohnt - die Teilnehmer der Studienfahrt nach Tübingen 1999 erinnern sich; Schelling wie Hegel rechnet man dem sog. Deutschen Idealismus zu).
Kierkegaard berichtete brieflich nach über seine Berliner Studienerfahrungen im Lehrsaal bei Schelling: „Schelling hat begonnen, aber unter solchem Lärmen und Schreien, Pfeifen und an-die-Scheiben-Klopfen derer, die nicht hereinkamen, von einem so zusammengepferchten Auditorium, dass man fast versucht ist, es aufzugeben, ihn zu hören, wenn das so weitergehen soll (...) Schelling selbst sieht wie ein ganz unbedeutender Mann aus, er gleicht einem Steuereinnehmer, indessen gelobte er, der Wissenschaft und uns mit ihr zu jener Blüte zu verhelfen, die sie längst verdient habe, der höchsten, die sie erreichen würde. Für einen alten Mann kann das ganz erfreulich sein; für einen jungen Menschen ist es immer bedenklich, in so jungen Jahren Zeitgenosse dieser seltenen Blüte zu werden.
Indessen habe ich doch mein Vertrauen in Schelling gesetzt und will unter Lebensgefahr noch einmal wagen, ihn zu hören. Vielleicht kommt es schon in den ersten Stunden zum Blühen, und dann könnte man freudig sein Leben einsetzen.“
Doch diese Sorte von Philosophie und die damit verbundene „Show“ – das war für den sensiblen und grüblerischen Sören Kierkegaard mit seinen Gewissensfragen auf die Dauer sein Ding nicht – genauso wie Hegel wurde Schelling von ihm abgelehnt, eine Welterklärungs-Philosophie, die ihm nicht existentiell genug sei. An seinen älteren Bruder Christian schrieb Sören aus Berlin später: „Schelling salbadert ganz unerträglich. Willst Du Dir davon eine Vorstellung machen, so möchte ich Dich bitten, zu Deinem eignen, wenn auch freiwillig übernommenen Strafleiden, Dich folgendem Experiment zu unterziehen. Denke Dir Pastor Rothes vagabundierendes Philosophieren, seine ganze Zufälligkeit im Reich der Wissenschaft, denk Dir dazu des seligen Pastors Hornsyld unermüdliches Bestreben, Gelehrsamkeit zu verraten, denk Dir beides vereinigt und noch einen Zusatz von Unverschämtheit, in der wohl noch kein Philosoph Schelling übertroffen hat; (...) gehe darauf hinaus zum Arbeitshaus der Erlöserkirche oder zu einem der Zwangsarbeitsräume von Ladegaard, so wirst Du eine Vorstellung haben von Schellings Philosophie und von der Gemütsverfassung, in der man sie hören muss.“
Als Sören Kierkegaard am 6. März 1842 wieder zurück in Kopenhagen war, hatte er den Zweiten Teil von Entweder-Oder fertiggeschrieben, den er vorher schon zu Hause begonnen hatte und der in der Disputation über den Begriff Ironie vorweggenommen war.
Übrigens war sein älterer Bruder Peter Christian Kierkegaard, um dessen Ausbildung sich auch der Vater sehr gekümmert hatte, auch in diesem Herbst 1842 ordiniert worden; später hatte Peter Christian Kierkegaard dann sogar die Chance, Bischof zu werden, musste seinen Beruf aber wegen psychischer Krankheit quittieren.

