Predigt über Johannes 3, 1-8 am Sonntag Trinitatis, 15. Juni 2003
in der Arche Niedereimer


[Es handelt sich bei der Arche in Niedereimer um einen Wohnzimmergottesdienst; 12 oder wenige mehr kommen dahin, doch merkt man aus der Atmosphäre des Gottesdienstes, dass sie gut zuzuhören verstehen und mit Ernst Christen sein wollen.]

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Hl. Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde hier in Niedereimer,
„Nachtgedanken“, kennen Sie das noch? Ich meine die Spätabendssendung „Nachtgedanken“ damals im Fernsehen im ersten Programm: Da ertönte dann am Programmschluss schöne klassische Musik („Träumerei“ von Schubert war es, glaube ich) und dann saß da Hans-Joachim Kuhlenkampf gemütlich in seiner dicken braunen Strickjacke und las aus einem dicken Buch, manchmal auch aus der Bibel, Besinnliches zur Nacht vor - eben „Nachtgedanken“...

Ja, Nachtgedanken, das hat was! Und: „Im Dunkeln ist gut munkeln“ - da ist was dran! Das stimmt, dass für gute Gedanken und auch gute Gespräche, die was bringen, manchmal die Abendstunde Gold im Munde hat! Einige hier mögen das noch ganz gut aus der eigenen Kindheit und Jugend kennen: wenn früher bei Jungscharfreizeiten, bei Jugend- und Konfirmandenfreizeiten abends das Licht ausging im Schlafsaal schließlich, dann war die Zeit, im Schutz der Nacht so richtig auszupacken - dann konnte man dem Freund, dem Kumpel Dinge sagen, die man tagsüber beim Licht der Sonne in sich vergraben hätte. Nachtgedanken - Sie haben es erraten, beim heutigen Predigttext, natürlich, da geht es im genannten Sinn auch um „Nachtgedanken“.

Ich lese noch einmal aus dem heutigen Evangelium Joh. 3 die ersten acht Verse, den Predigttext der heutigen Predigt:

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.


Gebet: Herr öffne uns die Ohren, recht zu hören, öffne mir den Mund, recht zu reden, und schenke, dass das, worum es geht, von Herzen kommt und zu Herzen geht - in deinem Geist. Amen.

Liebe Gemeinde, ich sagte es bei der Begrüßung eben: Am heutigen Sonntag Trinitatis vor einem Jahr war ja meine Abschiedspredigt in Deilinghofen [diese Predigt und den ganzen Trinitatisgottesdienst 2002 in Deilinghofen bekommt man HIER ] - nach 19 Jahren Pfarramt dort im Felsenmeerdorf. Und sehr oft bis heute machte ich in der Gemeinde genau die gleichen Erfahrungen mit „Nachtgedanken“: Ich denke da an oft fast 50 Konfirmandengespräche pro Jahr vor den Konfirmationen, die meist je drei Stunden dauerten und bei denen ich oft bis abends spät in den Zimmern der 14jährigen saß: „Nachtgedanken“ - da war's oft genauso wie bei mir früher, als ich 14 war. Ich denke an Traugespräche, wo man stundenlang bis abends spät bei den Beiden sitzt, wo da nur die Kerze auf dem Tisch brennt, und die beiden kommen aus sich raus. Kommen auch neu ins Nachdenken über Gott. Ich denk aber auch an einige Taufgespräche, die dann tiefer griffen: manchmal ist's so, daß ein Gespräch so abends spät da in kleiner Runde viel mehr bringt, ja: viel mehr „Kirche“ ist als Kirche sonntags um 10 Uhr oder wie hier um 9 Uhr früh.

Dass aber „im Dunkeln gut munkeln“ ist und für gute Gespräche „Abendstunde Gold im Mund“ hat, das war bei jener denkwürdigen Begegnung des theologischen Führers Nikodemus mit diesem Jesus von Nazareth ganz genauso! Er, Nikodemus, ein einflußreicher Mann, seines Zeichens Theologe und zudem einer der kommunal führenden Politiker im Judentum, findet zu Jesus, heimlich, im Schatten der Nacht! Er sucht das Gespräch mit ihm; er ist ganz offensichtlich von diesem Jesus fasziniert. Ja, Nikodemus offenbart sich in der Verborgenheit der Nacht dort als ein Sympathisant des Rabbis aus Nazareth.

Ganz offensichtlich: das Charisma, die ganz große Ausstrahlungskraft, die von diesem Jesus ausging, hatte nicht nur Zöllner und Sünder und Frauen mit zweifelhaftem Ruf in den Bann gezogen, sondern eben in jener Nacht auch diesen vornehmen Herrn Nikodemus...