IV. Schriftstellerische und philosophische Werke von Sören Kierkegaard - einige Grundcharakteristika seines Denkens

Kierkegaards Werk ist nicht systematisch aufgebaut. Ganz im Gegensatz zu der Auffassung seines Antipoden Hegel war der Däne der Auffassung, dass allein Gott eine allumfassende Sicht habe , die aber die Vernunft aus ihrer Kraft nicht schaffen könne. Vielmehr besteht Kierkegaards Werk aus Essays, Aphorismen, Parabeln, fiktiven Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, aus denen sich seine Anschauungen herauskristallisieren lassen. Viele seiner Werke gab er unter Pseudonymen heraus. In seiner Philosophie beschäftigte sich Kierkegaard intensiv mit den Problemen der menschlichen Existenz. In diesem Rahmen kritisierte er insbesondere jenen schon genannten überindividuell argumentierenden Idealismus G.W.F.Hegels, dessen Denksystem er in seiner Schrift „Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift“ scharf angriff. Im Gegensatz zu Hegel betonte Kierkegaard stark das unstete, zwiespältige Wesen des Menschen. Die wirklichen Probleme entziehen sich demzufolge einer vernünftigen und objektiven Deutung. Die Wahrheit ist für den Philosophen immer subjektiv und niemals objektivierbar. Ein philosophisches System also sieht nach Kierkegaards Auffassung die menschliche Existenz aus einer falschen Sicht. Indem es das Leben durch logische Begriffe erklärt, trägt es dazu bei, das Wesen des Lebens zu verschleiern, das ihm zufolge durch Wahl und Verantwortung gekennzeichnet ist.
Das Individuum schafft sich nach Kierkegaard durch seine Wahl selbst (es ist „ein Selbst, dass sich zu sich Selbst verhält") eine Wahl, die es unabhängig von allgemeinen und objektiven Kriterien oder Normen treffen muss. Die Gültigkeit dieser Wahl lässt sich nur subjektiv erkennen. Dass es für den einzelnen Menschen um Wahl geht, um existentielle Wahl, entweder sein Leben zu verfehlen und zu scheitern oder in Freiheit zu gewinnen, spiegelt sich schon im Titel von Kierkegaards erstem bedeutenden Hauptwerk wider: „Entweder – Oder“ (2 Bände, 1843), diesem Werk ist das dichterisch grandios komponierte „Tagebuch eines Verführers“ beigegeben. Durch und durch ist Kierkegaards Denken ein „Ruf zur Entscheidung“. Mit diesem pietistischen Ausdruck kann man am besten beschreiben, was der dänische Denker philosophisch beabsichtigte, und Kierkegaard ließ – je älter er wurde – keinen Zweifel daran, dass sein Denken ganz und gar im Christusgeschehen der Bibel verwurzelt war (sozusagen ein Pietismus auf höherer Ebene), und da konnte er zur Opferungsgeschichte Isaks durch Abraham (die anstößigsten Geschichten der Bibel waren ihm typischerweise immer die liebsten!) das für ihn charakteristische Paradox zugespitzt so formulieren: „Glauben bedeutet den Verstand zu verlieren, um Gott zu gewinnen."
Über die verschiedenen Phasen und Akzentuierungen im Denken Kierkegaards im Laufe seiner reifen Jahre haben wir uns hier nicht weiter auszulassen. Wir nennen hier nur einige weitere Titel seiner Hauptwerke und wenden uns dann in einem Schlusskapitel seiner Kirchenkritik zu.
Solche Hauptwerke sind hier in Auswahl genannt: „Furcht und Zittern“ (1843 unter dem Pseudonym Johannes de Silentio herausgekommen – kommt die Abraham-Isaak-Geschichte drin vor), „Die Wiederholung“ (1843, Pseudonym: Constantin Constantius), „Philosophische Brocken“ (1844, Pseudonym: Johannes Climacus), „Der Begriff der Angst“ (1844, Pseudonym: Johannes Haufnensis), „Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift“ (1848; gegen Hegel, siehe oben). 1850 erschien sein Werk: „Einübung ins Christentum“.


 




V. Kierkegaard als Christ und Kirchenkritiker – Einiges zum „späten“ Kierkegaard bis zu seinem frühen Tod 1855

Kierkegaard war und blieb ein überzeugter Christ, und auch hier ein Einzelgänger; er war ein total „unregelmäßiges Verb“, wie wir es diesbezüglich oben in Kapitel I. ja auch schon beschrieben haben. War für ihn philosophisch alle „Hegelei“ ein Gräuel, so war es ihm geistlich – und zwar in ziemlich ähnlicher Linie! - die dänische Staatskirche. Mit seiner gewonnenen Überzeugung griff Kierkegaard schonungslos die dänisch-lutherische Staatskirche an. Ihr warf er vor, sie gebe durch ihre Dogmen vor, objektive und absolute Wahrheiten zu besitzen, statt sich auf die Wahrheit der Bibel zu stützen. In seinen späteren Werken, etwa in „Die Krankheit zum Tode“ (1849), spiegelt sich Kierkegaards Sicht des Christentums wider, in der das Leid unverzichtbar zum wahren Glauben dazugehört. Immer stärker kritisierte Kierkegaard jetzt auch die europäische Gesellschaft wegen ihres Mangels an ethischem Wertbewusstsein. Diese Kritik wird besonders in der Zeitschrift „Der Augenblick“ (1855) deutlich.
Der dänische Geistliche und spätere Bischof Martensen hatte den Bischof Mynster (Bild), Kierkegaards Konfirmator (dieser war von Sören in dessen Jugend von Sören sehr bewundert worden; er war auch oftmals Besucher beim Vater in dessen Haus gewesen) nach dessen Tod als echten Wahrheitszeugen Christi nach der Art der Märtyrer Paulus und Petrus gefeiert in seinem Nachruf. Kierkegaard setzte da seine Kritik an – am 18. Dezember 1854: „War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge?“ Er geißelte dessen selbstzufriedene Bürgerlichkeit, in der er den schlimmsten Feind eines wahren christlichen Lebens sah: „Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenzmitteilung Christus hat nicht Dozenten angestellt, sondern Nachfolger.“ Zuvor schon hatte Kierkegaard in diesem früher von ihm geliebten Bischof Mynster das gesamte Elend einer ruinösen Volkskirchlichkeit in Dänemark personifiziert und symbolisiert gesehen.
 


Bischof Mynster


Schon 1847 hatte Kierkegaard kritisch über den Kirchenführer Mynster geschrieben: „Fast auf jeder zweiten Seite in Mynsters Predigten kann man zeigen, wie wenige nach seiner eigenen Annahme eigentlich Christen sind oder sich nur etwas draus machen, Christen zu sein. Aber was ist dann das Ganze für ein Blendwerk, noch weiterhin von einer Staatskirche zu reden, von einem christlichen Land und Volk. Und was soll es dann heißen, seine Stellung als vom Staat entlohnt zu betrachten, Ehren und Würden einzuheimsen, ungefähr so, als sei er Professor in Hebräisch, der natürlich keinerlei Verantwortung dafür hat, ob es viele oder wenige sind, die Hebräisch lernen wollen, sondern nur dafür, dass er es selber kann. Hat man dieses Geständnis gemacht, wie Mynster es getan hat, dann ist es offenbar, dass jeder Lehrer in der Kirche, in der Staatskirche eo ipso eine Art Missionstätigkeit hat, die darin besteht, alles zu wagen, um die Menschen aufmerken zu lassen, und dem Staate gegenüber dafür einzustehen, dass alles getan wird, damit so viele wie möglich Christen werden. Falls Mynster im apostolischen Sinne Lehrer für die wenigen Christen sein müsste, von denen er selber spricht, dann würde es ein mäßiger Broterwerb sein und ohne staatsbürgerlichen Rang. Aber in dem einen Augenblick gibt es nur wenige Christen, im nächsten ist der Staat selber christlich, und ein Pfarrer, der Bischof hat gar nichts anderes zu tun, als gleich einem Beamten, der in der befohlenen Zeit in seinem Büro sitzt, auf diese Weise in einer Kirche zu predigen – und dann es im Übrigen zu vermeiden, dass er den Menschen zu nahe tritt um des Avancements willen.“
Als Kierkegaard seinem Konfirmator 1850 ein Exemplar seines Buches „Einübung ins Christentum“ überreichte, sagte er angriffig: „Ich hatte gewünscht und gehofft, dass einer von uns beiden tot gewesen wäre, wenn dies Buch herauskäme, und im gleichen Jahr stand in Kierkegaards Tagebuch verzeichnet: In der prächtigen Schlosskirche tritt ein stattlicher Hofprediger, der Auserwählte des gebildeten Publikums, vor einem auserwählten Kreis von Vornehmen und Gebildeten auf und predigt gerührt über die Worte des Apostels: Gott erwählte das Niedere und Verachtete. Und es ist keiner, der lacht.
Umgekehrt geriet Kierkegaard in Kopenhagen mit seiner zunehmenden Kritik zunehmend in Isolierung, und man lachte oft über ihn. Am 2. Oktober 1855 brach Kierkegaard auf der Straße zusammen; er wurde ins Frederik-Krankenhaus eingeliefert, wo er am 11. November 1855 verstarb. Bewunderung hat er zu Lebzeiten in seinem Heimatland nicht viel erhalten. Er liegt auf dem Assistens-Friedhof begraben.
Aber er hat viele in Theologie und Philosophie nachhaltig geprägt, bis hin zu den Freunden von Karl Barth und existentialistischen Philosophen wie Sartre.

 



Das Grab

Zur Frage nach dem Sinn des Lebens
Drei kleine Textauschnitte aus Kierkegaards „Entweder-Oder“

In einem Schauspielhause geschah es, dass die Kulissen Feuer fingen; der Bajazzo trat vor, um das Publikum davon zu benachrichtigen. Man glaubte, es sei ein Witz, und applaudierte. Er wiederholte die Anzeige: man jubelte noch lauter. So, denke ich, wird die Welt unter allgemeinem Jubel witziger Köpfe zu Grunde gehen, die da glauben, es sei ein Witz.

Worin besteht überhaupt die Bedeutung dieses Lebens? Teilt man die Menschen in zwei große Klassen, so kann man sagen: die eine arbeitet, um zu leben; die andre hat dies nicht nötig. Aber zu arbeiten, um leben zu können, das kann ja nicht die Bedeutung des Lebens sein: denn es liegt doch ein Widerspruch darin, dass die unablässige Herbeischaffung der Bedingungen die Antwort auf die Frage sein soll nach der Bedeutung dessen, was dadurch bedingt wird. Das Leben der übrigen hat im allgemeinen auch keine Bedeutung, außer der einen, die Bedingungen desselben zu verzehren. Will man sagen, dass die Bedeutung des Lebens diese ist: einmal zu sterben, so scheint das gleichfalls ein Widerspruch.

Vater im Himmel! Lehre du selber uns recht beten, dass sich unsre Herzen dir in Gebet und Flehen öffnen, und wir keinen geheimen Wunsch in unsrer Brust nähren, von dem wir wissen, dass er Dir nicht gefällt, aber auch keine geheime Furcht, dass Du uns etwas vorenthalten werdest, was in Wahrheit zu unserm Besten dient; damit die ringenden Gedanken, das unruhige Herz und die bange Seele da Ruhe finden, wo sie allein zu finden ist, wenn wir Dir immer fröhlich danken und es fröhlich bekennen können, dass wir vor Dir immer unrecht haben! Amen.
 





Den großen bebilderten Reisebericht unserer Kierkegaard-Fahrt, den K.-H. Wiencko verfasste, findet man unter http://www.pastoerchen.de/kgaard.htm

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