Mit Jesus diskutieren, das wäre doch mal was! Da seine Bildung erweitern, religiös mal tiefer bohren, Dimensionen des göttlichen Geheimnisses ausloten, Sachen kennenlernen, wie sie nicht in Büchern stehen. Solche Neugier, stell ich mir vor, wird den Herrn Nikodemus dort in die Nacht hinausgetrieben haben, zu Jesus hin, ihn, der mit Jesus sympathisiert, was jeder wohl nicht wissen sollte.

Über Gott mal richtig reden, das wohl war die Absicht in jener Nacht, als Nikodemus da gleich am Anfang seiner Begegnung, wie wir hörten, Jesus Respekt und Achtung zollt: "Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekom-men, denn niemand kann die Taten tun, die du tust!"

Liebe Gemeinde, wie es der Nikodemus da tut, so ist es heute noch, über Gott, über Jesus schreiben sie gerne in der Massenpresse, machen da Schlagzeilen mit und Kasse. Ja, jedes Jahr einmal fast kann man im STERN oder im SPIEGEL - zuletzt vor einem halben Jahr am Jahresende 2003 - so ein Schwerpunktthema lesen wie: "Was bleibt von Jesus Christus?" Antwort der klugen Analysen des Herrn Augstein - Gott hab ihn selig! - und seiner Nachfolgenden: Da bleibt fast gar nichts - da ist nichts hinter, und würde da im nächsten SPIEGEL morgen über die Dreieinigkeit geschrieben, so würden die Schreiber ebenso Kübel von Spott auskippen über diese Lehre, die doch nichts anderes als nur ein versponnenes, widersinniges und abstraktes Dogma ist für Leute, die immer bloß über Gott schreiben und dabei Beifall finden bei Massen. 

Nun hat der Kirchenvater Augustin allerdings mal den sehr hintersinnigen Satz gesagt: Menschliche Dinge, die kennt man und liebt sie, weil man sie kennt. Bei göttlichen Dingen aber ist es genau anders herum: die kann man nämlich nur lieben, um sie zu kennen.

Über Gott reden, klug diskutieren - sicher weit weg von Augsteinscher Skepsis in Jesus-Fragen - das war ganz gewiß, denke ich mir, in jener Nacht das Anliegen des klugen Herrn Nikodemus. Aber dort in der Nacht, da kriegt das Über-Jesus-Reden und das Über-Gott-Reden voll Stoff eine Abfuhr! Diskutieren is' nich, „über“ Gott schon gar nicht.

In jener Nacht ist dazu die Zeit zu schade, denn Jesus rückt viel dichter an den Gast heran und ihm auf den Pelz, nicht über Gott redend, sondern aus Gott heraus, so sagt es Jesus dem Nikodemus auf den Kopf zu: "Wahrlich, ich sage dir, Neugeburt ist angesagt - nur wenn du von neuem geboren wirst, kannst du von Gott und von meinem Reich was sehen!"

Liebe Gemeinde, ich seh den Nikodemus förmlich da sitzen, irritiert und pikiert, ganz baff vor Erstaunen, sich an den Kopf fassend: „Ich bin doch mündig und erwachsen und klug, wie kann ein gestandener, gebildeter und durchs Leben gereifter Mensch noch mal ein Kind werden, alles von An-fang an neu erleben, solchen Neuanfang überhaupt denken!“ Und völlig baff über Jesu Provokation kommt es aus dem Besucher da in der Nacht heraus: „Ich kriech doch nicht nochmal aus meiner Mutter Leib, ist doch unmöglich!!?“

Zuerst  ist Nikodemus also empört in der Nacht, wie wir hörten: „Nein danke, nicht noch mal in meiner Mutter Leib!“ Doch Jesus sieht fest dem Nikodemus in die Augen: „Doch, neu geboren werden", wiederholt er, „das geht", und setzt hinzu: „neugeboren, aus Wasser und Geist, aus Wasser und Geist siehst du neugeboren was von Gottes Reich!“

Und liebe Gemeinde, ich seh dann den Nikodemus weiter vor mir, wie er von Jesus weggeht durch die Nacht - immer noch die Frage in den Ohren, die Jesus ihm stellte, auf seine hilflosen und klügelnden Einwände hin: „Bist du ein Lehrer in Israel und weißt das nicht?“

Es ist ein bißchen Spekulation, aber ich denke, da bei Jesus, da war im Dunkeln nicht nur gut munkeln, da hatte diese Abendstunde für Nikodemus wirklich „Gold im Munde“. Ich glaub, es war die Nacht, in der er, der Sympathisant, wirklich seine große Liebe gefunden hatte, wo er von einem Mitläufer zum Nachfolger, von einem religiösem Diskutierer zum Christen geworden war - neu geboren wie ein Kind, das noch mal anfängt von vorn. Dafür gibt es ein starke Argumente, denn in der Passionsgeschichte des Johannes, da taucht unser Nikodemus ein zweites Mal auf als Fürsprecher Jesu, und ein drittes Mal wird am Ende dieser Nikodemus genannt, dort am Grab nach Jesu Kreuzestod, am Grab, worein sie Jesus legen, da ist dieser Nikodemus dabei, Nikodemus, der bei Nacht so viele Fragen hatte.

Doch Jesu bohrende Provokation, die ist damit noch lang nicht vorbei. Ich frage: Gibt’s heute eigentlich noch in unserer Kirche solch eine Seelsorge, bei der Nikodemus-Geschichten passieren? Gibt’s Seelsorger, die wirklich damit rechnen, dass allein Neugeburt und Wiedergeburt einen Menschen frei machen, die dann nicht mehr nur an das Was-ser der Kindertaufe glauben, sondern aus dem Geist heraus an „Wasser und Geist“ - und in diesem Geist nicht über Gott und über Glauben reden, sondern aus Glauben heraus und dem andern auf den Kopf zu? Ich stelle diese Frage durchaus auch selbstkritisch an mich: Würde mir vielleicht auch Jesus sagen: „Was bist du für ein schöner Seelsorger, ein Führer in Israel und weißt das nicht, weißt das Allerwichtigste und Grundlegende nicht!“

Die Zumutungsfrage aus jener Nacht, die stellt sich hier an dich und an mich: hältst du eine Neuwerdung für möglich, wie es da steht: „aus Wasser und Geist“? Hältst du solch ei-ne zweite Geburt für möglich, eine Neugeburt aus dem Geist, einen totalen Neuanfang, den Gott setzt durch seinen Geist, bei dir für möglich und für nötig: Wiedergeburt, also nicht so ein Seelenwanderungs-Kokoloris, wie es neuerdings Mode ist, sondern viel was Tieferes und viel was Einfacheres: Dass du quasi in einer „zweiten Naivität", in der kein bißchen kindischen „zweiten Naivität" eines mündigen und erwachsenen Menschen anfängst, nicht nur über Gott und Jesus zu spre-chen, sondern liebend mit ihm zu sprechen?  Dass du dir wieder ganz kindliches Gottvertrauen schenken lässt und anfängst - wie ein Kind - neu mit den ersten Schritten des Glaubens - und das dann in Gesprächen auch weitergibst, um andern Nikodemus-Erfahrungen zu ermöglichen?

Das wäre eine wirkliche Dreieinigkeitserfahrung aus dem Gottesdienst heute, die bis ins Herz geht: der Vater, dessen Kind ich bin, wäre das Thema und Jesus als unser Ein-und-Alles wäre das Thema, ja, der Geist wäre das Thema, und all das nicht als Thema zum Diskutieren, sondern als Thema, mit ihm zu leben. Wie sagte doch Augustin: Himmlische Dinge kennt und versteht man nur, wenn man sie liebt! Ohne Liebe kein Verstehen, ja, das ist seit der Nikodemus-Diskussion in jener Nacht in seiner Gemeinde gleich bis zum heutigen Tag - bis zu den abendlichen Gesprächen in Deilinghofen, Arnsberg oder woanders, von denen ich eingangs redete und bis jetzt sonntags nach 9 Uhr morgens: Trinität ohne Liebe dabei, das wäre ein schreckliches Dogma, Kirche ohne Liebe bei - das ist eine Sache ganz ohne Geist immer im Kreis. Und Jesus, ohne Liebe und ohne Bereitschaft, selber wie ein Kind zu werden, das ist ein Diskussionsthema völlig geistlos am Geist und am lebendigen Jesus vorbei. 

Reden wir nicht über ihn, fangen wir an, mit ihm zu reden, dann wird er uns beweisen und zeigen, dass das stimmt, was er im Tauf- und Missionsbefehl versprochen hat: Siehe, ich bin bei euch alle Tage - und er wird uns missionarisch ausrichten und senden, dass dann nachts oder tagsüber Gespräche folgen, die auch anderen die Chance bieten, ihn finden zu können. Und der Friede... Amen.


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